Bevor diesen Aspekten und Teilbereichen nachgegangen wird, möchte ich auf’s Ganze gesehen feststellen, dass der Dokumentarfilm – wie Film überhaupt – von Historikern immer noch sehr wenig beachtet und genutzt wird, wie z. B. ein Blick in die Fachzeitschriften der Historiker, die Vorlesungsverzeichnisse an den Hochschulen und auf die Programme der Historiker-Tage zeigt. [2] Diese Zurückhaltung scheint mir in Deutschland besonders ausgeprägt, jedenfalls mehr als z.B. in Frankreich und in den angelsächsischen Ländern. [3] Die verbreitete Vorsicht und Distanz der Historiker gegenüber dem Medium Film hat natürlich Gründe, denen ich nachgehen werde, aber es gibt auch gute Gründe ihn verstärkt zu nutzen, die natürlich auch zur Sprache kommen sollen.
Zunächst möchte ich mich in der gebotenen Kürze mit dem zweiten titelgebenden Begriff – der historischen Quelle – auseinandersetzen und in diesem Zusammenhang einige Begrifflichkeiten ansprechen, bevor ich diese dann im Folgenden mit dem Dokumentarfilm zusammenbringe. Wenngleich im Prinzip alles zu einer historischen Quelle werden kann, was eine Spur von „Menschengeist und Menschenhand“ trägt, so die bekannte Formulierung des Historikers Johann Gustav Droysen, so sind es doch in aller Regel Schriftdokumente, die als solche seit langer Zeit anerkannt, archiviert und genutzt werden und an denen die Regeln der Quellenkritik und -deutung entwickelt wurden: Zu nennen wäre hier die äußere Quellenkritik, die eine Quelle verifiziert, Verfasser, Entstehungszeit, -ort und -hintergrund prüft. Und die innere Quellenkritik, die zum Teil darauf aufbauend die Quelle inhaltlich beschreibt, deutet und einschätzt. Schließlich möchte ich noch zwei Begriffspaare zur Quellendifferenzierung nennen, die den meisten bekannt sein dürften: Zum einen die Unterscheidung zwischen Primär- und Sekundärquelle, die sich im Wesentlichen an der zeitlichen Nähe zum beschriebenen Gegenstand bzw. dem Ereignis festmacht, wobei der Primärquelle bei im übrigen gleichen Bedingungen der Vorrang eingeräumt wird. Zum anderen diejenige zwischen Tradition und Überrest. Eine Quelle, die zum gleichen Zweck rezipiert und genutzt wird, wie sie in ihrer Entstehung verfasst wurde – z.B. der Inhalt eines Berichts über ein Ereignis, ein Protokoll einer Besprechung etc. – wird als Traditionsquelle genutzt. Demgegenüber besteht der Überrestwert einer Quelle in dem, was sie vom Verfasser unbeabsichtigt enthält, z.B. wenn von der Wortwahl, Ausdrucksweise und Argumentation des Verfassers auf dessen Intention oder Vorstellungswelt geschlossen wird. Ob ein Dokument zu einer bedeutsamen Quelle in der einen oder anderen Weise wird, hängt natürlich immer von den jeweiligen Fragestellungen ab.
Blicken wir nun auf den Film, speziell den Dokumentarfilm. Dieser ist zunächst einmal im weiteren Sinne ein Gattungsbegriff für nicht-fiktive Filmformen, die eine vorfilmische Realität abbilden – also ein solche, die nicht für die Kameraaufnahme inszeniert ist. Dies vorausgesetzt, fließt allerdings auch bei der dokumentarischen Filmaufnahme stets menschliche Handlung und Intention mit ein (also ein subjektiver Faktor), worauf an späterer Stelle noch eingegangen werden soll. An dieser Stelle möchte ich zunächst auf die unterschiedlichen Bearbeitungsstufen und -formen dokumentarischen Filmmaterials eingehen, da diese für die Verständigung wichtig sind und sowohl in der Praxis des Filmschaffens als auch in der theoretischen Diskussion immer wieder eine Rolle spielen.
Die Basis des dokumentarischen Films stellt (idealer Weise) eine einzelne filmische Aufnahme eines nicht inszenierten Ereignisses dar. Hierfür ist der Begriff „Filmdokument“ im engeren Sinne verwendet worden. Es handelt sich also um keinen fertigen Film. Im Folgenden möchte ich Ihnen eine solche Aufnahme vorstellen: es handelt sich um eine Flugaufnahme vom 11. April 1945 über das zerstörte Hannover, angefertigt von einem britischen Militärflugzeug nach der Besetzung der Stadt durch britische Truppen. Wie praktisch alle dokumentarischen Filmaufnahmen bis in die 1960er Jahre ist diese natürlich stumm.
Die Flugaufnahme besteht aus einer durchgehenden Einstellung von 70 Sekunden. Das Flugzeug überfliegt relativ langsam in einer Höhe von ca. 200-300 Metern die nördliche Mitte des zerstörten Stadtgebietes von Hannover. Es sind einzelne Straßenzüge in der Trümmerwüste zu erkennen. Eine Orientierung ist vornehmlich durch Eisenbahngleise und -brücken, Bunker und Kirchen möglich.
Die Intention dieser und ähnlicher Aufnahmen unmittelbar nach Kriegsende ist gewesen, die durch den Bombenkrieg verursachten Kriegsschäden zu dokumentieren. In den oben genannten Begrifflichkeiten handelt es sich um eine Primärquelle. Es handelt sich ohne Frage um ein beeindruckendes Dokument, welches das Ausmaß der Kriegszerstörung in der Innenstadt Hannovers verdeutlicht und erfahrbar macht, mehr als dies ein schriftliches Dokument und auch mehr als dies ein Foto könnte. Es hängt natürlich immer von der Fragestellung des Historikers ab: Wenn ich quantifizierbare Daten und Fakten, statistische Werte oder detaillierte Angaben benötige, gibt es bessere Quellen. Und die Filmquelle zeigt auch nicht, wie es für die betroffenen Hannoveraner am Boden aussah. Aber um ein Gesamtbild der Kriegszerstörung zu haben, um eine Vorstellung von den Ausmaßen zu geben, dafür bietet sich die Filmaufnahme gut an und man kann sie dann als eine Traditionsquelle nutzen.
