Shoah (F 1974-1985)

Inhalt

Der neuneinhalbstündige Film „Shoah“ berichtet unter völligem Verzicht auf Archiv-Material von der Vernichtung der europäischen Juden. In langen Interviewsequenzen befragt Claude Lanzmann Überlebende, Zeugen und Täter, während seine Kamera die Orte der Vernichtung aufsucht und Gedenkstätten oder die Spuren zeigt, die die Lager in der Landschaft hinterlassen haben. Eine Off-Kommentierung gibt es nicht. Spärlich eingesetzt werden Erläuterungen per Texttafel. „Shoah“ entstand aus 350 Stunden Filmmaterial, das Lanzmann im Zeitraum von 1974 und 1985 während seiner Reisen durch Europa vor allem in Polen gesammelt hat.


Shoah (Frankreich 1974 – 1985)
Original-Titel: „Shoah“
Regie: Claude Lanzmann
Kamera: Dominique Chapuis, Jimmy Glasberg und William Lubtchansky
Schnitt: Ziva Postec und Anna Ruiz
Lanzmanns Interview-Partner:
Simon Srebnik
Mordechai Podchlebnik
Motke Zaidl
Hanna Zaidl
Jan Piwonski
Itzhak Dugin
Raul Hilberg
Filip Müller
Jacob Schulmann
Martha Michelson
Franz Schalling
u.a.

Laufzeit: ca. 566 Minuten.

Grundlage des folgenden Sequenzprotokolls stellte die 4-Kassetten-Ausgabe des Films dar. Lanzmann selbst teilt „Shoah“ in einen ersten und einen zweiten Film: In dieser Unterteilung wurde der Film auch im Fernsehen ausgestrahlt. Sie wurde in der 4-Kassetten-Version zwischen der zweiten und der dritten Kassette beibehalten. Die Trennungen zwischen der ersten und der zweiten bzw. der dritten und vierten Kassette fallen dagegen relativ willkürlich aus.


Kassette 1

Nr.

Inhalt

Länge

Zeit

01.

Vorbemerkung, Danksagung, Titeleinblendung und Vorspann.
Eine Texttafel erläutert die Vergasungen in Chelmno und gibt Informationen zu dem Überlebenden Simon Srebnik.
Simon Srebnik in einem Boot, das die Ner hinauffährt. Simon singt ein polnisches Lied. Gang zum Vernichtungslager Sobibor. Anschließend erneute Bootsfahrt, Simon singt „Wenn die Soldaten durch die Stadt marschieren“. Der Bootsführer kommentiert.

12.27

0.00 – 12.27

02.

Gespräch mit Mordechai Podchlebnik.
Gespräch mit Hanna Zaidl, Tochter von Motke Zaidl, die von den Schwierigkeiten berichtet, die Lebensgeschichte ihres Vaters zu erfahren.
Motke Zaidl erzählt im Wald von Ben Shemen in Israel von den Leichenverbrennungen in Sobibor.
Wald von Sobibor: Jan Piwonski berichtet von den Menschenjagden, die dort stattfanden.
Mordechai Podchlebnik beschreibt das Ausladen von Leichen aus den Gaswagen und die Beschaffenheit der Massengräber.
Ytzhak Dugin über die Exhumierung und Verbrennung von Leichen.
Kamerafahrt über das Gelände von Sobibor. Dugin und Motke Zaidl über die Exhumierungsarbeit mit bloßen Händen.
Richard Glazar in Basel über nächtliche Leichenverbrennungen in Treblinka.
Fortsetzung Gespräch mit Zaidl.
Fortsetzung Gespräch mit Srebnik. Kamerafahrt über den Fluss bei Sonnenuntergang.

23.15

12.27 – 35.43

03.

Gespräch mit der Auschwitz-Überlebenden Paula Biren.
Der verwilderte Friedhof von Lodz wird gezeigt.
Szenenwechsel: Auschwitz. Gespräch mit einer nicht genannten Einwohnerin über die Geschichte der Juden in Auschwitz. Der jüdische Friedhof in Auschwitz ist zu sehen.
Gespräch mit einem älteren Bewohner von Wlodawa vor der Kirche: Pan Filipowicz. Die verfallene Synagoge von Wlodawa wird gezeigt. Anschließend Autofahrt durch die Stadt: Filipowicz zeigt, welche Häuser einmal Juden gehörten.

10.28

35.43 – 46.11

04.

Kolo: Gespräch mit Pan Falborski über die Deportation von Juden aus Kolo nach Chelmno.
Der Bahnhof von Kolo ist zu sehen.
Zugfahrt mit Henrik Gawkowski bis zum Ortsschild Treblinka.
Gespräch mit Abraham Bomba in Tel Aviv, er beschreibt seine Deportation.
Eine Dampflok fährt nach Treblinka ein.

6.49

46.11– 53.00

05.

Gespräch mit dem Bauern Czeslaw Borowi in Treblinka, dem ein Feld in der Nähe des ehemaligen Lagers gehört.
Andere Bauern schalten sich ein.
Gespräch am Bahnhof mit Männern, die den Juden in den Waggons Wasser gegeben haben wollen.
Das winterliche Treblinka ist zu sehen. Gespräch über die Lebensbedingungen der Juden im Sommer und im Winter.
Ein Dorfbewohner beschreibt Erschießungen auf dem Bahnsteig.
Fortsetzung Gespräch mit Czeslaw Borowi.

14.30

53.00 – 1.07.30

06.

Blick vom fahrenden Zug.
Bomba beschreibt die Freude der Polen über die Judendeportationen.
Gespräch mit Zugführer Gawkowski.
Fortsetzung Bericht Bomba.
Bericht Glazar, der im Personenwaggon deportiert wurde.
Bericht der Bauern über die Ankunft von Zügen in Treblinka und ihre Versuche, nicht-polnische Juden zu warnen.
Gawkowski zeigt den Weg ins ehemalige Lager, der an der Rampe endet.

17.55

1.07.30 – 1.25.25

07.

Zug fährt im Bahnhof Sobibor ein. Der ehemalige Hilfsweichensteller Jan Piwonski zeigt, wo sich das Lagergelände befand.

6.31

1.25.25 – 1.31.56

08.

Der Auschwitz-Überlebende Rudolf Vrba in New York beschreibt den Verlauf der Zugankünfte in Auschwitz. Die Kamera zeigt das Tor von Auschwitz aus der Ferne und nähert sich diesem langsam über die Gleise.
Bomba und Glazar beschreiben ihre Erfahrungen aus Treblinka bzw. Sobibor: die Ereignisse auf der Rampe, die Selektionsprozesse, die Verbringung in die Baracken und die Selbstmorde unter den Neuankömmlingen.
Die Rampe wird gezeigt, außerdem Haufen beschrifteter Koffer.

