Zur Arbeit mit filmischen Quellen

Zur Arbeit mit filmischen Quellen

Quellenwert von Filmaufnahmen

Peter Stettner (2020)

Im Prinzip kann jeder Film als historische Quelle benutzt werden. Dabei muss man sich der Gefahr bewusst sein, dass die filmische Darstellung unbewusst für geschichtliche Realität genommen wird. Denn die optisch-akustische Wahrnehmung beim Betrachten eines Filmes kommt der Realitätswahrnehmung äußerst nahe.

Deshalb muss festgestellt werden, dass Filme ihren Gegenstand niemals „rein“ oder objektiv darstellen, sondern immer beides liefern und zwar zugleich – ein Ereignis und die Sicht auf dieses Ereignis, also einen bildlichen Ausschnitt der Realität und deren bewusste oder unbewusste Kommentierung in einem. Filmaufnahmen – vom scheinbar zufälligen „Draufhalten“ der Kamera über den um Wesentliches bemühten Dokumentarfilm bis zum Spielfilm – sind immer Darstellung von Realität, genauer: das Bild einer gestalteten Realität. Durch die Auswahl des zu Zeigenden, Kameraposition und -technik, Schnitt, Montage etc. wird eine Sicht der Realität produziert. Diese wird dann nochmals selektiv – wie die unmittelbare Realität auch – durch den Zuschauer rezipiert. Die verschiedenen Ebenen des Auswählens und Gestaltens müssen von einer historisch-philologischen Filmkritik reflektiert werden. In diesem Sinne hat das Erkennen und Aufzeigen der filmgestalterischen Mittel, der Filmsprache, einen zentralen Stellenwert.

Im Verständigungskontext der Geschichtswissenschaft bildet allerdings die Schriftsprache mit einer ihr eigenen „Eindeutigkeit“ ein quasi universal herrschendes Zeichensystem. Der Fluss der Bilder lässt sich seinem Wesen nach jedoch nur sehr reduziert und keineswegs immer eindeutig ver-(schrift)- sprachlichen. Dies dürfte mit ein Grund dafür sein, dass die traditionelle Geschichtswissenschaft sich mit dem Film als Quelle nicht so recht hat anfreunden können.

Um den Quellenwert von Filmaufnahmen zu bestimmen, könnte man diese klassifizieren. Die traditionelle Geschichtswissenschaft tut dies, insofern sie sich überhaupt mit dem Medium Film als Quelle befasst, indem sie sich auf „Filmdokumente“ beschränkt. Nur jenen wird ein Stück unverfälschte historische Realität zugesprochen, die aus dem Filmmaterial herausgelesen werden soll. Dabei soll die „Erzählperspektive“, die ja jedem Film zugrunde liegt, das „Wie es gemacht wurde“, rekonstruiert und im Idealfall eliminiert werden, um so zur Wirklichkeit selbst vorzudringen. Dabei befindet man sich jedoch unserer Einschätzung nach in einer Zwickmühle; denn die Bilder, deren objektiven Gehalt man analysieren möchte, existieren nicht ohne jene Erzählperspektive. Mit anderen Worten: Bilder sind immer und untrennbar zugleich Abbilder und Bedeutungszuweisungen durch Gestaltung. Eine Wirklichkeit unter Abzug des Gestaltungsanteils im Bild wird kaum zu entdecken sein. Wenn man auf diese Weise zur „eigentlichen“ Realität vordringen möchte, so besteht nicht zuletzt die Gefahr, der Erzählperspektive eben doch – unbewusst – zu erliegen, denn die Bilder wirken nun mal über diese. Zugleich zeugt diese Sichtweise von einem Unverständnis über den Charakter von Filmen.

Die Abbilder zeigen natürlich Ansichten des Abgebildeten. Nur sind diese Ansichten weder „vollständig“, noch eindeutig oder gar selbsterklärend. Ihre Bedeutung erhalten sie durch den Zusammenhang in dem sie erscheinen, also vor allem Produktionseinflüsse, etwa die Gestaltungsintentionen der „Macher“ und die Rezeption der zeitgenössischen Betrachter.
Die Eingrenzung des Quellenwertes auf „Filmdokumente“ bedeutet aber nicht nur eine falsche Reduktion auf den Abbildcharakter von Bildern, sie bedeutet eine Beschränkung auf den Traditionswert einer Quelle (absichtliche Überlieferung zur Information der Nachwelt): Filmdokumente sind in dem Bewusstsein und mit der Absicht entstanden, ein real existierendes Ereignis zu überliefern. So verstanden könnten dann auch nur „Filmdokumente“ Quellencharakter haben.