Das Filmmaterial liegt – zusammengefasst mit ähnlichen Aufnahmen aus dieser Zeit, die aber keinen fertigen Film bilden – in einem britischen Archiv[4].
Anfang der 1980er Jahre hat man dieses Filmdokument für eine bundesdeutsche Filmproduktion entdeckt und es fand Eingang in einen Dokumentarfilm mit dem Titel NIEDERSACHSEN ’45 (Regie Jürgen Corleis, 1982). Aus diesem etwa 43-minütigen Film stelle ich Ihnen nun einen Ausschnitt von drei Minuten vor (beginnend ab Minute 20 im Film), in dem das vorher gezeigte Filmdokument verwendet wurde und aus dem die Einbettung der fraglichen Aufnahme erkennbar ist.
Britische Truppen setzen Lagerbaracken im ehemaligen KZ-Bergen-Belsen in Brand. Dazu der Off-Kommentar: „Von 1943 bis 1945 sind in Bergen-Belsen an Hunger, Kälte und Seuchen 50.000 Menschen elend umgekommen. Hitlers KZ-Kommandanten brachten sie nicht um – Bergen-Belsen war ja kein Vernichtungslager. Sie ließen sie verrecken (…).“ Es folgt nun die Flugaufnahme über das zerstörte Hannover, als Hintergrundgeräusch sind – nachträglich unterlegt – Flugzeugmotoren zu hören. Dazu spricht der Kommentar: „Hannover Mitte April 1945. So sieht die niedersächsische Metropole nach 88 Luftangriffen aus. 95% des Stadtzentrums sind völlig zerstört, die Hälfte aller Wohnhäuser in der ganzen Stadt ist vernichtet. Dies ist die Stadt, die Hitlers Gauleiter Lauterbacher bis zum letzten Mann verteidigen wollte. Er selbst allerdings setzte sich noch rechtzeitig in den Harz ab. Sein letzter Befehl an einen Trupp wackerer Parteigenossen: das Rathaus sprengen. Ein Feldwebel der Luftnachrichtentruppe mit fünf Mann setzte die braunen Helden im Rathauskeller zunächst unter Alkohol und schickte sie dann nach Hause. So wurde das Rathaus gerettet (kurze Pause Kommentar, d.V.). Die Sankt-Marienkirche, letzte Ruhestätte des Zentrumsführers Ludwig Windthorst, eines der großen Gegenspieler Bismarcks im Reichstag.“ Es folgen nun Bilder vom zerstörten Hauptbahnhof Hannover. Dazu der Kommentarsprecher: „Der Hauptbahnhof. Diese Aufnahmen geben nur ein plastisches Beispiel für den Zustand der gesamten Infrastruktur, der Versorgungseinrichtungen der Stadt. Es fährt nicht nur kein Eisenbahnzug mehr, keine Straßenbahn, kein Bus. Es gibt auch kein Wasser, kein Gas und bei den Hannoveranern jener Zeit kommt der Strom nicht mehr aus der Steckdose.“
Die Flugaufnahme ist hier montiert mit anderen „Filmdokumenten“ aus dem Jahre 1945. Diese sind oft gekürzt und das gesamte Material ist entsprechend einer „Dramaturgie“ geordnet. Das Verständnis des gezeigten Materials wird im Wesentlichen durch einen nachträglichen Kommentar produziert. Die ursprüngliche Primärquelle ist so in einen größeren Zusammenhang eingeordnet worden. Wenn das Bildmaterial eines dokumentarischen Films wie in diesem Fall ausschließlich aus zeitgenössischem (hier 1945) gedrehtem Material besteht, wenn also kein nachgedrehtes Material, auch keine Interviews etc. verwendet werden, dann spricht man von einem „Dokumentarfilm“ im engeren Sinne. Dieser hätte dann auf die ursprünglichen Ereignisse und Quellen bezogen sekundären Charakter. Der Gesamtfilm NIEDERSACHSEN ’45 ist also eine historische Quelle bzw. Darstellung aus dem Jahr 1982, die zahlreiche Quellen aus dem Jahr 1945 benutzt hat. Leider weist der Film (zumindest in der mir vorliegenden Fassung, die Vor- und Abspann enthält) weder seine Primärquellen aus noch die Archive, aus denen die Quellen bezogen wurden.
Da die Filmbilder vom zerstörten Hannover recht eindrucksvoll sind, wundert es nicht, dass sie auch für spätere Produktionen verwendet worden sind. Im Jahre 2006 produziert der Filmemacher Andreas Latzke den Film HANNOVER IM 20. JAHRHUNDERT, der vom NDR im gleichen Jahr ausgestrahlt wird. Im folgenden, etwa drei Minuten langen Ausschnitt findet sich die Ursprungseinstellung der Flugaufnahme wieder.