22.34

1.31.56 – 1.53.30

09.

Altes Paar tanzt in Kneipe zu modernem Schlager.
Fahrt durch das nächtliche Berlin. Inge Deutschkron berichtet über die Verfolgung der Berliner Juden und die deutsche Schutzbehauptung der Ahnungslosigkeit.

5.41

1.53.30 – 1.59.11

10.

Der Funkwagen von Lanzmanns Team ist zu sehen.
Heimlich gefilmtes Gespräch mit dem ehemaligen SS-Unterscharführer Franz Suchomel über dessen Tätigkeit in Treblinka.

14.49

1.59.11– 2.14.00

11.

„Schwarze Wand“ in Block 11 in Auschwitz. Kamerafahrt durch das Lager.
Gespräch mit Filip Müller, ehemals Mitglied des „Sonderkommandos“ in Auschwitz, beschreibt seine Arbeit als Leichenverbrenner im Krematorium. Das Krematorium ist von innen zu sehen.
Das Lager Treblinka ist zu sehen. Schlusstafel.

17.22

2.14.00 – 2.27.18


Kassette 2

Nr.

Inhalt

Länge

Zeit

01.

Titeleinblendung.
Fortsetzung Gespräch mit SS-Unterscharführer Franz Suchomel über die Einrichtung von Gaskammern in Treblinka.

4.31

0.00 – 4.31

02.

Szene im Franziskaner Poststüberl in München: Der Wirt verweigert das Interview.
Anton Spieß, Staatsanwalt im Treblinka-Prozess, über die Hintergründe der Stilllegung und Neuorganisation des Lagers.

7.47

4.31 – 12.18

03.

Ein Zug fährt ins winterliche Sobibor ein.
Fortsetzung Gespräch Piwonski.

6.34

12.18 – 18.52

04.

Zelle 13 im Block 11 von Auschwitz. Bilder vom Krematorium. Filip Müller berichtet Szenen, die sich vor der Vergasung abgespielt haben.

7.30

18.52 – 26.22

05.

Der Historiker Raul Hilberg über die „Erfindung der Endlösung“, die er in einen historischen Kontext stellt.

8.20

26.22 – 34.42

06.

Fahrt des Funkwagens. Heimlich mitgeschnittenes Gespräch mit dem ehemaligen SS-Angehörigen Franz Schalling, der im Winter 1942/43 bei Vergasungen mit Gaswagen in Chelmno beteiligt war.

10.48

34.42 – 45.30

07.

Fahrt über die Landstraße nach Chelmno. Mordechai Podchlebnik berichtet von den Vergasungen durch die Gaswagen.
Gespräch mit Martha Michelsohn über die deutschen Familien in Chelmno. Die Kamera zeigt das Dorf vom Kutschbock aus.

11.33

45.30 – 57.03

08.

Lanzmann verliest einen Brief des Rabbis von Grabow von 19. Januar 1942.
Aufnahmen aus Grabow, die ehemalige Synagoge, in der sich jetzt ein Möbellager befindet. Befragung von Einwohnern, die in ehemals jüdischen Häusern wohnen. Ältere Dorfbewohner berichten von der Deportation der Juden von Grabow. Im Gespräch kommen Erinnerung und Vorurteile auf, die Juden werden als Kapitalisten und Ausbeuter der Polen gesehen.

19.02

57.03 – 1.16.05

09.

Gespräch mit Martha Michelsohn über die Arbeitsjuden. Die Bootfahrt Simon Srebnik ist noch einmal zu sehen.
Feierlichkeiten in der Kirche von Chelmno zu Mariä Geburt. Die Dorfbewohner empfangen Srebnik, der im Kreis älterer Dörfler zu sehen ist.
Das Gespräch wird unterbrochen, als die Prozession die Kirche verlässt. Danach schaltet sich der Organist ins Gespräch ein und wirft die Frage auf, ob die Judenvernichtung gottgewollt war. Ein Streitgespräch folgt.

11.18

1.16.05 – 1.37.23

10.

Autofahrt von der Kirche weg. Pan Falborski schildert die Fahrten der Gaswagen und die Massengräber am Straßenrand.
Kamera fährt durch den Wald. Srebnik auf dem ehemaligen Lagergelände. Er berichtet vom Entladen der Gaswagen.

10.51

1.37.23 – 1.48.14

11.

Das Ruhrgebiet. Lanzmann verliest ein Schreiben mit der Kennzeichnung „Geheime Reichssache“ vom Juni 1942, das bauliche Modifikationen der Gaswagen fordert. Ein Lastwagen mit Fahrgestell der Firma Saurer ist zu sehen.
Schlusstafel.

6.36

1.48.14 – 1.54.50


Kassette 3

Nr.

Inhalt

Länge

Zeit

01.

Titeleinblendung.
Gespräch mit Franz Suchomel: Suchomel singt das Treblinka-Lied.
Ein Güterzug fährt über eine Brücke.
Suchomel schildert den Ablauf der Transporte über Malkinia nach Treblinka. Der Bahnhof von Malkinia ist zu sehen, das Ortsschild von Treblinka, Bauerngehöfte. Suchomel schildert die Arbeit der Kommandos Blau und Rot im Lager. Die Gedenkstätte Treblinka heute.

16.30

0.00 – 16.30

02.

In einem Friseursalon in Israel: Abraham Bomba berichtet von seiner Tätigkeit in einem Friseurkommando in Treblinka.

18.11

16.30 – 34.41

03.

Gedenksteine in Treblinka.
Fortsetzung Suchomel: Er beschreibt die Todesangst der Frauen vor der Gaskammer und die Erschießung von Alten, Kranken und Kindern im „Lazarett“.
Richard Glazar über Erschießungen im „Lazarett“.

10.34

34.41 – 45.15

04.

Auschwitz: Rangierbahnhof im Winter.
Rudolf Vrba über das Ausladen von Toten und Sterbenden aus den Waggons. Die alte und die neue Rampe in Auschwitz werden gezeigt.
Kamera erforscht ein Modell der Krematorium II und III im Auschwitz-Museum, kommentiert durch Filip Müller. Bilder vom Stacheldraht und den Ruinen des Krematorium III und V und der Gaskammern. Filip Müller berichtet von Todeskampf in den Gaskammern während der Vergasungen.
Die Kamera fährt um das Lager von Auschwitz. Filip Müller erinnert gescheiterte Versuche, die Neuankömmlinge vor der Vergasung zu warnen.

26.36

45.15 – 1.11.51

05.