Darüber hinaus haben jedoch alle Filme einen sogenannten Überrestwert, als unabsichtliche, unbewusste Überlieferung. Die Filmkamera hält nämlich immer etwas von dem fest, was sich vor dem Objektiv abspielt, und seien es nur die Ansichten der Inszenierung – aber auch die ist ja real vorhanden. Die Bedeutung des Films im Sinne einer Überrestquelle heißt aber vor allem: bei den Bildern bleiben und nicht das Unmögliche zu versuchen, die Erzählperspektive zu eliminieren.

Da Film potentiell alle Ereignisse und Zustände der äußeren Welt, von Staatsaktionen bis zu alltäglichen Situationen, festhalten kann, stellt sich die Frage, ob es Bereiche gibt, für die er als historische Quelle besondere Bedeutung besitzt.

„Als Quellen sind Filme interessant, insofern sie selbstverständliche zeitgenössische Einstellungen transportieren jenseits der erkennbaren Intentionen der Filme.“ (Wilharm) Zeitgeist und Mentalität der Entstehungszeit eines Films können durch die Analyse der seinerzeit eingefangenen Bilder erhellt werden. In diesem Sinne hat der Film dann Quellenwert als Überrest, als eine unabsichtliche Überlieferung, und ist – so verstanden – auch „Filmdokument“. Dabei kommt dem Spielfilm besondere Bedeutung zu. Von zufälligen Sachzwängen – der gerade angetroffenen „Wirklichkeit“ vor der Kamera – weitestgehend befreit, kann er Ideen und Wünsche, Ängste und Sorgen, Denk- und Handlungsweisen einer Zeit fotomechanisch oder elektronisch bannen. Wie wohl der Soziologe und Filmkritiker Kracauer als erster formulierte, reflektiert der (Spiel)film so psychische Dispositionen, die unbewussten, weil selbstverständlichen zeitgenössischen Einstellungen, die erst wahrgenommen werden, wenn sie fragwürdig geworden sind. Der Spielfilm ist in diesem Zusammenhang aussagekräftiger als andere Kunsterzeugnisse. Zum einen, weil er sowohl auf der Produktions- als auch auf der Rezeptionsseite gesellschaftlich bedingt bzw. angelegt ist, zum anderen, weil er aufgrund seiner fotografischen Technik auch manches bildlich einfängt, was nicht beabsichtigt war.

Worum es bei der Beurteilung und Auswertung von filmischen Quellen geht, ist also nicht, die Sicht bzw. Sichtweise (Bedeutungszuweisung) zu eliminieren, sondern vielmehr offenzulegen. Dies ist die zentrale Aufgabe der Quellenkritik, wie sie auch für schriftliche Quellen gilt. Dabei wird in der Regel unterschieden zwischen innerer und äußerer Quellenkritik.
Äußere Quellenkritik bezogen auf einen Film, das heißt, zu versuchen, die Herkunft der Filmquelle und den gesellschaftlichen Zusammenhang festzustellen: den Auftraggeber, Produktionszeit und -ort, Produzent, Regisseur usw. Berücksichtigt werden sollten auch die politisch-ökonomischen Umstände der Zeit der Produktion. Ferner ist, da Film Element und Moment eines gesellschaftlichen Kommunikationszusammenhanges ist, die Rezeption des Films in seiner Zeit einzubeziehen: Rezensionen, Zuschauerreaktionen und -zahlen etc.
Bei der inneren Quellenkritik geht es vor allem darum, die Gestaltung des Films selbst und die damit verbundenen Aussagen und Wertungen zu erkennen und offenzulegen sowie Hauptmotive herauszuarbeiten. In diesem Zusammenhang ist es unabdingbar, dass man etwas von filmsprachlichen Mitteln versteht.

Für die Nachvollziehbarkeit der Analyse und Quellendeutung von Filmen ist eine Dokumentation sehr hilfreich, die das filmische Geschehen in transkribierter Form festhält (Bsp. Sequenzprotokoll).