Filmwahrnehmung Selektions- und Interpretationsvorgänge

Filmwahrnehmung: Selektions- und Interpretationsvorgänge

Wir sehen denselben Film, aber nehmen ihn unterschiedlich wahr

Karin Strobl-Zöchbauer (1991)

Selektion und Interpretation sind psychologisch gesehen als Entlastungsmechanismen zu verstehen, ohne die der Mensch von der Fülle des Wahrnehmbaren überwältigt würde. Durch Selektion und Interpretation versucht der Mensch in das, was ihm als »Welt« begegnet, Struktur, Ordnung und Verständnis zu bringen.

Selektion heißt, dass der Mensch Auswahlprozesse vornimmt, wenn er Wirklichkeit wahrnimmt und/oder Informationen empfängt:

  • Er nimmt wahr oder empfängt, was ihm momentan wichtig oder interessant erscheint und lässt weg, was ihm nicht passt oder unwichtig erscheint.

Das Gleiche tut der Mensch, wenn er Aussagen über etwas macht oder Informationen weitergibt.

In allen Bereichen des menschlichen Lebens und Zusammenlebens, überall wo Rezeption und Kommunikation stattfinden, treten Selektionsvorgänge auf. Selektionen sind fundamentale und unumgängliche Gegebenheiten. Selektionsvorgänge sind zugleich Auswahlketten, die viele »Entscheidungen« mit sich bringen:

  1. Eine erste Entscheidung wird getroffen, wenn entschieden wird, ob und wie ich mich für etwas öffne.
  2. Eine zweite Entscheidung fällt, wenn ich festlege, was und wie ich wahrnehme.
  3. Eine dritte Entscheidung wird gefällt, wenn feststeht, was ich behalte.
  4. Schließlich wird eine vierte Entscheidung getroffen, wenn feststeht, was ich wie behalte.

Bei jeder Empfangsentscheidung werden Eindrücke und Informationen weiter verringert.  Wenn ich dann die empfangenen Eindrücke und Informationen weitergebe, treten neue Auswahlvorgänge auf, z. B. was ich wie und wann zu wem sage.

Interpretationen sind Bedeutungen, die Eindrücke und Informationen gegeben werden. Interpretationen sagen aus, warum, inwieweit und wie man etwas bewertet, es als wichtig oder Interessant ansieht.

Bei jeder Wahrnehmung erfolgt ein Individuell bedingtes Auswählen und Deuten In Form von Behalten, Vergessen, Ergänzen und Verändern.

Auch Filmzuschauer sind demnach nicht nur passiv registrierende Teilnehmer, wie ein von der „Buchkultur“ geprägtes Vorurteil ungeprüft voraussetzt. Filmwahrnehmung ist aktives geistiges Tun, bei dem die genannten zahlreichen psychischen Bedingungen, die in der Persönlichkeit des Zuschauers liegen, mitwirken. Durch Projektionen (Hineinwerfen, Hin­einlegen) und/oder Identifikationen (Gleichsetzen, Hineinversetzen) werden die Selektionsvorgänge unterstützt. Eigene Vorerfahrungen, Wünsche, auch unbewusste Strebungen können in Filmgestalten und -handlungen hinein verlegt werden bzw. der Rezipient kann im Film seinen Erwartungen, Wünschen und Vorstellungen entsprechende Gestalten finden, sodass er das Filmgeschehen aus dieser Sicht erlebt.

Jeder Zuschauer erlebt also »seinen« Film. Erst wer seine Wahrnehmungsmuster zu erkennen sucht, kann auch die Reaktionen und Antworten anderer Rezipienten/ Gesprächsteilnehmer verstehen.

Karin Strobl-Zöchbauer

 


Filme sind Wahrnehmungsangebote


Geschichtsbewusstsein im Film

Bei dem Versuch, Geschichtsbewußtsein als einen Aspekt von kollektivem Bewußtsein anhand von Spielfilmen zu analysieren, ergibt sich ein für das Medium Film spezifisches Problem: der Film, der in der Zeit abläuft, vollen­det sich erst mit den Eindrücken im Kopf des Zuschauers. Die Rezeptionsbe­dingungen verändern sich aber unabhängig vom Film (generationsbedingt, sozial bedingt, sich wandelnde Aktualität eines Themas, gesamtgesellschaftli­ches Klima…). Pointiert formuliert heißt das: Jeder sieht seinen eigenen Film.