Bilder aus Korfu und der Juden in Korfu. Moshe Mordo zeigt seine Häftlingsnummer und ein Anti-Hitler-Faltblatt und schildert das Schicksal seiner Familie. Gesänge in der Synagoge. Armando Aaron, Präsident der jüdischen Gemeinde von Korfu, erinnert sich an die Verhaftungen im Juni 1944 und die Reise nach Auschwitz. Aufnahmen vom fahrenden Zug aus.

15.34

1.11.51 – 1.27.25

06.

Gespräch mit Walter Stier, dem ehemaligen Chef des „Büro 33“ der Reichsbahn. Er schildert den Unterschied zwischen normalen und Sonderzügen, den Sonderzügen für „Umsiedler“ und wird befragt nach seinem Wissen über die Vernichtung der Juden.
Einfahrt eines Zuges nach Treblinka.
Raul Hilberg kommentiert die Fahrplananordnung Nr. 587, die den Zugverkehr von und nach Treblinka veranschaulicht. Hilberg und Lanzmann erörtern die Frage der Bezahlung der Transporte, die als „Ausflugstarife“ von den Deportierten eingefordert wurde.

24.54

1.27.25 – 1.52.19

07.

Ein Zug fährt nach Oswiecim (Auschwitz) ein.
Filip Müller über die Liquidierung des Sonderkommandos.
Franz Suchomel über das Schicksal der Arbeitsjuden in Treblinka.
Richard Glazar über die Aufstandspläne in Treblinka.
Filip Müller über die Aufstandspläne in Auschwitz.
Rudolf Vrba über den Widerstand in Auschwitz, dessen Kern aus deutschen Antifaschisten bestand. Er berichtet, diese hätten eine Verbesserung der Lebensbedingungen im Lager erreicht, dies aber die Zahl der Vergasungen von Neuankömmlingen gesteigert.
Schlusstafel.

27.31

1.52.19 – 2.19.50


Kassette 4

Nr.

Inhalt

Länge

Zeit

01.

Titeleinblendung.
Ruth Elias über ihre Deportation von Theresienstadt ins Familienlager in Auschwitz.
Rudolf Vrba über seine Anwerbeversuche im Familienlager für den Widerstand in Auschwitz.
Filip Müller über die Vorbereitungen zur Vergasung der Menschen im Familienlager.
Der „Aschensee“ wird gezeigt. Fortsetzung Vrba: Abwägungen zum Aufstand im März 1944 und das Scheitern des Plans nach dem Selbstmord des vorgesehenen Anführers.
Fortsetzung Müller über die Vergasung der Menschen im Familienlager und deren Widerstand. Das Auschwitz-Modell wird gezeigt.
Rudolf Vrba schildert seine Entscheidung zum Austritt aus der Widerstandsgruppe und seine Flucht aus Auschwitz im April 1944.

37.50

0.00 – 37.50

02.

Gespräch mit Jan Karski, dem ehemaligen Kurier der polnischen Exilregierung: Er berichtet von seinen Begegnungen mit einem Bund- und einem Zionistenführer in Warschau 1942 und deren Hilfsgesuch an die Alliierten.
Die Freiheitsstatue ist zu sehen, New York, die US-Flagge und das Weiße Haus. Karski zählt die Forderungen der jüdischen Führer auf: 1. die Änderung der alliierten Kriegs-Strategie und die Herstellung einer Öffentlichkeit für die Judenvernichtung; 2. die Bewaffnung der Juden; 3. Unterstützung durch internationale jüdische Führer;
Die Rampe in Auschwitz ist zu sehen, Schuhhaufen, Brillen, Geschirr.
Karski schildert seine zwei Besuche im Warschauer Ghetto. Die Kamera zeigt das winterliche Warschau.

38.26

37.50 – 1.16.16

03.

Gespräch mit Dr. Franz Grassler, dem ehemaligen Assistenten des Komissars Auerswald von Warschau, über seine verdrängten Erinnerungen.
Raul Hilberg in seinem Haus in Vermont über den Judenältesten in Warschau, Adam Czerniakow, und dessen Tagebucheinträge.
Grassler über die Seuchengefahr im Warschauer Ghetto.
Fortsetzung Hilberg.
Fortsetzung Grassler.
Hilberg berichtet nach Czerniakows Tagebuch von den Judendeportationen aus dem Warschauer Ghetto. Die Villa der Wannsee-Konferenzz ist zu sehen, der Judenfriedhof von Warschau und das ehemalige Vernichtungslager Belzec.
Grassler über Czerniakows Selbstmord. Hilberg verliest den letzten Tagebucheintrag vor Czerniakows Selbstmord.Czerniakows Grab wird gezeigt. Grassler diskutiert mit Lanzmann die Frage, ob das Ghetto bereits Vernichtung bedeutete, und streitet die Verantwortung ab.

39.48

1.16.16 – 1.56.04

04.

Winterlandschaft. Gertrude Schneider und ihre Mutter in New York singen ein Lied.
Museum des Kibbuz Cohame Haghettaot (Museum der Ghettokämpfer) in Israel. Zwischentitel über die Geschichte des Warschauer Ghettoaufstandes. Dann Berichte der Überlebenden Simha Rottem und Itzhak Zuckermann. Aufnahmen aus dem heutigen Warschau, das ehemalige Hauptquartier der Widerstandskämpfer, das Denkmal für die Ghettokämpfer und seine Nachbildung in Jerusalem.
Simha Rottem berichtet von seinem Gang ins zerstörte Ghetto nach der Niederschlagung des Aufstandes.

21.55

1.56.04 – 2.17.59

05.

Ein Zug fährt langsam an der Kamera vorbei.
Abspann.

2.57

2.17.59 – 2.20.56

Claude Lanzmann, 1925 in Paris geboren, trat 1943 als Gymnasiast der Résistance in Clermond-Ferrand bei. Nach dem Krieg studierte er in Tübingen und arbeitete 1948/49 als Lektor an der Freien Universität Berlin. Lanzmann gehörte zum Freundeskreis von Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir. An Sartres Zeitschrift `Les temps modernes´ arbeitete er ab 1952 mit und wurde später deren Mitherausgeber. Lanzmann unterzeichnete gegen Ende des Algerienkrieges das „Manifest der 121“ gegen die französischen Kriegsverbrechen. Lanzmanns erster Film `Pourquoi Israel?´ (1973) beschäftigte sich mit der eigenen jüdischen Identität. Mit der Arbeit an `Shoah´ begann Lanzmann ein Jahr später. Material über den Aufstand im Vernichtungslager Sobibor, das in `Shoah´ keine Verwendung fand, verarbeitete Lanzmann 2001 in `Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr´.

1. Sehen und wissen

Frage: Wie ist das Projekt entstanden?

