Wandel der Kommunikationskultur in den 80er und 90er Jahren

Medien in einer neuen Alltagskultur

„Die Medienlandschaft in Mittel- und Osteuropa befindet sich im Umbruch. In Deutschland haben sich die privaten Anbieter etabliert, in Österreich und der Schweiz diskutiert man über die Einführung des dualen Systems. Dank Kabel- und Satellitentechnik sind aber auch dort schon in vielen Haushalten zwanzig und mehr Programme zu empfangen. Und in Osteuropa ist nach dem Zusammenbruch des Kommunismus der Aufbau ganz neuer Rundfunksysteme erforderlich.

Die Veränderungen sind tiefgreifend. Sie beziehen sich nicht nur auf die Anzahl der Programmangebote, sondern auch auf die Inhalte. In den sechziger und siebziger Jahren prägten noch Informationssendungen und anspruchsvolle Bildungsprogramme das Erscheinungsbild des Fernsehens. Heute sind an die Stelle themenorientierter Diskussionssendungen personenorientierte Talkshows getreten. Dokumentationen und Informationsfeatures bekommen Konkurrenz von Reality-TV und unterhaltsamen Magazinen, und im Kinderprogramm ergänzen Zeichentrick- und Actionfilme immer stärker die pädagogisch konzipierten Sendungen.

Diese Veränderungen sind kein isolierter Prozess, sondern stehen in engem Zusammenhang mit der veränderten gesellschaftlichen Stimmungslage und den Interessen der Menschen. Zunehmende Individualisierungsdynamik, rasante Beschleunigung technischer Entwicklungen, Streben nach Selbstverwirklichung und immer größer werdende Mobilität bestimmen das Lebensgefühl.

Die wachsende Zahl von Fernsehprogrammen und die Möglichkeiten, mit Hilfe der Fernbedienung sich selbst zum Programmdirektor zu machen, kommt diesem Lebensgefühl entgegen. Andererseits verliert das Fernsehen durch die Aufsplittung der Programmangebote zunehmend seine Funktion, einen Beitrag zur symbolischen Verständigung der Gesellschaft zu leisten. Diese Entwicklung verstärkt sich durch das veränderte Freizeitverhalten. Sinngebung für ihr Leben erwarten die Menschen heute mehr von der aktiven Freizeitgestaltung und weniger von der beruflichen Tätigkeit. Um so schwieriger wird es, einen Großteil der Gesellschaft zur gleichen Zeit vor dem gleichen Programm zu versammeln. Neue Wege der gesellschaftlichen Verständigung und Wertvermittlung müssen gefunden werden.

Die heutigen Konzepte individueller Lebensführung haben notwendig den Effekt wachsender Vereinsamung. Ein Indiz dafür sind die vielen Einzelhaushalte. Doch der soziologisch fassbaren Individualisierung entsprechen auch psychische Innenwelten. Die Vorstellung von gelungenem Leben gehen davon aus, dass der Einzelne selbst sein Leben in die Hand nimmt. Nicht mehr die Familie, die Gruppe, der Betrieb oder gar die Nation garantieren den Lebenserfolg, jeder ist für sich selbst verantwortlich. Entsprechend groß ist das Bedürfnis nach Orientierung und emotionaler Nähe. Die Fernsehprogramme haben sich darauf eingestellt. Zunehmend wird das Fernsehen zu einem Medium der Emotionen und besetzt Nischen, die durch die Herausbildung der auf individueller Selbstverwirklichung basierenden Gesellschaft entstanden sind.“

Diese Beschreibung der Situation Anfang der 90er Jahre in einem Ankündigungstext zur Studienwoche der IAK „Medien in einer neuen Alltagskultur – eine Herausforderung fiir die Medienpldagogik“ 1993 in Graz, beschreibt anschaulich die Wahrnehmung der komplexen Veränderungsprozesse jener Zeit an der Schwelle zur gesellschaftlichen Durchsetzung der Digitalisierung und der damit in der Foge einhergehenden Veränderungen. Vieles von dem hier Dargestellten ist heute selbstverständliche Realität und hat Folgen für die Wahrnehmung der bewegten Bilder.

Detlef Endeward (November 2024)

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