In dieser Radikalität gilt der Satz aber nicht, auch wenn er theoretisch schlüssig ist; denn erstens üben bestimmte filmästhetische Mittel vorherseh­bare Wirkungen aus, die auf dem Wege der filmästhetischen Analyse auch wieder erschlossen werden können. Zweitens zeigen Filmbesprechungen, die im gleichen Zeitraum innerhalb der gleichen Gesellschaft entstanden sind, ein ziemlich hohes Maß an übereinstimmenden Aussagen in zentralen Punk­ten. Das heißt, daß bei der Analyse von Geschichtsbewußtsein anhand von Spielfilmen der Abstand von der Produktionszeit und das dazugehörige gesell­schaftliche Umfeld berücksichtigt werden müssen. Daraus ergibt sich, daß der Zugang zu jüngeren Filmproduktionen leichter sein muß, wenn nämlich der Kontext der Entstehungszeit noch aus eigener Erfahrung präsent ist.


Aus: Irmgad Wilharm: Geschichtsbewusstsein im deutschen Nachkriegsspielfim, in: Gerhard Schneider (Hg.): Geschichtsbewußtsein und historisch-politisches Lernen, Pfaffenweiler 1988, S. 87-95

Wahrnehmung im Prozess der Erkenntnisgewinnung

Im Prozess der Erkenntnisgewinnung bezeichnet Wahrnehmung den Umschlagspunkt, wo sich aus den Reizen des Sehens, Hörens, Tastens, Riechens oder Schmeckens ein Gesehenes, Gehörtes usw. im Bewusstsein konstituiert. Wahrnehmung ist keine passive Abbildung von Wirklichkeit, sondern ein aktiver Prozess, in dem sich der Übergang von Außenwelt zur Innenwelt und damit von der Objektwelt zur persönlichen Welt des Subjekts vollzieht.

Wahrnehmung und Kommunikation

Eine besondere Herausforderung liegt zudem darin begründet, dass Filme Wahrnehmungsangebote sind. Es gibt zwar die Intention der Filmemacher, intendierte Wirkungen und von den Bildern, vom Ton und der Montage ausgehende Wirkungen, denen man sich nicht oder nur schwer verschließen kann, aber die Aussagen bzw. Wirkungen eines Films vermitteln sich nur über die Wahrnehmung der Zuschauer – oft sehr unterschiedlich. Ein Film – wie jeder Text – entsteht letztlich im Kopf des Rezipienten. Jeder – so kann man verkürzt sagen – sieht seinen eigenen Film. „Die eigene Wahrnehmung funktioniert im Normalfall so automatisch, dass Zweifel an der Übereinstimmung zwischen Wahrnehmung und Botschaft nicht aufkommen können. Der mit Wahrnehmung immer verbundene Selektions- und Konstruktionsprozess lässt sich im Prinzip nur über den Vergleich und durch die Kommunikation mit anderen aufdecken. Deshalb kommt der Anschlusskommunikation, d. h. dem kommunikativen Austausch mit anderen, eine so große Bedeutung für die Entwicklung von Medienkompetenz zu“ (Wagner 2010: 7). ‚Eingängige‘ Filme erschweren den Einstieg in eine Diskussion, weil sie Fragen nicht von selbst aufwerfen und suggerieren, es sei alles allen klar. Filme, die eine polarisierende Wirkung haben, ‚verlangen‘ eine Aussprache über Gefühle und subjektiven Erinnerungen.“ (Endeward)

„Produktiv für den Lernprozess wird die Wahrnehmung von Differenzen. Filmanalyse ohne die Rückkopplung und Anbindung an das subjektive Filmerlebnis bleibt ein technischer und abstrakter Vorgang. Soll andererseits über den Austausch subjektiver Eindrücke hinaus ein Lernprozess über Film und Filmwahrnehmung in Gang gesetzt werden, muss man immer wieder nachfragen und vor allem „nachsehen“ sowie mit anderen möglichst am konkreten Beispiel diskutieren, warum ein und dieselben Aussagen, Bilder, Inszenierungen zu übereinstimmenden bzw. zu abweichenden Reaktionen führen (s. a. Kasten oben). Die Vermittlung von Medienkompetenz setzt einen Prozess voraus, in dem Rezeptions- und Filmanalyse aufeinander bezogen werden.“ (Wagner)


Detlef Endeward: Historisch-kritische Filmanalyse im schulischen Geschichtsunterricht. In: Wilfried Köpke/Peter Stettner (Hrsg.): Filmerbe. Non-fiktionale historische Bewegtbilder in Wissenschaft und Medienpraxis, Köln 2018, S. 209-236

Wolf-Rüdiger Wagner: Eine digitale Wende in der Filmbildung? Neue Potenziale für die unterrichtliche Auseinandersetzung mit Filmen. In: Computer & Unterricht 79/2010, S. 6-9


Faszination Film

Die Faszination durch einen ganz anderen Film (…) beschreibt Lion Feuchtwanger in sei­nem Roman »Erfolg« (1930). Der Minister Klenk aus Bayern sieht bei einem Besuch in Berlin in einem überfüllten Kino Eisensteins »Panzerkreuzer Potemkin«, der allerdings im Roman anders heißt. Das Publikum ist erregt.