Lanzmann: Angefangen habe ich mit Lesen. Ein Jahr lang las ich alle zeitgeschichtlichen Bücher, die ich über das Thema gefunden habe, alles, was ich in den Archiven auftreiben konnte. Und ich habe einen Begriff vom Ausmaß meiner Unkenntnis bekommen. Wenn heutzutage Juden sagen: `Das wissen wir doch alles´ und es deswegen ablehnen, den Film zu sehen, kann ich darüber nur lachen. Sie wissen nichts, sie kennen ein Ergebnis: sie wissen, dass 6 Millionen Juden umgekommen sind, das ist alles. Ich wusste überhaupt nicht, wie ich vorgehen sollte. Ich musste Exposés schreiben, um Geld zu bekommen und wurde ständig nach meinem `Konzept´ gefragt, was völlig absurd war: ich hatte kein Konzept. (…) Ich habe mir also zunächst ein großes theoretisches Wissen angeeignet und habe dann, ein wenig zitternd und bewaffnet mit diesem Wissen, das nicht meines war, sondern ein Wissen aus zweiter Hand, mit der Recherche begonnen, mit der Suche nach Zeugen. Ich wollte nicht irgendwelche Zeugen. Ich suchte ganz bestimmte, die einst an den Schaltstellen der Vernichtung saßen und unmittelbare Zeugen des Todes ihres Volkes waren: Angehörige der Sonderkommandos. (…) zwischen dem Bücherwissen, das ich mir erworben hatte und dem, was die Leute mir erzählten, war ein himmelweiter Unterschied. Ich verstand überhaupt nichts mehr. Zunächst gab es das Problem, sie zum Reden zu bringen. Nicht, dass sie es abgelehnt hätten zu reden. Aber sie hatten in solchen Grenzzonen von Erfahrung gelebt, dass sie sie nicht mitzuteilen vermochten. Als ich Srebnik, den Überlebenden von Chelmno, das erste Mal traf, war der Bericht, den er mir gab, so ungewöhnlich wirr, dass ich nichts verstanden habe. Er hatte so viel Grauenhaftes erlebt, dass er völlig am Ende war. Ich habe mich dann weiter vorangetastet. Ich bin an die Orte gefahren, allein, und habe begriffen, dass man die Dinge kombinieren muss. Man muss wissen und sehen, und man muss sehen und wissen. Das eine ist vom anderen nicht zu trennen. Wenn Sie nach Auschwitz fahren, ohne etwas über Auschwitz und die Geschichte dieses Lagers zu wissen, sehen Sie nichts, verstehen Sie nichts. Desgleichen, wenn Sie Bescheid wissen und nicht dort gewesen sind, werden Sie ebenso wenig verstehen. Man muss also beides miteinander verbinden. Darum ist das Problem der Orte so wesentlich. Ich habe keinen idealistischen Film gemacht, keinen Film mit großartigen metaphysischen und theoretischen Reflexionen über das Warum, warum diese ganze Geschichte den Juden widerfahren ist, warum man sie getötet hat. Das ist ein bodenständiger Film, ein topographischer, ein geographischer Film.

Frage: Die große Stärke des Films ist es, wie er sich gegen seine eigene Unmöglichkeit behauptet.

Lanzmann: Ausgangspunkt des Films war einerseits das Verschwinden von Spuren: es gab da nichts mehr, und so war ich gezwungen, von diesem Nichts ausgehend den Film zu machen. Andrerseits bestand da die Unmöglichkeit für die Überlebenden selbst, diese Geschichte zu erzählen, die Unmöglichkeit zu reden, die Schwierigkeit – wie sie im ganzen Film durchscheint – die Dinge zur Sprache zu bringen, die Unmöglichkeit, etwas zu benennen, was sich aufgrund seines Charakters jeder Beschreibung entzieht. Darum ist es mir auch so schwergefallen, einen Titel zu finden. Ich hatte einen, der mir ausnehmend gut gefiel, der aber ein wenig abstrakt war: `Der Ort und das Wort´. Der Arbeitstitel des Films, der übrigens nicht von mir stammt, lautete: `Der Tod in den Lagern´. (…)

2. Das Fehlen von Archiven:

Frage: War der Verzicht auf Archivbilder von Anfang an geplant?

Lanzmann: Über welche Archive verfügen wir denn? Es gibt zwei Perioden. Die Zeit von 1933 – 1939, in der die Juden in Deutschland nicht getötet, aber verfolgt wurden. Es gibt Photos: von den Bücherverbrennungen der Nazis, vom `Stürmer´, von der Kristallnacht im Jahre 1938. Und plötzlich der Krieg. Man weiß nichts mehr von den unter deutscher Besatzung lebenden Menschen, sie sind abgeschnitten von der Welt. Aus dieser Zeit gibt es zwei oder drei kleine Propagandafilme, die die Nazis, die Propagandaabteilungen der deutschen Wehrmacht und der Partei im Warschauer Ghetto gedreht haben, wo man falsche Cabarets eröffnet und die Frauen zwingt, sich zu schminken, wo sie eine regelrechte Show inszenieren, um zu zeigen, wie schön das Leben dort ist und wie sehr die Juden es genießen. Es gibt nur dieses Material und einige Photos vom Warschauer Friedhof, auf denen Karren zu sehen sind, mit denen Leichen abtransportiert werden. Über die Vernichtung gibt es strenggenommen nichts. Aus einem sehr einfachen Grund: es war ausdrücklich verboten. Die Nazis hielten die Vernichtungsaktionen so geheim, dass Himmler ein Sonderkommando, das Kommando 1005 gebildet hat, bestehend aus jungen Juden, die aus den ankommenden Todeszügen ausgewählt wurden, weil sie kräftiger waren als die anderen: man ließ sie Gruben öffnen und gigantische Scheiterhaufen errichten, die tagelang gebrannt haben, wie es im Film gezeigt wird, um die Spuren zu vernichten. Das Verschwinden der Spuren war darum ein ganz wesentliches Problem. Das einzige Material, das ich sonst noch gefunden habe – und ich habe wirklich alles gesehen -, ist ein kleiner anderthalbminütiger Film eines deutschen Soldaten namens Wiener (den ich aufgespürt und mit dem ich gesprochen habe). Er zeigt die Exekution von Juden in Lijepaja, Lettland: man sieht (es ist ein Stummfilm) einen Lastwagen ankommen, eine Gruppe von Juden aussteigen und im Laufschritt in eine Grube geben, wo sie im Hagel des Maschinengewehrfeuers umkommen. Das ist nichts. So etwas sieht man gewissermaßen alle Tage. Ich nenne das Bilder ohne Imagination. Das sind einfach Bilder, das hat keine Kraft.

Frage: Der Film ist gänzlich auf dem Wort und der Geste aufgebaut, um einen blinden Fleck herum, einen Raum, der dieses Fehlen von Bildern verkörpert in Bezug zu dem, wovon er spricht.

Lanzmann: Völlig richtig. Aber dadurch wird etwas ausgelöst, was viel stärker ist als alles andere. Ich bin Leuten begegnet, die davon überzeugt sind, Dokumente in dem Film gesehen zu haben: sie haben halluziniert. Der Film lässt die Vorstellungskraft arbeiten. Jemand hat mir geschrieben: `Es ist das erste Mal, dass ich den Schrei eines Kindes aus der Gaskammer höre.´ Das ist allein die Macht der Evokation und des Wortes.

3. Einen Ausschnitt wählen, heißt vertiefen.

Frage: Es gibt einen inszenierten Teil, was darauf hindeutet, dass die Wahrheit nicht durch Archivbilder, sondern nur durch Nachinszenierung sichtbar bemacht werden kann.

Lanzmann: In dem Film ist viel inszeniert. Es ist kein Dokumentarfilm. Die Lokomotive in Treblinka, das ist meine Lokomotive. Ich habe sie von der polnischen Eisenbahn geliehen, was nicht ganz einfach war.

Frage: Wesentliche Elemente in der Konstruktion des Films sind die Bilder von Zügen, von Transporten, ausgehend von der Vorstellung, nicht nur die Gesten, sondern auch die Bahnreisen, die Fahrten zu wiederholen.

Lanzmann: Ich wollte das um jeden Preis. Treblinka ist ein Rangierbahnhof: diese Züge, diese Waggons, die es dort gibt, sind dieselben von damals, und dieser Anblick ist ein Schock. Ich habe sie immer wieder gefilmt, ich bin in die Züge gestiegen, und wir haben gedreht und gedreht, ohne genau zu wissen, wie ich dieses Material verwenden werde.

Frage: Sie haben sogar aus dem Inneren der Waggons gefilmt, aus der Sicht der in Treblinka ankommenden Juden. Das ist ein gewagter Schritt und ein sehr gewalttätiger Kinoakt.

Lanzmann: Das gehört zu den Dingen, die ich auch heute noch nicht ganz verstehe. Es war mitten im Winter, und ich sagte: `Wir steigen in den Waggon und filmen die Rampe von Treblinka.´ Die Distanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart war aufgehoben, alles wurde für mich wieder Wirklichkeit. Was heißt Wirklichkeit abbilden? Bilder hervorzubringen, ausgehend von der Wirklichkeit, heißt die Wirklichkeit durchdringen. Einen Ausschnitt wählen, heißt: vertiefen. Ein anderer schrecklicher Moment war, als wir mit zittriger Hand die Kamerafahrt in Birkenau, das Hinabsteigen der Stufen zum Krematorium drehten. Ich wiederholte den Weg, den sie gegangen sind, und die Wahrheit, der Schmerz versteinerten mich. Als ich das erste Mal im Lager von Treblinka war, hatte ich das Konzept des Films noch nicht im Kopf und habe mich gefragt: `Wozu dies alles filmen?´ Schließlich, weil ich nicht viel Phantasie besitze und nicht sonderlich erfinderisch bin, konnte ich nichts anderes drehen als das, was wirklich war. Ich habe dann, als ich wieder dorthin zurückkehrte, wie ein Verrückter die Steine gefilmt.

4. Der Widerspruch des Darstellers

Frage: Sie bezeichnen die Personen, die wir vor uns sehen, die bestimmte Erfahrungen gemacht haben, als Darsteller.

Lanzmann: Das sind die Protagonisten des Films.

Frage: Die Darsteller der Geschichte?

Lanzmann: Ja, nicht die Darsteller einer Rekonstituierung von Geschichte, weil der Film dies nicht ist, aber in gewisser Weise mussten diese Menschen in Schauspieler verwandelt werden. Es ist ihre eigene Geschichte, die sie erzählen. Doch es reicht nicht aus, sie nur zu erzählen. Sie mussten sie spielen, d.h. irreal machen. Der Akt des Irrealisierens definiert das Imaginäre. Das ist doch genau der Widerspruch des Schauspielers. Er muss nicht nur in eine bestimmte seelische, sondern auch in eine bestimmte physische Verfassung versetzt werden. Nicht um ihn zum Sprechen zu bringen, sondern damit das Wort übertragbar wird, sich vermittelt, und seinerseits eine andere Dimension gewinnt.
Der Film setzt sich nicht aus Erinnerungen zusammen. Erinnerungen schrecken mich ab; sie sind schwach. Der Film hebt jegliche Distanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart auf; ich habe diese Geschichte in der Gegenwart wieder gelebt. (…) Die einfache Tatsache, dass diese Filmaufnahmen in der Gegenwart stattfanden, versetzte diese Menschen aus dem Status des Zeugen der Geschichte in den des Darstellers. Das Interview, das ich mit Filip Müller drehte, der im zweiten Teil des Films das Massaker an den tschechischen Familien im Lager schildert, gestaltete sich sehr schwierig; er wollte anfangs nicht darüber reden. Ich habe drei Tage mit ihm gedreht, obwohl es klar war, dass das Gespräch so nicht zu gebrauchen war. Aber ich habe seine Worte, seine Stimme über Landschaften von heute gelegt, unaufhörlich vom on ins off wechselnd. Die Schwierigkeit dabei ist, wenn man vom on ins off wechselt, den inneren Rhythmus der Stimme zu bewahren. Der Wechsel vom on ins off ist ein wesentliches Moment in dem Film. Die Stimme beginnt durch die Landschaft zu leben, beide bestärken einander, die Landschaft verleiht dem Wort eine ganz andere Dimension, und das Wort wiederum belebt die Landschaft. Bei Filip Müller habe ich nicht inszeniert, das war unmöglich: wir haben ihn auf dem Sofa Platz nehmen lassen und gedreht. Inszeniert haben wir erst bei der Montage.

5. Der Schnitt: die Methode und ihr Objekt

Frage: Wie gestaltete sich der Aufbau des Films angesichts der Fülle an Material, das Sie hatten?

Lanzmann: Das war schrecklich. Wir brauchten 5 ½ Jahre, um es zu montieren. Ich musste zunächst diese Unmengen an Material sichten und in mich aufnehmen. Ich habe mir dann als erstes eine Abschrift aller Texte besorgt, das waren allein 5000 oder 6000 Manuskriptseiten. Dann musste ich mir das Bildmaterial aneignen. Wir haben uns zu Beginn einen Monat lang in ein Haus eingeschlossen und uns dann mit der Chefcutterin zusammengesetzt, um das theoretische Gerüst auszuarbeiten. (…) Der Film ist eine symphonische Konstruktion mit Themen und Leitmotiven. Z.B. die Geschichte des jüdischen Friedhofs in Auschwitz: 2 Millionen Juden wurden hier umgebracht, doch das einzige, was bleibt, ist der alte jüdische Friedhof, wo die Juden bestattet wurden, die früher dort lebten. Alle theoretischen Konstruktionsversuche waren absurd und sind gescheitert. Die Idee, den ersten Film mit dem Anfang, dem ersten Überlebenden von Chelmno zu beenden oder das Ghetto an den Schluss zu setzen, hatte ich erst später. Ich war verpflichtet, den Film mit dem zu machen, was ich hatte. Es gab außergewöhnliche Szenen, die sozusagen den Kern bildeten, um den herum ich dann den Film aufgebaut habe, z.B. als Filip Müller das Massaker im Familienlager schildert, zusammenbricht und weint. Das ist eine ganz wesentliche Geschichte, die für mich eine Reihe von grundlegenden Dingen verkörpert: Wissen/Nichtwissen, Täuschung, Gewalt, Widerstand. Ebenso das Ghetto: ich hatte diesen Polen, der im Ghetto gewesen war, und musste ihn darum integrieren. Wenn ich sage, dass ich den Film mit dem aufgebaut habe, was ich hatte, heißt das, dass der Film kein Produkt oder Nebenprodukt des Holocaust ist; es ist kein historischer Film, sondern gewissermaßen ein originäres Erlebnis, weil ich ihn in der Gegenwart gedreht habe, weil ich mich gezwungen sah, ihn aus Spuren von Spuren zu konstruieren, aus dem, was stark war in dem, was ich gedreht hatte. Die Konstruktion gehorcht einer komplizierten Logik. Die Schwierigkeit war, dass das Kino keine Konzessionen gestattet. Sie können nicht sagen: `Aber…´ Das können Sie in einem Buch tun, im Satzzusammenhang, aber wenn Sie es im Film sagen, wird das, was Sie als Nebensatz einflechten wollen, sogleich zu etwas Absolutem; es zerstört, was ihm vorausgeht, und bestimmt, was ihm folgt.

Frage: Das klingt ja wie ein Lehrsatz.

Lanzmann: Ja, mit diesem Problem habe ich mich während der Montage ständig herumgeschlagen. Die Architektur des Films als solche musste gewahrt werden, und sobald eine Szene montiert war, wurde alles noch einmal im Zusammenhang projiziert, um zu sehen, wie es ineinander greift. Manchmal entdeckte ich, dass die Sequenz zu linear war und dadurch langweilig oder unerträglich wurde, so dass sie unterbrochen und etwas anderes eingeschoben werden musste. Wie z.B. in der Szene, in der ich die Bauern von Treblinka befrage; ich frage den Dicken – ein Schwein war das –, ob er sich an den ersten Transport von Warschauer Juden am 22. Juli 1942 erinnere. Er erwidert, er erinnere sich sehr gut daran, vergisst dann sofort, dass vom ersten Transport die Rede war und ist plötzlich mitten in der Routine, der Alltäglichkeit der Vernichtung und Transporte, die er ständig ankommen sah. Dann gibt es den Bahnhofsvorsteher von Sobibor, der von der Stille (der idealen Stille) nach der Ankunft des ersten Transportes spricht. Logischerweise hätte ich das im Anschluss an jene Szene montieren müssen. Ich habe es versucht, aber die beiden Berichte sind in ihrem Tenor zu unterschiedlich, das passte überhaupt nicht. Während der Dicke sich der Logik des Alltags unterwarf, ist dem anderen durch das Schweigen plötzlich bewusst geworden, Zeuge eines ungeheuerlichen Vorgangs gewesen zu sein.
Ebenso war es wichtig, das Ghetto an den Schluss zu setzen, nachdem man die Radikalität des Todes bereits kennt, um damit zu zeigen, dass die Vernichtung in der Logik des Ghettos, wo die Menschen schlichtweg verhungerten, bereits enthalten war. Es gab darüber hinaus noch einen anderen Grund: damit die Tragödie, auch die Spannung zum Tragen kommen, musste das Ende schon von Anfang an bekannt sein. Es ist notwendig, dass man weiß, was geschehen wird, während man gleichzeitig fühlt, dass dies nicht hätte geschehen dürfen. Das ist es, was Sartre den `Tonfall des Scheiterns´ in den amerikanischen Kriminalfilmen der Nachkriegszeit nannte, in den Filmen vom Typus Assurance sur la mort (Gewissheit des Todes). Die Konstruktion war auch diktiert von Fragen der Moral. Ich hatte nicht das Recht, die Begegnung der Darsteller zu provozieren. Ich konnte unmöglich die Nazis mit den Juden konfrontieren; nicht, dass ich sie leibhaftig miteinander konfrontiert hätte, was mehr als obszön gewesen wäre; sondern es ging nicht, sie in der Montage zusammenzubringen. Das sind keine alten Kombattanten, die sich 40 Jahre danach mit einem kräftigen Händedruck vor der Fernsehkamera wiederbegegnen. Darum taucht der erste Nazi erst nach fast zwei Stunden auf. In diesem Film begegnet keiner dem andern. Auch nicht die Juden und die Polen, abgesehen von Srebnik, dem Überlebenden von Chelmno, der vor der Kirche steht, umringt von Polen, stumm; er versteht alles und fürchtet sich vor ihnen wie damals als Kind. Und dann ist er allein in der Lichtung, gleichsam verdoppelt: er findet sich selbst nicht wieder.

Frage: Welche Rolle spielten die Zuschauer in Ihren Überlegungen und welche Erwartungen hatten Sie von ihrem Wissensstand?

Lanzmann: Das war eine gewichtige Frage, umso mehr, als ich ja auf jeden Kommentar verzichtet habe. Der Film ist von absoluter historischer Strenge. Man kann mir vorwerfen, dieses oder jenes nicht behandelt zu haben. Das weiß ich. Aber man kann mir keinen Fehler vorwerfen. Es gibt 1000 Dinge, die ich recherchiert und gedreht, aber nicht montiert habe. Und dann gibt es welche, die ich aus dem einfachen Grund nicht weiterverfolgt habe, weil in einigen Fällen die Zerstörung gesiegt hat, weil es insgesamt für einige Episoden keine Zeugen, keine Spuren, nichts mehr gibt. Aber das war eine wichtige Frage: was wissen die Zuschauer? Was wissen sie nicht? Bis zu welchem Punkt kann man das Geheimnis wahren? Schließlich habe ich mir gesagt, dass ich nicht alles sagen muss, dass die Leute sich selbst Fragen stellen müssen. Der Film ist auch so angelegt, damit die Leute weiterarbeiten. Während der Vorführung, aber auch danach. (…) Es mussten offene Fragen bestehen bleiben, Rätsel, die zu lösen der Vorstellungskraft obliegt: es ging nicht darum, alles zu erklären.


Marc Chevrie und Hervé Le Roux, in: Cahiers du Cinéma No. 374, Paris, Juli/August 1985. Zitiert nach: Informationsblatt zu `Shoah´, herausgegeben von dem internationalen Forum des jungen Films / Freunde der deutschen Kinemathek. S. 3-5.

Frage: Wie ist Ihr Verhältnis zu Deutschland?

Lanzmann: Das ist kompliziert. Ich habe Beziehungen zu Deutschland. Ich war während der Berliner Blockade Lektor an der Freien Universität Berlin. Zuvor war ich ein Jahr in Tübingen, um ein Philosophie-Diplom über Leibniz zu machen. (…) Jedenfalls wollte ich die Deutschen in Zivil erleben. Es war ein phantastisches Jahr. Das beste meines Lebens. Ich hielt Vorlesungen über Sartre und Stendhal. Meine Kurse waren sehr gut besucht. Eines Tages kamen die Studenten zu mir. Die Männer waren alle viel älter als ich, ich war damals 24. Sie waren um die Dreißig, gerade zurück aus den Gefangenenlagern. Sie fragten mich, ob ich eine Vorlesung über Antisemitismus zu halten bereit wäre … unter ihnen war auch ein ehemaliger Angehöriger der Waffen-SS. Ich habe ja gesagt, und wir haben drei Wochen darüber gearbeitet. Es war toll. Nach drei Wochen wurde ich zum General Ganeval vorgeladen, dem Kommandanten der französischen Militärregierung in Berlin. (…) Sie verboten mir, mein Seminar über Antisemitismus fortzuführen. Das war Politik, und Politik wurde in Berlin, der Stadt, in der Angehörige von 5 Nationen miteinander leben mussten, keine gemacht. Damit will ich sagen, dass es nicht nur die Schuld der Deutschen war, dass die Entnazifizierung schlecht gehandhabt wurde. Im übrigen möchte ich folgendes dazu anmerken: es hat eine deutsche Kollektivschuld während des Krieges gegeben. Siehe Karl Jaspers, Die Schuldfrage. Was da geschehen ist, hätte nicht geschehen können ohne einen allgemeinen Konsens der deutschen Nation. Diese Geschichte ist nicht die Tat einer Handvoll Gangster. Sie hat den Einsatz des gesamten Bürokratie- und Verwaltungsapparates eines großen, modernen Staates erfordert. Beweis: der Bürokrat der Reichsbahn (Walter Stier, der ehemalige Chef der Reichsbahnverwaltung). Alle Ministerien waren darin verwickelt. (…) Was geschah mit den Renten all dieser Menschen, die man umgebracht hatte? Keiner von denen (aus dem Finanzministerium) ließ je verlauten, dass man sie umgebracht hatte. Doch zu behaupten, dass diejenigen Deutschen, die vor oder während des Krieges geboren wurden, an dieser Kollektivschuld teilhaben, ist Unsinn. Es gibt aber etwas anderes: eine historische Verantwortung der Deutschen gegenüber ihrer eigenen Geschichte. Das mag zwar schwierig sein, aber damit müssen sie zurechtkommen. Am besten, indem man den Dingen ins Auge sieht, sich damit konfrontiert. Die jungen Deutschen mit ihren Schnauzbärten, die heute 35-40jährigen, sind meistens wie Zombies, kopflos, ja hirnlos. Sie sehen ihre Geschichte nicht. Hundertmal habe ich im Verlauf meiner Nachforschungen erlebt, dass die alten Nazis, die ich aufspürte, von den Jungen, ihren Kindern, geschützt wurden. Es gab da eine Art stillschweigendes Einverständnis. Sie wollten nichts wissen, blockten ab. Wer behauptet, der amerikanische Film `Holocaust´ hätte die Deutschen aufgerüttelt, der lügt. Es war nur ein Strohfeuer, denn dieser Film war ein totaler Schwachsinn.
Der Film hingegen, den ich gemacht habe, kann in Deutschland, glaube ich, eine absolut positive Wirkung haben. Ich habe große Hoffnung, diesen Film in Deutschland zu zeigen. Ich habe im übrigen auch viele Szenen über das moderne Deutschland gedreht. Ich habe in Günzburg gedreht, bei Mengele, in den Fabriken von Mengele, mit Arbeitern aus Mengeles Fabriken. Ich habe andere, höchst bestürzende Szenen gefilmt. Ich hatte einen der Fahrer der Gas-Lastwagen von Chelmno aufgespürt. Und dann haben ihn die Nachbarn vorgewarnt. Daraufhin habe ich ein Interview mit den Nachbarn gemacht. Eine junge, übrigens recht gutaussehende Frau, fragte ich: `Wissen Sie, wer er ist?´ – `Ein sehr guter Nachbar.´ Sehr schön. `Wissen Sie, was er getan hat?´ – `Das interessiert mich nicht.´
Das alles war nach `Holocaust´.
Ich hatte `Shoah´ lange vorher begonnen, vor 11 Jahren. Ich erkläre es ihr, ich besitze die Anklageschrift. Ich sage ihr: `Er ist verantwortlich für den Tod von 40.000 Juden.´ Und sie gibt mir diese großartige Antwort: `Jeder hat sein Privatleben!´
Ich habe beschlossen, keine der Szenen über das moderne Deutschland zu montieren. Keine, damit der Film ein hohes Niveau an Reinheit behält. Damit er nicht polemisch wird.
Das ist Sache der Deutschen. Sollen sie sehen, wie sie damit klarkommen. Das ist sehr schwierig.

Frage: Haben die Deutschen den Film haben wollen?

Lanzmann: (…) Der WDR hat den Film (…) schon längst gekauft. Ich hatte ihnen Muster gezeigt, und sie waren davon sehr angetan. Sie sind auch hier gewesen, in Paris, zur Premiere mit Mitterand. Sie haben mich beim Montieren gefilmt. Mir wäre sehr daran gelegen, dass der Film noch vor der Fernsehausstrahlung in die Kinos kommt. (…)

Frage: Was haben Sie mit dem gesamten 350-Stunden-Material vor, das Sie gedreht haben?

Lanzmann: Ich weiß noch nicht, was ich damit machen werde. Vielleicht montiere ich es eines Tages. Viele Sequenzen sind übrigens schon montiert. (…) Es gibt enorm viele Sachen auf Deutsch in dem Film. Die französischen Untertitel habe ich selbst gemacht. Sie sind gut, sogar so gut, dass ein Buch daraus entstanden ist.

(…)

Frage: Als ich den Film sah, hatte ich den Eindruck, dass Sie bei der Auswahl der Augenzeugenberichte die aussergewöhnlichsten Überlebenden ausgesucht haben. Ein anderer roter Faden scheint mir die Reise zu sein, die man immer wieder, unzählige Male macht. Ist das das Gerüst des Films?

Lanzmann: Das Gerüst des Films ist die Radikalität des Todes. Ist letztendlich die Vernichtung.

Frage: Zeigen Sie in Ihrem Film alle Gespräche, die Sie mit Nazis geführt haben?

Lanzmann: Nein. Ich erlaube mir diesen Luxus. Dennoch ist jeder im Film vorkommende Nazi ein echtes Wunder, weil diese Leute ja sonst nie reden.

(…)

Frage: Diese Nazis im Film haben alle etwas gemeinsam, etwas Neues in dem Sinne, dass sie z.B. sagen, das ist schrecklich, oder wie die Lehrersfrau, das ist traurig…

Lanzmann: Ein SS sagt niemals, das ist schrecklich. Sie sagten es zu mir, das ist etwas anderes. Das hängt mit meiner Befragungstechnik zusammen, die sich jegliches moralisches Urteil versagt. Ich habe nie zu ihnen gesagt, ich werfe Ihnen dieses oder jenes vor, niemals. Ich bin kein Richter oder Staatsanwalt. Ich sprach auf `technischer´ Ebene mit ihnen, über das Wie der Dinge, wobei ich ganz präzise Fragen stellte. Sie sind es, die von Moral sprechen, nicht ich. Wenn sie mir mit Alibis kamen oder Ähnlichem, hab ich ihnen stets zur Antwort, das interessiert mich nicht. Erstens bin ich nicht Klarsfeld, und zweitens erzähle ich ja keine Einzelschicksale von Juden. Ich erzähle ja nicht die Geschichte von Filip Müller oder vom Friseur, und wie er oder Glazar überlebt haben, nichts dergleichen. Ebenso interessieren mich die moralischen Rechtfertigungen der Nazis nicht; sie waren es, die letztendlich davon anfingen.

Frage: Trotzdem spürt man, dass Sie davon überzeugt sind, dass diese Leute lügen.

Lanzmann: Aber ja doch, darauf kam es mir ja an, dass die Lüge sichtbar wird! Dass man sieht, dass sie lügen.
(…)
Ich bin sehr gespannt auf die Rezeption von `Shoah´ in Deutschland. Auf die Wirkung diese Films in Deutschland. Ich glaube, dass `Shoah´ für die Deutschen ein befreiender Film sein wird. Der erste befreiende Film seit 1945.“


Auszüge aus einem Interview von Heike Hurst vom 19.7.1985. Zitiert nach: Informationsblatt zu `Shoah´, herausgegeben von dem internationalen Forum des jungen Films / Freunde der deutschen Kinemathek. S. 5-7.

Simone de Beauvoir sieht in „Shoah“ ein Meisterwerk, das „weder Fiktion noch Dokumentation“ sei: Lanzmann montiere die Stimmen der Zeugen, der Opfer und der Techniker des Holocaust zu einem „mehrstimmigen Trauergesang“, der Vergangenes mit Gegenwärtigem und Schrecken mit Schönheit verschmelze.

Für Jim Hoberman ist „Shoah“ „der anspruchsvollste Film, der jemals über die Judenvernichtung gedreht wurde“. Hoberman lobt Lanzmanns behutsame Annäherung an „das Unvorstellbare“, erwähnt aber auch das „Gefühl der moralischen Verpflichtung“, sich den Film anzusehen.

Im Mittelpunkt der Besprechung von Wolfram Schütte steht Lanzmanns Technik, das „Unfassbare“ durch Menschen und Orte „so heraufzubeschwören (…), das das Geschehen ein innerlicher Teil der Zuschauer (…) wird“. Schütte weist darauf hin, dass das „Kino als ein Ort der Vergegenwärtigung“ auf die „Phantasiearbeit“ des Zuschauers angewiesen sei.

In der Zentralen Filmografie Politische Bildung wird betont, dass die „exakte Beschreibung von Zuständen und Gefühlen … die Vergangenheit fast wie Gegenwart erscheinen (lasse).

Ch. Schultz-Gerstein stellt fest, dass „Shoah“ die deutschen Zuschauer in ihrer „Eigenschaft als die moralischen Sieger der Nazi-Verbrechen grausam beschämt“, und hebt in diesem Zusammenhang Lanzmanns Täterinterviews hervor.

„Es ist nicht einfach, von `Shoah´ zu sprechen. Es steckt Magie in diesem Film, und Magie lässt sich nicht erklären. Wir haben nach dem Krieg unzählige Berichte über die Ghettos, über die Vernichtungslager gelesen; wir waren erschüttert. Doch wenn wir heute Claude Lanzmanns aussergewöhnlichen Film sehen, merken wir, dass wir überhaupt nichts gewusst haben. Trotz all unserer Kenntnisse blieb die grauenhafte Erfahrung uns doch äusserlich. Zum ersten Mal nun leben wir sie in unserem Kopf, unserem Herzen, unserem Fleisch. Sie wird die unsere. Weder Fiktion noch Dokumentation, gelingt `Shoah´ diese Verlebendigung der Vergangenheit mit erstaunlich sparsamen Mitteln: durch Orte, Stimmen, Gesichter. Die große Kunst von Claude Lanzmann vermag die Orte zum Sprechen zu bringen, sie mittels der Stimmen wiederzuerwecken und jenseits aller Worte das Unaussprechliche, Unsägliche durch Gesichter auszudrücken.

Die Orte. Eines der großen Anliegen der Nazis ist es gewesen, alle Spuren zu tilgen, doch die Erinnerung haben sie nicht gänzlich auszuradieren vermocht, und Claude Lanzmann hat es verstanden, die unter jungen Wäldern und neuen Pflanzen verborgene Schreckenswirklichkeit wieder zutage zu fördern. In dieser grünen Wiesenlandschaft gab es Gruben so groß wie Granattrichter, wo Lastwagen die unterwegs erstickten Juden abluden. In diesen so heiteren Fluss schüttete man die Asche der verbrannten Leichname. Hier befinden sich die beschaulichen Gehöfte, von wo aus die polnischen Bauern hören und sogar sehen konnten, was in den Lagern geschah. