Entwickelt wird eine Theorie der Filmwahrnehmung jenseits der Konzepte von Identifikation und Repräsentation, indem Aspekte des Nichtsprachlichen, des Körperlichen und Materiellen ins Zentrum gestellt werden. Mit der Phänomenologie Maurice Merleau-Pontys, der Philosophie Gilles Deleuze’ und der Filmtheorie Siegfried Kracauers wird Filmwahrnehmung als eine Form der ‚Aufhebung’ der Subjekt-Objekt-Trennung entworfen. Mit ihnen wird die spezifische Wahrnehmung von Dingen und Oberflächen sowie eine bestimmte Form der Zeitlichkeit im Kino nicht nur zu einer Form der Erkenntniskritik sondern auch zur Erfahrung eines spezifischen Zugangs zur Welt. Diese Wahrnehmung eignet sich im Kino die Dinge nicht an. Sie sieht sie in einer Art Austauschprozess ‚wie zum ersten Mal’.
Anhand der Filme von Michelangelo Antonioni, Claire Denis, Tsai Ming-Liang und Angelika Levi wird untersucht, inwiefern im Kino eine besondere Form der Wahrnehmung und damit auch der Erfahrung von Geschichte möglich ist.
Filmwahrnehmung: Selektions- und Interpretationsvorgänge
- Wahrnehmung (Eigene Collage © D. Endeward)
Wahrnehmung und Verstehen sind als Grundlagen der menschlichen Kommunikation und der Aneignung von Welt Voraussetzungen für den Austausch von Informationen und die Wirksamkeit informations- und kommunikationstechnologischer Innovationen. Die Entwicklung der Medien ist insofern auch an diese Basisbedingungen gebunden, die als humane Konstanten unseren Zugang zu der uns umgebenden Welt gleichermaßen ermöglichen und begrenzen – und die im Kontext der Entwicklung der Medien selbst einem Wandel unterliegen.
Wir sehen denselben Film, aber nehmen ihn unterschiedlich wahr
Karin Strobl-Zöchbauer (1991)
Selektion und Interpretation sind psychologisch gesehen als Entlastungsmechanismen zu verstehen, ohne die der Mensch von der Fülle des Wahrnehmbaren überwältigt würde. Durch Selektion und Interpretation versucht der Mensch in das, was ihm als »Welt« begegnet, Struktur, Ordnung und Verständnis zu bringen.
Selektion heißt, dass der Mensch Auswahlprozesse vornimmt, wenn er Wirklichkeit wahrnimmt und/oder Informationen empfängt:
- Er nimmt wahr oder empfängt, was ihm momentan wichtig oder interessant erscheint und lässt weg, was ihm nicht passt oder unwichtig erscheint.
Das Gleiche tut der Mensch, wenn er Aussagen über etwas macht oder Informationen weitergibt.
In allen Bereichen des menschlichen Lebens und Zusammenlebens, überall wo Rezeption und Kommunikation stattfinden, treten Selektionsvorgänge auf. Selektionen sind fundamentale und unumgängliche Gegebenheiten. Selektionsvorgänge sind zugleich Auswahlketten, die viele »Entscheidungen« mit sich bringen:
- Eine erste Entscheidung wird getroffen, wenn entschieden wird, ob und wie ich mich für etwas öffne.
- Eine zweite Entscheidung fällt, wenn ich festlege, was und wie ich wahrnehme.
- Eine dritte Entscheidung wird gefällt, wenn feststeht, was ich behalte.
- Schließlich wird eine vierte Entscheidung getroffen, wenn feststeht, was ich wie behalte.
Bei jeder Empfangsentscheidung werden Eindrücke und Informationen weiter verringert. Wenn ich dann die empfangenen Eindrücke und Informationen weitergebe, treten neue Auswahlvorgänge auf, z. B. was ich wie und wann zu wem sage.
Interpretationen sind Bedeutungen, die Eindrücke und Informationen gegeben werden. Interpretationen sagen aus, warum, inwieweit und wie man etwas bewertet, es als wichtig oder Interessant ansieht.
Bei jeder Wahrnehmung erfolgt ein Individuell bedingtes Auswählen und Deuten In Form von Behalten, Vergessen, Ergänzen und Verändern.
Auch Filmzuschauer sind demnach nicht nur passiv registrierende Teilnehmer, wie ein von der „Buchkultur“ geprägtes Vorurteil ungeprüft voraussetzt. Filmwahrnehmung ist aktives geistiges Tun, bei dem die genannten zahlreichen psychischen Bedingungen, die in der Persönlichkeit des Zuschauers liegen, mitwirken. Durch Projektionen (Hineinwerfen, Hineinlegen) und/oder Identifikationen (Gleichsetzen, Hineinversetzen) werden die Selektionsvorgänge unterstützt. Eigene Vorerfahrungen, Wünsche, auch unbewusste Strebungen können in Filmgestalten und -handlungen hinein verlegt werden bzw. der Rezipient kann im Film seinen Erwartungen, Wünschen und Vorstellungen entsprechende Gestalten finden, sodass er das Filmgeschehen aus dieser Sicht erlebt.
Jeder Zuschauer erlebt also »seinen« Film. Erst wer seine Wahrnehmungsmuster zu erkennen sucht, kann auch die Reaktionen und Antworten anderer Rezipienten/ Gesprächsteilnehmer verstehen.