(…) Ein älterer Mann (Lothar Redlin), der als Schüler die Bombardierung Hannovers erlebte, berichtet (im Bild sichtbar): „ … Frau auf der Strasse (…) brennend. Sie hatte in Phosphor getreten, und es versuchten andere Leute ihr die Kleider vom Leibe zu reissen.“ Dann historische Filmaufnahmen (nicht aus Hannover): brennende Trümmer. Dazu der Off-Kommentar: „Feuerwehren und Rettungstrupps stecken mitten im Chaos. Menschen versuchen sich gegenseitig zu helfen.“ Dann Zeitzeugin – Texteinblendung „Ursula Schlösser, damals Lehrling“ – im Bild: „Da kam eine alte Dame auf uns zu, bat uns, mit zu ihrem Haus zu gehen. Wir gingen mit der Dame los, kamen zu ihrem Haus, sie schloss das Gartentürchen auf, wir gingen den Weg runter und sahen auf einmal ein verbranntes Etwas, was mal ein Mensch gewesen war. Und es war der Ehemann der Dame (…).“ Filmaufnahmen (nicht aus Hannover) von rauchenden Trümmern, Geräusche nachträglich hinterlegt. Kommentar: „Der Morgen danach“. Wieder Zeitzeuge Redlin: „ … milchiger Dunst, überall regnete Asche vom Himmel.“ Historische Filmaufnahmen: Bergung eines Toten aus den Trümmern (nicht aus Hannover), Geräusche, u.a. läutende Glocken hinterlegt. Dazu Kommentar: „Eine Bilanz des Grauens. In dieser Nacht sterben 1245 Menschen, eine Viertel Million werden obdachlos, viele sind traumatisiert.“ Fotos von Verzweifelten und obdachlosen Menschen, Kirchglocken läuten. Anschließend ein Gemälde des brennenden Hannover. Off-Kommentar: „So sieht die Stadt Hannover nach über 88 Luftangriffen aus.“ Die Flugaufnahme über die zerstörte Stadt beginnt, von Trauer-Musik untermalt. Off-Kommentar: „95% des Stadtzentrums sind völlig zerstört, 5000 Menschen wurden unter den Trümmern begraben. Die Hälfte aller Wohnhäuser in der ganzen Stadt vernichtet.“ Anschließend folgen Filmaufnahmen vom zerstörten Hauptbahnhof, Off-Kommentar: „ Der Hauptbahnhof. Diese Aufnahmen geben nur ein plastisches Beispiel für den Zustand der gesamten Infrastruktur, der Versorgungseinrichtungen der Stadt. Es fährt kein Eisenbahnzug, keine Straßenbahn, ein gibt auch kein Wasser, kein Gas und keinen Strom.“
Soweit der Ausschnitt aus dem Film HANNOVER IM 20. JAHRHUNDERT von 2006. Interessant ist hierbei unter anderem, dass Herr Latzke hinsichtlich der Flugaufnahme über das zerstörte Hannover auf den Dokumentarfilm von 1982 zurückgreift und nicht auf das britische Originalfilmmaterial. Dies merkt man nicht zuletzt an dem Kommentar, den er zum Teil, leicht abgewandelt, von NIEDERSACHSEN ’45 übernimmt. In HANNOVER IM 20. JAHRHUNDERT werden also so genannte Klammerteile aus einer Sekundärquelle benutzt, dazu nachgedrehtes Filmmaterial, auch Zeitzeugen-Interviews, historisch-dokumentarisches Filmmaterial, das nicht aus Hannover stammt und rein illustrativen Charakter hat, dazu Fotos. Das Ergebnis ist kein Dokumentarfilm i.e.S., sondern eine Film- bzw. Fernsehdokumentation, wie man sie häufig im Fernsehen zu sehen bekommt, etwa in den Geschichtsdokumentationen von Guido Knopp.
Dies ist für mich hier bedeutsam, weil an diesem Beispiel eine Verwertungskette deutlich wird, mit der man es bezogen auf dokumentarisches Filmmaterial häufig zu tun hat. Meist aus Gründen der Einfachheit werden aus bereits vorhandenen Filmen so genannte Klammerteile entnommen und zwar ohne dies kenntlich zu machen. Die Frage, woher das verwendete Filmmaterial ursprünglich kommt, lässt sich – wenn überhaupt – nur von wenigen Experten beantworten, auch die Filmemacher selbst wissen es oft nicht, wenn es sich um Rückgriffe auf frühere Filme handelt. Die Fernsehdokumentation aus dem Jahre 2006 ist jedenfalls keine historische Quelle für die Kriegszerstörung, sondern sie arbeitet mit historischen Quellen im Sinne einer bebilderten Geschichtsdarstellung. Eine Quelle könnte die Dokumentation allenfalls für ihre Entstehungszeit (2006) sein im Sinne einer Überrestquelle, ein Aspekt, der allerdings erst aus einiger zeitlicher Distanz sinnvoll zu beantworten ist. Herr Latzke hat in seiner Dokumentation zwar nicht die verwendeten Quellen aufgeführt, aber immerhin die Archive genannt, aus denen er Material bezogen hat. Aufgelistet findet sich dabei im übrigen auch „Chronos“, ein Dokumentarfilmproduzent mit Archiv, der für NIEDERSACHSEN ’45 verantwortlich zeichnet.
Die Nutzung des historischen Filmdokuments zur Kriegszerstörung Hannovers in dem Dokumentarfilm von 1982 und in der Dokumentation von 2006, ohne die Ursprungsquelle nachzuweisen, mag – auch wenn es für Historiker natürlich unbefriedigend ist – hier noch relativ unproblematisch erscheinen, weil die mit den Bildern verbundene Intention und Aussage im Wesentlichen gleich bleibt, die da lautet: Hier sieht man, wie stark die Stadt Hannover zerstört wurde. Gewisse Differenzen gibt es bei der Verwendung des Filmdokuments in den beiden Filmen allerdings schon: In NIEDERSACHSEN ’45 wird die Darstellung mit Kritik am NS-Regime bzw. Spott über dessen ruhmlosen Untergang in Hannover verbunden, in der Dokumentation von 2006 werden die deutschen Bombenkriegsopfer betont. Auch dies ist nicht untypisch für die Entstehungszeit der Filme zu Anfang der 1980er Jahre und 25 Jahre später.
Bei einem zweiten Beispiel, das ich Ihnen vorstellen möchte, ist die Wiederverwendung historischer Filmbilder problematischer. Im Jahre 1948/49 dreht der Dokumentarfilmer Rudolf W. Kipp im Auftrag der britischen Militärregierung einen Dokumentarfilm über Flüchtlinge in der britischen Zone. Unter dem Titel REPORT ON THE REFUGEE SITUATION JAN. 1949 wird der 35minütige Film im selben Jahr fertig gestellt und kommt unter dem Titel ASYLRECHT 1950 auch in deutsche Kinos. Zum Inhalt:
Am Anfang des Films sieht man Menschen beim Überqueren der Grenze von der SBZ in die britische Zone, anschließend eine Scheune, die den Flüchtlingen als Schlafplatz dient. Im Folgenden werden Alltagsszenen aus verschiedenen Flüchtlingsunterkünften in Niedersachsen und Schleswig-Holstein gezeigt: Schloss Eutin, ein Bunker in Braunschweig, das Aufnahmelager Ehndorf bei Neumünster, das Durchgangslager Uelzen. Es folgen Bilder von zurückkehrenden Kriegsgefangenen und Grenzübergängen zwischen den Zonen: Überquerung der „grünen“ Grenze, Sicherung der Grenze durch Ost- und Westzonenpolizei, ein ankommender Autobus mit Flüchtlingen. Dann ist zu sehen, wie die Flüchtlinge in die Lager der Länder Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen gebracht werden. Im niedersächsischen Lager in Uelzen werden die Neuankömmlinge bei der Essensausgabe und bei der ärztlichen Untersuchung gezeigt. Anschließend wird die Einzelfallprüfung im Lager Uelzen an zahlreichen Beispielen aufgenommener und abgelehnter Flüchtlinge dokumentiert. Es ist zu sehen, wie die betreffenden Personen vor den zuständigen Beamten treten und dieser anhand ihrer Papiere eine Entscheidung fällt. Dabei werden große Härten deutlich, etwa wenn eine hochschwangere Frau ebenso abgewiesen wird wie eine Familie mit sieben Kindern. Am Schluss zeigt der Film das Schicksal der abgewiesenen Flüchtlinge: Sie haben die Möglichkeit, in die russische Zone zurückzukehren oder illegal in der britischen Zone zu bleiben.
Die Produktionsgeschichte dieses Films ist einigermaßen gut bekannt und von mir an anderer Stelle dargestellt worden, basierend auf Dokumenten, die sich im Nachlass von Herrn Kipp finden.[5]Verkürzt lässt sich sagen, dass Rudolf W. Kipp – tief beeindruckt vom Schicksal und Zustand der Flüchtlinge – im Laufe der Produktion des Films einen eigenen beobachtenden Stil entwickelte. Statt einen ursprünglich geplanten optimistischen Ausblick im Zusammenhang der britischen Re-orientation-Politik zu geben, bemüht sich der Film um ein tiefes Verständnis für die Not der Flüchtlinge, zeigt deren hilfloses Umherwandern, das partielle Abgewiesenwerden und erlöst den Zuschauer nicht aus einer beunruhigenden Situation. Die einzelnen Filmaufnahmen sind sehr zeitnah in den Film eingeflossen und nur als solche – also nicht als Vorschnitt-Material – erhalten. Daher hat die erste Fassung des Films den Charakter einer Primärquelle.
ASYLRECHT, der heute als ein Klassiker des Dokumentarfils gilt, wurde bereits kurz nach seiner Erstaufführung international beachtet und gewürdigt, vor allem in Großbritannien und in den USA. Allerdings wollte die große Mehrheit des deutschen Filmpublikums ASYLRECHT nicht sehen. Im gleichen Jahr, in dem mit SCHWARZWALDMÄDEL und GRÜN IST DIE HEIDE äußerst erfolgreiche Heimatfilme entstanden, die ein ganz anderes Flüchtlingsbild entwarfen, hieß es im Evangelischen Filmbeobachter zu ASYLRECHT: „Kein Kino will ihn spielen, kein Publikum sehen“. Einer der bedeutendsten deutschen Dokumentarfilme der frühen Nachkriegszeit verschwindet für lange Zeit aus der deutschen Öffentlichkeit.
Ende der 1950er Jahre, als der Wiederaufbau sich dem Ende zuneigt und die Integration der Flüchtlinge aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten in die bundesrepublikanische Gesellschaft weitgehend abgeschlossen ist, stellt das Münchner Institut für Film und Bild (FWU) – zuständig für die Produktion von Unterrichtsfilmen – einen Film her, der aus dem Bildmaterial von ASYLRECHT zusammengeschnitten ist. Für diesen neunminütigen Film mit dem Titel FLÜCHTLINGSNOT AN DER ZONENGRENZE 1948 benutzt das FWU nur ¼ des ursprünglichen Bildmaterials und montiert die Szenenfolgen um. Es fällt auf, dass neben Kürzungen und Umstellungen etwas vollständig fehlt: die in ASYLRECHT gezeigte Kooperation von Ost- und Westzonenpolizei sowie ein Hinweis darauf, dass ein Teil der Flüchtlinge nicht aufgenommen, sondern in die damalige Ostzone zurückgeschickt wurde. Der Film endet mit Bildern, die Flüchtlinge bei verschiedenen Tätigkeiten, z.B. beim Kochen im Auffanglager zeigen. Dieser Film wird 1959 als stumme Fassung hergestellt, was auch daran gelegen haben mag, dass die damaligen Schulen in der Regel noch mit Stummfilmprojektoren ausgerüstet waren. Zur Erläuterung ist dem Filmstreifen ein Beiblatt hinzugefügt, das den fehlenden Ton ersetzt. Dort heißt es:
„Bei Nacht und über unwegsames Gelände kommen die Flüchtenden über die Grenze. Diese Vorsicht ist geboten, denn die kommunistisch geleitete sog. Volkspolizei der SBZ hat den Auftrag, die Zone abzuriegeln. Pausenlos patroullieren die Doppelposten entlang der Zonengrenze, die durch Schilder, abmontierte Eisenbahnschienen, Straßensperren, Waldschneisen und Brachstreifen systematisch zum Eisernen Vorhang ausgebaut wurde“. So beginnt das „Erläuterungsblatt“. Offenbar um den Kontrast zu den Filmbildern nicht allzu groß erscheinen zu lassen, wird dann eingeschränkt: „Die Absperrung war allerdings in den ersten Nachkriegsjahren noch nicht so streng.“ An einer einzigen Stelle wird in dem zwei Seiten umfassenden Papier angedeutet, dass nicht alle Flüchtlinge in gleicher Weise aufgenommen wurden: auf den Beamten Bezug nehmend, der die Einzelfallprüfung leitet, heißt es: „ …fällt er seinen Spruch: aufgenommen oder abgelehnt.“ Im Zusammenhang der Filmbilder muss man allerdings annehmen, dass diejenigen, die „abgelehnt“ wurden, lediglich keine Wohnungszuweisungen erhielten, sondern in den Notlagern (Schlösser, Bunker, Lager) verblieben.