»Der Minister Klenk, die um ihn Sitzenden groß überragend, denkt nicht daran, sich von dieser Unruhe anstecken zu lassen. Er hat gelesen: ein Film ohne Auf­bau, ohne Weiber, ohne Handlung; Spannung ersetzt durch Tendenz. Anschauen muß man sich so was, wenn man schon in Berlin ist. Er wird den Filmjuden nicht hereinfallen auf ihre künstlich gemanagte Sensation.« Dann läuft der Film, hämmert die Musik. Man sieht das verdorbene Fleisch mit den sich bewegenden Maden, die protestierenden Matrosen. »Die Erbitterung auf dem Schiff steigt, man weiß nicht recht wieso. Allein man spürt, es kann nicht gut ausgehen, jeder im Publikum spürt es. Die Herren auf der Leinwand nehmen es nicht ernst ge­nug. Sie müßten eingreifen, endlich, durchgreifen. Sind sie blind? Aber wir haben es auch heranziehen spüren im letzten Kriegsjahr und haben auch zu spät eingegriffen. Freilich haben wir auch nicht diese hämmernde Musik gehabt. Es ist eine scheußliche Musik, aber sie läßt einen nicht los. Natürlich muß man die­sen Saufilm verbieten. Es ist ganz raffinierte Stimmungsmache, eine Schweine­rei, Es ist wirklich keine genügende Ursache, die Disziplin aufzusagen, weil ein Stück Fleisch madig ist. Da haben wir im Krieg ganz anderes herunterfressen müssen, mein Lieber. Dennoch ist Klenk nicht recht für die Offiziere, er ist für die Matrosen.« Als die Offiziere das Kommando zum Erschießen der Meuterer geben, gehen die Gewehre nicht los. »Ein Taumel packt die Menschen, die auf der Leinwand und die vor ihr. Warum hat man so lang gewartet. Aber jetzt ist es ja da, jetzt begehren sie auf, jetzt endlich geht es los. Und die Leute vor der Leinwand jubeln, sie klatschen denen auf der Leinwand zu. In die grausame, triumphierende, hämmernde, scheußliche Musik hinein klatschen sie, wie jetzt die auf der Leinwand auf die Offiziere eine tolle groteske Jagd anfangen, sie hervorholen aus albernen Verstecken, sie über Bord schmeißen in die fröhlich hochspritzende See, einen nach dem andern, den mickrigen Schiffsarzt darunter, seinen Kneifer ihm nach. Klenk sitzt still, es hat ihm den Atem verschlagen, er sitzt, der riesige Mann mucksmäuschenstill. Es hat keinen Sinn, das zu verbie­ten. Es ist da, man atmet es ein mit jedem Atemzug, es ist in der Welt, es ist eine andere Welt, es ist Blödsinn, sie zu leugnen.«


Lion Feuchtwanger: Erfolg. Drei Jahre Geschichte einer Provinz, 1991 (zuerst 1930), S. 482f. Zitiert nach Irmgard Wilharm: Geschichte, Bilder und die Bilder im Kopf, in: Irmgard Wilharm (Hg.): Geschichte in Bilder. Von der Miniatur bis zum Film als historische Quelle, Pfaffenweiler 1995, S. 7-24 (hier: S. 21/22)


„Wie viel Informationen können Menschen verarbeiten, wenn ihnen diese in Häppchen mit jeweils nur 1.6 Sekunden Dauer dargeboten wird? Diese erstaunlich kurze Dauer reicht aus, um einen Spielfilm von der Komplexität eines Spionagethrillers zu verstehen. Dabei müssen nicht nur einfache visuelle dynamische Reize wahrgenommen, sondern auch komplexe Zusammenhänge über Filmschnitte hinweg begriffen werden. Aktuelle wahrnehmungspsychologische Forschung zeigt, dass die von den FilmemacherInnen entwickelten Regeln bezüglich der räumlichen Anordnung der Kameras und der zeitlichen Platzierung von filmischen Schnitten mit den wahrnehmungspsychologischen Grundlagen des Menschen korrespondieren. Dadurch wird die Integration von Informationen über Filmschnitte hinweg erleichtert.“

Vollständiger Text: Markus Huff: Die wahrnehmungspsychologischen Grundlagen des Filmemachens oder warum Menschen Filme verstehe. in: The Inqisitive mind [25.02.2023]