Film und Wirklichkeit Was dem Betrachter präsentiert wird, ist nichts anderes als filmische Wirklichkeit

Film und Wirklichkeit

Was dem Betrachter präsentiert wird, ist nichts anderes als filmische Wirklichkeit

Detlef  Endeward (1993/2022)

Nun verhält es sich aus filmtheoretischer Perspektive allerdings so, dass jede einmal im Film fixierte Wirklichkeit zunächst gleich viel oder weniger wert ist. Was dem Betrachter präsentiert wird, ist nichts anderes als filmische Wirklichkeit. Diese ist   der vorfilmischen zwar nachgeordnet, indem sie ihr entspringt, nicht aber im Sinne einer 1:1-Abbildung. Wirklichkeit ist immer auf vielfältige und mehrschichtige Weise in Film eingegangen. In Filmen fixierte reale Ereignisse bestehen als filmische Ereignisse weiter. Zwangsläufig muss man sich also diesen filmischen Ereignissen – den Bildern (und Tönen) -, die untereinander keine Hierarchie kennen, zuwenden, um Erkenntnisse über die vorfilmische Wirklichkeit zu erlangen. Sobald  die Kamera auf irgendetwas gerichtet wird, stellt sich die Frage sowohl nach dem, was sie wie ‚sieht‘, als auch nach dem, was für das Kameraobjektiv nicht existiert.

»Weder Spiel- noch Dokumentarfilme stellen technisch-mechanische ‚Kopien‘ der Wirklichkeit dar, sondern bedeuten aktive Reproduktion und subjektive Gestaltung, also: Interpretation einer gesellschaftlichen Realität. Die Wirklichkeit wird durch die Filmaufnahme in eine Vorstellung dieser Wirklichkeit transformiert. (…) Die Zweiteilung des Kinos in Fiktion und Dokumentation, begründet auf der filmischen Realisierung >innerer< Phantasiebilder einerseits und >äußerer< Wirklichkeitsbilder andererseits, ist also nicht aufrechtzuerhalten: Jeder Film ist Fiktion – wie jeder Film dokumentarisch ist. Was einen Dokumentarfilm oder  auch einen Spielfilm zum Zeitdokument und zur historischen Quelle werden lässt,  ist eben nicht in einer möglichst korrekten oder detaillierten Rekonstruktion einer gesellschaftlichen Wirklichkeit (eines bestimmten historischen Zeitabschnitts) zu suchen, sondern in der filmischen Gestaltung, d. h. Interpretation dieser. Der dokumentarische Wert des Films liegt darin begründet, wie er (in welcher filmästhetischen Form, mittels welcher Thematik und Handlung, anhand welcher Motive, in welcher Erzählhaltung und -perspektive) bestimmte gesellschaftliche Realitäten darstellt bzw. thematisiert. (Behring 1989:  8)«

Fiktiven und dokumentarischen Bildern ist also gemeinsam, dass sie Abbilder der vor der Kamera befindlichen Realität und zugleich Interpretationen dieser Wirklichkeit sind. Sie unterscheidet, dass beim dokumentarisch orientierten Film in der Regel das Geschehen vor der Kamera nicht beeinflusst, beim Spielfilm auch hier gestaltend eingegriffen wird. Die Grenzen sind allerdings fließend und es gibt zahllose Filmbeispiele, die dem Dokumentarbereich zugeordnet werden, bei denen sehr wohl das Geschehen vor der Kamera ‚gestaltet‘ wurde (z. B. Filme von Joris Ivens) und Spielfilme, die dokumentarisch orientiert sind. Man kann also nicht einfach sagen, dass der Dokumentarfilm Tatsachen abbildet. Er fotografiert ausgewählte Tatsachen und montiert daraus einen Tatsachenzusammenhang. Alle übrigen möglichen Tatsachen und Tatsachenzusammenhänge werden ausgegrenzt. Dokumentar- und Spielfilm sind immer etwas Gemachtes, Zusammengesetztes, Künstliches. Man braucht ein Erkenntnisinteresse, eine Intention, um die Momentaufnahmen in einen Zusammenhang zu bringen.


aus: Detlef Endeward: Spuren kollektiven Bewußtseins: Basismaterial Film. Überlegungen für eine Edition von Filmen als Quelle ihrer Entstehungszeit. In: FWU Magazin 7/1993, S. 15-20

Anfänge des Films

Schon in den Anfängen der Kinematographie am Ende des 19. Jahrhunderts entsteht gewissermaßen die Trennung des Films in Dokumentarfilm und Spielfilm: Mit den Brüdern Auguste und Louis Lumière 1), deren Frühwerk für den Reportage- und Dokumentarfilm steht‘ und Georges Méliès 2), dessen Filmwerk Illusions- und Abstraktionstechnik im Film begründet, ist die bis heute grundlegende Dichotomie in der Filmkunst verbunden.

Die Lumières sahen in der neuen Filmtechnik die großartige Möglichkeit, die „Realität wiederzugeben“, ihre Filme hielten mittels der filmtechnischen Apparatur einfach Ereignisse aus dem Leben fest: Die Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof von Ciotat („L’arrivée d’un train à la Ciotat‘,1895), Arbeiter, die die fotografische Fabrik der Lumières verlassen („La Sortie des Usines“, 1895).

In den ersten Filmen der Lumières gab es kein fiktives Moment, keinen Schauspieler, kein Szenarium, keine Dekoration – alle unentbehrlichen Elemente für einen Spielfilm fehlten. Aber auch schon diese einfachen Bilder aus dem Leben waren keine „einfache Wiedergabe“ der Realität: Jede Filmaufnahme bedeutet, daß die Filmkamera in einer bestimmten Perspektive und einem bestimmten Bildausschnitt ein Abbild der Realität festhält. Dieses Abbild der Realität, das Filmbild, unterliegt i m m e r dem subjektiven Entscheidungsprozeß des Kameramannes bzw. des Regisseurs. Das Geschehen, welches der Zuschauer auf der Leinwand verfolgt, wird durch die Filmapparatur (Aufnahme- und Vorführungsgeräte) vorgegeben: In „L’arriée d’un Train“ von den Lumières näherten sich die Reisenden, die aus dem Zuge stiegen, der Kamera und zeigten sich dem Zuschauer in verschiedenen Einstellungen – von der Totale bis zur Nahaufnahme. Der Zuschauer sah zugleich die Totalität und das Detail eines Ereignisses.

Die (film-)künstlerische Gestaltung des realen Ereignisses einer Zugankunft (…) lag in der Wahl des Bildausschnitts und der Bildperspektive der Kamera auf dem Bahnsteig begründet, Filme stelIen schon in ihrer einfachsten filmtechnischen Produktion eine Bearbeitung der Realität dar.

Was bei den Lumières noch unbeabsichtigt und nur durch die Bedingungen der Filmapparatur hervorgerufen wurde, versuchte Georges Méliès in seinen Filmen „Le Voyage dans la lune“ (1902) und „Le Voyage à travers l’impossible“ (1904) durch Beeinflussung des Filmmaterials und der Aufnahmeapparatur bewußt zu gestalten. Durch Zufall entdeckte er 1898 die Doppelbelichtung, als sich der Filmstreifen einmal in seiner Kamera verklemmte; weiter experimentierte er mit den Möglichkeiten der Blende und des Zeitraffers: Georges Méliès begann, seine Filme zu inszenieren. Auch wenn die meisten Tricks in Méliès Filmen noch auf der Bühne passierten (Falltreppen, Attrappen, unsichtbare Seile, an denen Figuren durch die Luft „schweben“), trug er im bewußten Umgang und der gezielten Gestaltung mittels der Aufnahmeapparatur im entscheidenden Maße zur Entwicklung der Filmkunst bei: Méliès hat die Möglichkeit des Films erkannt, die Realität zu verändern – und damit den Kunst- und Manipulationscharakter des Mediums Film offenbart.

„Realität“ im Film

Die Beispiele der Filmpioniere Lumière und Méliès machen deutlich, daß die Genretrennung Dokumentarfilm und Spielfilm nicht zwangsläufig die Trennung von Realität und Fiktion im Film beinhaltet: Nicht die Frage, ob „Wirklichkeit“ im Film (realistisch) wiedergegeben wird, sondern wie sie mit Hilfe der Filmapparatur wiedergegeben wird, ist evident. Spielfilme wie Dokumentarfilme können und wollen keine „wertfreie Wiedergabe“ der Realität leisten. Ziel des Films (wie jeder anderen Kunst auch) ist es, nicht einfach das eine oder andere 0bjekt abzubilden, sondern es zu Bedeutungsträgern zu machen.

Der russische Poet und Zeichentheoretiker Jurij M. Lotman erklärt in seiner Einführung in die Semiotik des Films:

„Die Kunst bildet die Wirklichkeit nicht einfach mit der leblosen Automatik eines Spiegels ab – sie füllt die Wirklichkeit mit Bedeutungen, indem sie deren Bilder in Zeichen umwandelt. Zeichen können nicht bedeutungslos sein oder keine Information erhalten. Daher wird das, was in der Objektwelt vom Automatismus der Beziehungen der materiellen Wirklichkeit abhängig ist, in der Kunst zum Ergebnis der freien Entscheidung des Künstlers und gewinnt dadurch den Wert einer Information.“ 3)

Was einen Dokumentarfilm oder auch Spielfilm zum ‚Zeitdokument‘, zur historischen Quelle‘ werden läßt, ist also nicht in einer möglichst korrekten oder detaillierten Rekonstruktion einer gesellschaftlichen Wirklichkeit (eines bestimmten historischen Zeitabschnitts) zu suchen, sondern in der filmischen Gestaltung, d. h. Interpretation dieser. Der „dokumentarische“ Wert des Films liegt darin begründet, wie er (in welcher filmästhetischen Form, mittels welcher Thematik und Handlung, anhand welcher Motive, in welcher Erzählhaltung und -perspektive) bestimmte gesellschaftliche Realitäten darstellt bzw. thematisiert und be- und verarbeitet.

Das Kunstprodukt Film zeigt uns in der ‚Überwindung’der „realen Welt“ durch die Einstellungsgrößen der einzelnen Filmbilder (die „die Welt in einzelne Teile zerlegen“) und ihren vielfältigen Kombinationsmöglichkeiten in der Montage ein (mögliches) Bild der gesellschaftlichen Realität.

 


Heiner Behring: Film und Wirklichkeit. Bemerkungen zur Technik und Ästhetik des Films. Arbeitsmaterialien der Landesmedienstelle Niedersachsen für die Filmbildung, Hannover 1987

Seit den Anfängen der Kinematographie am Ende des 19. Jahrhunderts gibt es die Trennung in Dokumentarfilm und Spielfilm: Die Filme von Auguste und Louis Lumiere (1862-1954 und 1864-1948) wollten die Wirklichkeit einfangen und fest­halten – so wie sie war; die Filme von Georges Melies (1861-1938) wollten Ge­schichten erzählen – erfunden von der Phantasie der Filmschöpfer.

Wirklichkeit und Traum: Das sind die Pole, die das »Bild« des Kinos bis heute bestimmen.

Heiner Behring: Fiktion und Wirklichkeit: Die Realität des Films. In: Geschichtswerkstatt H. 17. Film – Geschichte – Wirklichkeit, Hamburg 1989, S. 6-11 ⇒ weiter (PDF)

«Film und Wirklichkeit» Ich habe eine Reihe wichtiger Gründe, über dieses Thema nachzudenken. Die Art und Weise, in der die HEIMAT-TRILOGIE von der Öffentlichkeit oftmals wahrgenommen wurde, wirft meine ursprünglichen Ansichten über Film und Wirklichkeit über den Haufen. Was in meinen Augen einmal eine äußerst subjektive Erzählung war, die sich nur selten an Fakten, dafür aber umso mehr an Wünschen, Ängsten und vagen Erinnerungen orientierte, das wurde vom Publikum oft als abgefilmte Realität verstanden. Meine Geschichten wurden der Welt der Tatsachen zugeordnet, die eigene Erfahrungen der Zuschauer sogar ausgelöscht und ersetzt haben. Ich spreche hier nicht von der Popularität, die ein Film erreichen kann, denn diese entsteht eher durch die Mythen, die er in die Welt setzt, durch die poetische Kraft seiner Figuren und die angebotenen Identifikationen; all das finde ich wunderbar. Ich spreche vielmehr von den fatalen Verwechselungen zwischen Film und Leben, von Versuchen, die Schauplätze, Charaktere und ihre Geschichten jenseits der ästhetischen Gestalt des Film-Werkes zu begreifen, von Versuchen, die erzählten Geschichten als bare Münze zu nehmen.

Edgar Reitz: Film und Wirklichkeit. 21.02.2006 ⇒ weiter

Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Eine kurze Geschichte des Dokumentarfilms
Als die Produzenten optischer Geräte Louis und Auguste Lumière 1895 den „Cinématographe“ erfunden hatten, stellten sie die Apparatur vor ihre Fabrik und filmten die Arbeiter, die am Feierabend aus den Toren kamen. Der kurze Filmstreifen gehörte zur allerersten Programm-Präsentation der Lumières. Die Kamera stand in Augenhöhe, es gab keine Dramaturgie und keine Montage, denn die war noch nicht erfunden. Es ist die Dokumentation eines realen Geschehens – auch wenn die Brüder Lumière diese Szene mehrere Male mit den Arbeitern probten, bis sie im „Kasten war“. Oder sprechen wir hier bereits von einer Inszenierung? Im selben Programm lief allerdings auch ein anderer Film – ebenfalls ohne Schnitt und ausgesuchte Kameraposition: Ein Lausbub tritt auf den Schlauch, mit dem ein Gärtner den Rasen sprengt. Das Wasser bleibt aus, der Gärtner guckt in die Düse, der Junge zieht den Fuß zurück, und der Gärtner wird nass. Er entdeckt den Jungen und verprügelt ihn. Im Gegensatz zum ersten Beispiel wurde hier eine fiktive Geschichte in Szene gesetzt: Es handelt sich also um einen Spielfilm. (…) weiter

Herbert Heinzelmann: Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Eine kurze Geschichte des Dokumentarfilms, auf: kinofenster.de , 28.10.2007

Filme schneiden kann durch Manipulation der Wahrheit in Form von Filmlügen beträchtlichen Schaden anrichten. Das gilt nicht erst seit Fake News und Deepfake Videos. Die Montage, so erkannte schon Meisterregisseur Eisenstein, ist nichts weniger als die moralische Dimension des Films. weiter

Pavel Sokolov: Filme schneiden (Teil 4): Wenn der Filmschnitt die Wahrheit manipuliert. filmpuls.info – 31.01.2022


Der Film – eine fotographisch Kunst

Auch das filmische Abbilden ist schon Gestalten

Die Antithese von Abbilden und künstlerischem Gestalten ist nicht ganz zutreffend, da auch das filmische Abbilden schon ein Gestalten ist. Die Kamera besitzt aber eine außerordentlich weite Spanne der gestalterischen Möglichkeiten vom beinah nur passiven Ab-Photographieren bis zum dramatisierenden Neu-Gestalten eines Geschehens. (…)

Da der Film eine photographische Kunst ist, ist er einerseits streng an die sichtbare Wirklichkeit gebunden. Er kann diese aber – ebenfalls gerade dank seiner photographischen Eigenart – verzaubern.Muß er also einerseits immer vom Sichtbar-Wirklichen ausgehen, so kann er andererseits die physikalischen Gesetz der Realität, zum Beispiel das Gesetz der Schwerkraft aufheben, verschleiern, umkehren; er kann die äußeren Bestandteile der sichtbaren Wirklichkeit andern Gesetzen des räumlichen und zeitlichen Erscheinens unterstellen. So vermag der Film, immer mit den Mitteln, mit den Bestandteilen der sichtbaren Wirklichkeit, in die Späre der seelischen Vorgänge, der Phantasie, des Traums, des Unbewußten überzutreten. Er wird zum suggestiven Instrument einer optischen Psychologie. Diese Verwandeln der äußeren Wirklichkeit im Sinne einer inneren Wirklichkeit (oder aber  auch einer Unwirklichkeit) ist geradezu eine der spezifischsten, eine der ihm eigensten Möglichkeiten des Films.  Man brauche nur den NAmen eines großen Pioniers zu nennen: Georges Méliès. Seither sind die Surrealisten diejenigen, die diese Möglichkeiten des Films am intensivsten und konsequentesten ausgebeutet haben.


Aus: Georg Schmidt/Werner Schmalenbach/Peter Bächlin: Der Film. Wirtschaftlich – gesellschaftlich – künstlerisch. Hrsg. vom Schweizerisch Filmarchiv Basel, Basel 1949, S. 30)


Vom Finden und Erfinden (1988)

Zwei Typen von Fotografen sind zu unterscheiden, der Finder und der Erfinder.

Suchen und Finden ist demnach eine naturgewandte GesteVersuchen  und Erfinden eine kulturgewandte. Zum Erfinder wird, wem sich Natur versagt. Eben dies kennzeichnet den gegenwärtigen Zustand der Fotografie: die Realität, die die Natur des Fotografen ist, hat sich ihm zu versagen begonnen. wenn aber Realität versagt, muß man sie neu erfinden.


Andreas Müller-Pohle: Inszenierende Fotografie. In: FOTOVISION: Projekt Fotografie nach 150 Jahren. Bearbeitet von Bernd Busch, Udo Liebelt und Werner Oeder. Hrsg. vom Sprengel Museum Hannover 1988, S. 12