Filme sind Wahrnehmungsangebote

Wahrnehmung im Prozess der Erkenntnisgewinnung

Im Prozess der Erkenntnisgewinnung bezeichnet Wahrnehmung den Umschlagspunkt, wo sich aus den Reizen des Sehens, Hörens, Tastens, Riechens oder Schmeckens ein Gesehenes, Gehörtes usw. im Bewusstsein konstituiert. Wahrnehmung ist keine passive Abbildung von Wirklichkeit, sondern ein aktiver Prozess, in dem sich der Übergang von Außenwelt zur Innenwelt und damit von der Objektwelt zur persönlichen Welt des Subjekts vollzieht.

Geschichtsbewusstsein im Film

Bei dem Versuch, Geschichtsbewußtsein als einen Aspekt von kollektivem Bewußtsein anhand von Spielfilmen zu analysieren, ergibt sich ein für das Medium Film spezifisches Problem: der Film, der in der Zeit abläuft, vollen­det sich erst mit den Eindrücken im Kopf des Zuschauers. Die Rezeptionsbe­dingungen verändern sich aber unabhängig vom Film (generationsbedingt, sozial bedingt, sich wandelnde Aktualität eines Themas, gesamtgesellschaftli­ches Klima…). Pointiert formuliert heißt das: Jeder sieht seinen eigenen Film.

In dieser Radikalität gilt der Satz aber nicht, auch wenn er theoretisch schlüssig ist; denn erstens üben bestimmte filmästhetische Mittel vorherseh­bare Wirkungen aus, die auf dem Wege der filmästhetischen Analyse auch wieder erschlossen werden können. Zweitens zeigen Filmbesprechungen, die im gleichen Zeitraum innerhalb der gleichen Gesellschaft entstanden sind, ein ziemlich hohes Maß an übereinstimmenden Aussagen in zentralen Punk­ten. Das heißt, daß bei der Analyse von Geschichtsbewußtsein anhand von Spielfilmen der Abstand von der Produktionszeit und das dazugehörige gesell­schaftliche Umfeld berücksichtigt werden müssen. Daraus ergibt sich, daß der Zugang zu jüngeren Filmproduktionen leichter sein muß, wenn nämlich der Kontext der Entstehungszeit noch aus eigener Erfahrung präsent ist.


Aus: Irmgad Wilharm: Geschichtsbewusstsein im deutschen Nachkriegsspielfim, in: Gerhard Schneider (Hg.): Geschichtsbewußtsein und historisch-politisches Lernen, Pfaffenweiler 1988, S. 87-95

Wahrnehmung und Kommunikation

Eine besondere Herausforderung liegt zudem darin begründet, dass Filme Wahrnehmungsangebote sind. Es gibt zwar die Intention der Filmemacher, intendierte Wirkungen und von den Bildern, vom Ton und der Montage ausgehende Wirkungen, denen man sich nicht oder nur schwer verschließen kann, aber die Aussagen bzw. Wirkungen eines Films vermitteln sich nur über die Wahrnehmung der Zuschauer – oft sehr unterschiedlich. Ein Film – wie jeder Text – entsteht letztlich im Kopf des Rezipienten. Jeder – so kann man verkürzt sagen – sieht seinen eigenen Film. „Die eigene Wahrnehmung funktioniert im Normalfall so automatisch, dass Zweifel an der Übereinstimmung zwischen Wahrnehmung und Botschaft nicht aufkommen können. Der mit Wahrnehmung immer verbundene Selektions- und Konstruktionsprozess lässt sich im Prinzip nur über den Vergleich und durch die Kommunikation mit anderen aufdecken. Deshalb kommt der Anschlusskommunikation, d. h. dem kommunikativen Austausch mit anderen, eine so große Bedeutung für die Entwicklung von Medienkompetenz zu“ (Wagner 2010: 7). ‚Eingängige‘ Filme erschweren den Einstieg in eine Diskussion, weil sie Fragen nicht von selbst aufwerfen und suggerieren, es sei alles allen klar. Filme, die eine polarisierende Wirkung haben, ‚verlangen‘ eine Aussprache über Gefühle und subjektiven Erinnerungen.“ (Endeward)

„Produktiv für den Lernprozess wird die Wahrnehmung von Differenzen. Filmanalyse ohne die Rückkopplung und Anbindung an das subjektive Filmerlebnis bleibt ein technischer und abstrakter Vorgang. Soll andererseits über den Austausch subjektiver Eindrücke hinaus ein Lernprozess über Film und Filmwahrnehmung in Gang gesetzt werden, muss man immer wieder nachfragen und vor allem „nachsehen“ sowie mit anderen möglichst am konkreten Beispiel diskutieren, warum ein und dieselben Aussagen, Bilder, Inszenierungen zu übereinstimmenden bzw. zu abweichenden Reaktionen führen (s. a. Kasten oben). Die Vermittlung von Medienkompetenz setzt einen Prozess voraus, in dem Rezeptions- und Filmanalyse aufeinander bezogen werden.“ (Wagner)


Detlef Endeward: Historisch-kritische Filmanalyse im schulischen GeschichtsunterrichtIn: Wilfried Köpke/Peter Stettner (Hrsg.): Filmerbe. Non-fiktionale historische Bewegtbilder in Wissenschaft und Medienpraxis, Köln 2018, S. 209-236

Wolf-Rüdiger Wagner: Eine digitale Wende in der Filmbildung? Neue Potenziale für die unterrichtliche Auseinandersetzung mit Filmen. In: Computer & Unterricht 79/2010, S. 6-9

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