Hier ist in der Verwertungskette der historischen Filmbilder eine Bedeutungsverschiebung erfolgt. Diese filmische Bearbeitung der Flüchtlingsproblematik im Nachkriegsdeutschland erweist sich als eine retrospektive Sicht Ende der 1950er Jahre, die unverkennbar im Zeichen des Kalten Krieges mit den bekannten Feindbild-Stigmatisierungen steht. Im Vordergrund steht nicht nur die Flüchtlingsnot an sich, wie der Titel annehmen lässt, sondern diese ist vor allem Anlass, um einen Schuld zuweisenden Blick auf die deutsch-deutsche Grenze zu werfen. Fast überflüssig zu sagen, dass sich in dem Film kein Verweis darauf findet, wo das Filmmaterial eigentlich herkommt. Klassifiziert werden kann der Film als Sekundärquelle mit geringem bzw. problematischem Traditionswert. Dafür gewinnt er insofern an Überrestwert (dafür ist er eine Primärquelle!), als er uns heute – unbeabsichtigt – etwas über die Kalte-Kriegs-Rhetorik der späten 1950er Jahre mitteilt. Dies wird unter Einbeziehung des Kommentars vor allem im Vergleich mit der Ursprungsfassung deutlich.
Die neunminütige Stummfilmfassung blieb allerdings auch damals nicht unwidersprochen. Noch im Herstellungsjahr meldeten sich Kenner des Film-Originals beim FWU und zeigten sich „verwundert, dass die Neufassung ‚bei einem Kochtopf endet‘, während Kipps Film ja mit der Szenenfolge unruhvollen Wanderns der Flüchtlinge und des Wartens an der Autobahn endet.“[6] So wurde noch im Jahre 1960 eine weitere Fassung eines Unterrichtsfilms zur Flüchtlingsthematik in der Nachkriegszeit in Angriff genommen, die – so die treibende Intention – der Ursprungsfassung näher kommen sollte. Angestrebt wurde eine vertonte Fassung mit ca. 20 Minuten Länge. Rudolf W. Kipp, der Verfasser des Ursprungsfilms, erklärte sich bereit, ein Schnittkonzept sowie einen Kommentar herzustellen. „Bei der Bearbeitung der vorliegenden Fassung bemühte ich mich – trotz der Auflage, den (Ursprungs-)Film um 50% zu kürzen – den ursprünglichen Stil und damit die indirekte Aussage zu wahren. Es blieb auch hier der Verzicht auf rein filmische Wirkungsmittel, wie rasanten Schnitt, optische Blenden, nachträgliche Geräuschvertonung …Gewahrt blieb auch die vielleicht übermäßige Sachlichkeit, die jedoch den Dokumentarfilm zu einem Zeitdokument werden lassen kann …“ [7]
Dieser 20minütige Film erhielt ebenso wie sein neunminütiger Vorläufer den Titel FLÜCHTLINGSNOT AN DER ZONENGRENZE 1948. Insgesamt entspricht diese längere Fassung im Bildmaterial, in der Szenen-Reihenfolge, im Kommentar und in der Gesamtaussage sehr weitgehend dem Ursprungsfilm ASYLRECHT. Sucht man hier nach zeittypischen Veränderungen und Kürzungen, so fällt auf, dass einige Szenen im Sinne einer vorsichtigen „moralischen Säuberung“ geschnitten wurden: es fehlen Bilder, in denen eine ältere, stark abgemagerte Frau mit bloßem Oberkörper gezeigt wird; in der Einzelfallprüfung fehlt u.a. die hochschwangere Frau und bei einer anderen Frau fehlt der Hinweis, dass ihr Mann inzwischen mit einer anderen zusammenlebt.
Eine Quellenkritik führt letztlich zu dem Ergebnis, dass auch dieser Film aus dem Jahre 1960 keine Primärquelle ist, allerdings gewinnt er gegenüber seinem neunminütigen Vorgänger an Wert als Traditionsquelle. In der Art der Gestaltung, der Auswahl bzw. des Weglassens bestimmter Motive hat er zudem einen Überrestwert, der allerdings gegenüber dem bewussten Bericht als weniger bedeutend erscheint und auch nur in Kenntnis des Vergleichs und des Produktionshintergrundes erkannt werden kann. Wir haben also letztlich drei unterschiedliche Dokumentarfilme, die auf das gleiche Filmmaterial zurückgehen, aus diesem aber in unterschiedlicher Weise auswählen, das Material organisieren und kommentieren. Daraus ergibt sich ein jeweils unterschiedlicher Quellenwert. Alle drei Filme standen und stehen in einigen Stadt- und Kreisbildstellen bzw. Medienzentren noch heute für die historische Bildungsarbeit zur Verfügung und bei keinem der Filme finden sich meines Wissens Begleitmaterialien, die die jeweilige Entstehungsgeschichte reflektieren und in einen historischen Kontext einordnen.
Im Sinne eines Zwischenfazits lässt sich festhalten, dass es ohne Frage sehr eindrucksvolle Dokumentar-Filmbilder gibt, die für historische Bildungsprozesse gut geeignet erscheinen. Aber oft weiß man nicht, woher sie ursprünglich stammen, wie zuverlässig und treffend sie über das berichten, wofür sie benutzt wurden. Skepsis gegenüber den Filmbildern, dass sie ein Abbild der historischen Realität liefern, ist nicht nur angebracht, sondern unbedingt notwendig. Das Medium Film suggeriert ja wie kein anderes Medium unmittelbare (historische) Realität. Darin liegt natürlich auch ein Großteil der Faszination dieses Mediums. Aber auch dokumentarische Filmbilder sind immer aus einer bestimmten Perspektive (Motivauswahl, Kamerastandpunkt, -ausschnitt, -bewegung usw.) gemacht und dann später, oft immer wieder neu, zu einem Zusammenhang – hier dem Dokumentarfilm oder der Dokumentation -montiert worden. Dieses gestaltende Moment muss immer vorausgesetzt und möglichst genau bestimmt werden. Dafür ist natürlich Kontextwissen nötig. Und damit sind nicht nur allgemeine Kenntnisse über die zeithistorischen Zusammenhänge gemeint, sondern wenn möglich auch Kenntnisse über den genauen Entstehungskontext der Filme (Auftraggeber, Filmemacher und ihre Intention usw.), um die bewegten Bilder und ihren Quellenwert richtig einschätzen zu können. Außerdem sind Kenntnisse über filmgestalterische Mittel (Kamerapositionen und -bewegungen, Schnitt und Montage) und ihre impliziten Wirkungen unerlässlich. Dieses quellenkritische Hinterfragen ist notwendig, allerdings oft mühevoll und schwierig. Mitunter kann man trotz intensiver Suche fast nichts über den Entstehungskontext eines Films heraus bekommen, manchmal fehlen gar zentrale formale Angaben wie Titel, Verfasser und Jahr. Aber dennoch bleibt die große Kraft und Faszination der Filmbilder. Sie führen mitten hinein in eine historische Welt in der Art und Weise, die in Vielem unserer gegenwärtigen Wahrnehmung von Realität entspricht. Daher wäre es schade, auf ihre Nutzung als historische Quellen zu verzichten – immer eingedenk des Vorbehalts, dass sie nicht zeigen „wie es wirklich gewesen ist“, sondern eben nur einen Ausschnitt aus einer bestimmten Perspektive. Aber immerhin!
An einem weiteren Beispielkomplex möchte ich dieses „Ineins-Sein“ von Abbild einerseits und Gestaltung / subjektivem Blick andererseits sowie von Tradition und Überrestwert in dokumentarischen Filmen verdeutlichen. Es handelt sich um die Wiederaufbaufilme, die in der Stadt Hannover ab 1949 als Jahresberichte gedreht wurden und 1960 einen zusammenfassenden Abschluss fanden. Die Filme wurden zunächst stumm auf 16mm-Material gedreht, ab 1957 waren es Tonfilme.[8] Alle waren Auftragsarbeiten der Stadtverwaltung, genauer gesagt des Presseamtes der Stadt Hannover, gedacht überwiegend als Rechenschaftsberichte für die Bewohner der Stadt, um die geleistete Wiederaufbauarbeit zu demonstrieren. Die Zielgruppe waren Hannoveraner, also quasi Kenner der Materie. Die Filme mussten diesen gegenüber eine gewisse Glaubwürdigkeit besitzen, sonst hätten sie ihren Zweck sicherlich verfehlt. Andererseits muss man einen werbenden Blick in Rechnung stellen, denn die geleistete Wiederaufbauarbeit sollte natürlich in einem günstigen Licht erscheinen. Gezeigt wurden die Filme in öffentlichen Gebäuden der Stadt, u.a. in Schulen, später auch in Freizeitheimen und im Rathaus. Nach Abschluss des Wiederaufbaus gerieten die Filme mehr und mehr in Vergessenheit, bis sie vor einigen Jahren als historische Filmdokumente wiederentdeckt wurden.[9]Ein interessanter Film ist in diesem Zusammenhang ALLE MACHEN MIT (Heinz Koberg, 1960), der den Wiederaufbau resümierend darstellt. Der Film zeigt wieder- und neu aufgebaute Schulen, Krankenhäuser, Wohngebiete, Verkehrswege, Sportstätten und Kultureinrichtungen. In der Art und Weise, wie ALLE MACHEN MIT den Wiederaufbau ins Bild setzt und kommentiert, ist der Film allerdings mehr als eine Traditionsquelle für die geleistete Wiederaufbauarbeit nach 1945 in Hannover. Hier offenbart sich unbeabsichtigt ein Blick in die bundesdeutsche Gesellschaft um 1960. Dominierend ist ein Tenor des „Wir haben es geschafft, wir sind wieder wer“. Man blickt sehr selbstbewusst auf den geleisteten Wiederaufbau. Typisch sind Vorher-Nachher-Gegenüberstellungen, die den Charakter einer Leistungsschau gut unterstützen. Der Tenor des Kommentars und die Musik sind locker und beschwingt, der Sprechertext mitunter auch etwas launig.
„Heute überall neue Schulen (…) Wenn wir solche Schulen gehabt hätten, sagen die Älteren und Alten, ja wenn, wer weiß, vielleicht hätte es dann manche Hausfrau – nichts für ungut meine Damen – leichter gehabt mit dem Kochen. Die Mädchen der Gerhardt-Hauptmann-Schule lernen es schon in ihrer Lehrküche. (…) Abwaschen muss auch sein, eine gute Übung fürs Leben.“ Dazu sehen wir adrette „kleine Fräuleins“ mit Kopftüchern beim Kochen, Putzen und Aufräumen in der Schulküche. Im Chemieunterricht an der Mädchenschule geht es um Wasserstoff-Superoxyd – „etwa zum Erblonden?“ Im Englischunterricht „wird Shopping gelernt – Einkaufen – das muss eine Frau können!“
Hier zeigt der Film sehr anschaulich zeitgenössische Einstellungen und Denkmuster und dafür hat er einen Wert als Überrestquelle. Dazu gehört auch der im Film vermittelte Blick zurück in die jüngere Geschichte. Auffällig ist, dass dieser Blick in keinem der zahlreichen Wiederaufbaufilme der Stadt Hannover weiter zurückreicht als bis 1945 bzw. zu den Bombenangriffen von 1943. Es ist ein Blick zurück, der die erlittenen Zerstörungen zum Ausgangspunkt nimmt und die Hannoveraner als Opfer erscheinen lässt. Niemals wird der Nationalsozialismus und der von Deutschland ausgegangene Angriffskrieg in den Rückblick mit einbezogen. Der Blick bleibt auf die Opferperspektive beschränkt. Auch hierfür sind der Film ALLE MACHEN MIT und die anderen Wiederaufbaufilme der Stadt historische Quellen. Ich möchte dies an einem kurzen Ausschnitt aus einem weiteren Film – HANNOVER 1958 – verdeutlichen, in dem eine solche Rückschau sehr konzentriert erfolgt.
Zu Fotografien, die die Zerstörung und die Nachkriegsnot der Hannoveraner zeigen, heißt es, untermalt von Trauermusik: „Was zeigen uns die Fotos: Alles verloren, so hausten die Menschen damals. Die Kindern spielten auch in den Trümmern, sie spielten das Leben, das gestorben zu sein schien. Am Bahnhof blühte der Schwarze Markt, nach Allem standen die Menschen Schlange (…) Von 1946 an strömten die Flüchtlinge zu vielen Tausenden in die zerstörte Stadt.“ Es folgt ein Wechsel von der Trauermusik zu optimistisch-aufbauender Musikuntermalung, dazu Bilder von Neubauten. Der Kommentar: „Aber der zähe Lebenswillen der Menschen siegte. Aus den Trümmern bauten sie eine neue Stadt. (…) haben sich die Einwohner Hannovers eine neue Heimat geschaffen.“
An den genannten Beispielen wird die Bedeutung, aber auch die Problematik ersichtlich, die mit Dokumentarfilmen als historischen Quellen verbunden ist. Diese Filme geben einen oft faszinierenden Einblick in eine vergangene Zeit, auf eine Weise, wie sie in anderen medialen Darstellungsformen so nicht wieder lebendig wird. Und das auf dem belichteten Filmstreifen festgehaltene Geschehen hat sich ja auch tatsächlich vor der Filmkamera abgespielt. Aber es ist doch unter vielen anderen Motiven und Ereignissen ausgewählt und dann auf eine bestimmte Weise mit der Kamera aufgenommen und dadurch gestaltet worden. Durch den Schnitt ist es in einen Zusammenhang gestellt und gemeinsam mit dem Kommentar und einer Hintergrundmusik zu einem Gesamtbild verarbeitet worden. Wenngleich von der vorfilmischen Realität natürlich immer etwas durchscheint, so finden sich doch viele Gestaltungsebenen auch in Dokumentarfilmen bzw. dokumentarischem Filmmaterial. Das in diesen Filmen vermittelte Bild kann man daher niemals als ein Abbild 1:1 für die historische Realität nehmen. Da man den Gestaltungsanteil aber nicht herausrechnen kann, muss man diesen – wenn man auf Filme als historische Quellen nicht verzichten will – so weit möglich kenntlich machen und in die Nutzung und Interpretation der Filmbilder einbeziehen. Dabei kann der Gestaltungsanteil unter Umständen den Hauptwert im Sinne einer Überrestquelle ausmachen. Als solche Überrestquellen sind Dokumentarfilme dann besonders ergiebig, wenn sich in ihnen menschliches Handeln, Gedanken, Gefühle und Sichtweisen spiegeln, die uns heute fremd geworden sind. Dafür bedarf es in der Regel eines größeren zeitlichen Abstandes zur Entstehungszeit der Filme – zumindest mehrere Jahrzehnte. Die Kombination von Filmbild und Kommentar lässt solche Sichtweisen deutlicher hervortreten, als dies in Stummfilmen der Fall ist. Aus der Erkenntnis, dass das in Dokumentarfilmen dargestellte Bild der Vergangenheit von Intentionen, Interessen, zeitgenössischen Sichtweisen und Mentalitäten geprägt ist, ergibt sich die Forderung, soweit möglich den Entstehungshintergrund zu recherchieren und die filmischen Dokumente bzw. Dokumentarfilme zu kontextualisieren. Zur Einschätzung der filmischen Aussage müssen andere Quellen gegengelesen werden. Auch ein Vergleich mehrerer Dokumentarfilme aus einer Zeit oder zu einer ähnlichen Thematik (etwa Gemeinsamkeiten im historischen Querschnitt oder Differenzen im Längsschnitt) kann helfen, um zeittypische Darstellungsaspekte zu erkennen.
Wenn man dies alles tut, wird es nicht selten so sein, dass man merkt, dass Filme einseitig oder parteilich sind, dass wichtige Tatsachen weggelassen werden, kurz gesagt, dass das gezeigte Bild so eigentlich nicht oder nicht ganz „stimmt“. An dieser Stelle darf man keiner falschen Erwartungshaltung aufsitzen: Natürlich zeigen die historischen Dokumentarfilme kein ausgewogenes Bild nach den neuesten Kenntnissen der Forschung. Sie sind eben Quellen ihrer Zeit mitsamt der Sichtweisen, Intentionen etc. und sind als solche ernst zu nehmen. Für viele historische Dokumentarfilme gilt, dass sie eine Quelle sind weniger für die thematisierten Ereignisse als für die Art und Weise der Thematisierung. Dies gilt in sehr deutlicher Weise z.B. für die NS-Wochenschauen, aber auch für zahlreiche Dokumentarfilme aus der Zeit des Kalten Krieges. Der Hauptquellenwert kann dann z.B. in der Überlieferung der Propagandasituation liegen.
Wenn es bezogen auf unsere Thematik die Aufgabe der historischen Forschung ist, die Filmdokumente und Dokumentarfilme zu bewerten und dies ohne Kontextmaterial zur Entstehung der Filme kaum möglich ist, so verbindet sich dies natürlich mit der Forderung an die Archive, entsprechende Kontextmaterialien zu archivieren! Die Aufbewahrung, Sicherung und Dokumentation sogenannter filmbegleitender Materialien, Entstehungsunterlagen wie Aufträge, Treatments, Schriftwechsel, Zensurkarten, aber auch Briefe und persönliche Notizen, wie sie in Nachlässen vorkommen, sind hier von Bedeutung.
Und natürlich die Filme selbst! In den letzten Jahren sind in vielen kommunalen Archiven alte Filme gefunden bzw. neu beachtet worden, z.B. solche, die im Zusammenhang der jeweiligen Stadtgeschichte entstanden sind. Einige dieser Filme sind auch auf DVD herausgegeben worden.
[10] Nun sind allerdings die wenigsten kommunalen Archive und deren Mitarbeiter dafür ausgerüstet bzw. ausgebildet, um historische Filmdokumente zu sichern, zu archivieren, nutzbar zu machen und zu präsentieren. Hier muss der fachliche Rat Dritter eingeholt werden und neben den regionalen Medienzentren wird im Zweifelsfall das Bundesarchiv-Filmarchiv der wichtigste Ansprechpartner sein.
Unter diesen Voraussetzungen könnten viele quellenkritische Filmeditionen entstehen, die in doppelter Weise den historischen Bildungsprozess fördern: zum einen, indem sie dazu beitragen, einen bedeutenden Teil des historisch-kulturellen Erbes – hier des bewegten Bildes – zu bewahren und nutzbar zu machen. Und zum anderen, in dem sie Geschichtsbewusstsein dadurch fördern, dass sie den Abbild-Eindruck des „so ist es wirklich gewesen“ relativieren, indem sie die Darstellung quellenkritisch kommentieren. Dies setzt eine Editionspraxis voraus, die die überlieferten Filmmaterialien als von ihrer Entstehungszeit geprägte Dokumente behandelt. Für die Präsentation heißt das, dass – neben einer Kommentierung der in den Filmen gezeigten Ereignisse (z.B. in einer Begleitpublikation, einem Booklet) – wenn möglich die Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte, die Arbeitsschritte und Bearbeitungsstufen auch der Neuherausgabe dokumentiert und dargestellt werden. Dagegen ist es aus historischer Sicht eher unergiebig, die „Highlights“ aus verschiedenen Filmen neu zusammenzustellen, um ein vermeintlich anschauliches und spannendes Bild der Vergangenheit zu liefern.
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[1] Der vorliegende Text ist die überarbeitete Fassung des gleichnamigen Vortrages, den der Verfasser (Peter Stettner) auf dem 60. Westfälischen Archivtag im März 2008 in Iserlohn gehalten hat. Im Rahmen dieses Vortrages wurden von mir verschiedene Filmausschnitte gezeigt, deren Wiedergabe hier aus technischen bzw. rechtlichen Gründen nicht möglich ist. An Stelle dieser Filmausschnitte stehen entsprechende Beschreibungen (im Text kursiv).
[2] In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, dass dasjenige Institut in der Bundesrepublik, das sich mit der Bearbeitung und Edition historischer Dokumentarfilme einen Namen gemacht hat – die IWF Wissen und Medien GMBH, früher das IWF in Göttingen – nun geschlossen werden wird.
[3] Zur Rezeption des Mediums Film in der Geschichtswissenschaft vergleiche: Rudolf Aurich: Film in der Geschichtswissenschaft. Ein kommentierter Literaturüberblick. In: Geschichtswerkstatt, Heft 17: Film – Geschichte – Wirklichkeit, Hamburg 1989, S. 54-63. Zu den wenigen deutschen HistorikerInnen, die sich in den letzten zwei Jahrzehnten geschichtstheoretisch und -didaktisch mit dem Medium Film beschäftigt haben, gehört Irmgard Wilharm. Vgl. Irmgard Wilharm: Bewegte Spuren. Studien zur Zeitgeschichte im Film, Hannover 2006.
[4] Imperial War Museum, Bomb Damage Record, CBS 59
[5] Flüchtlingsbilder im Dokumentarfilm: Geschichte und Geschichten 1948-1960. In: Irmgard Wilharm (Hg.): Geschichte in Bildern – von der Miniatur bis zum Film als historische Quelle, Pfaffenweiler 1995, S. 129-155.
[6] Schreiben an das FWU v. 24.03.1959, Kipp 075. Nachlass Rudolf W. Kipp im Filminstitut Hannover.
[7] Text von R.W. Kipp, undatiert, in Kipp 075, a.a.O.
[8] Vergleiche hierzu ausführlicher: Peter Stettner: „Auf dem steinigen Weg zum Erfolg“. Der Wiederaufbau in den 50er Jahren im Spiegel der zeitgenössischen Informationsfilme der Stadt Hannover. In: Adelheid von Saldern (Hg.): Bauen und Wohnen in Niedersachsen während der fünfziger Jahre. Hannover 1999, S. 215-222.
[9] Nun werden die oft verschlissenen Vorführkopien – die Negative existieren meist nicht mehr – mühselig bearbeitet, oft rekonstruiert und neu gesichert. In diesem Zusammenhang leite ich seit 2004 das Projekt „Sicherung, Nutzbarmachung und Präsentation historischer Hannover-Filme“.
[10] Zu nennen sind hier u.a. das Stadtarchiv Mannheim, das LWV-Medienzentrum Westfalen (Münster) und die Ges. f. Filmstudien e.V. in Hannover.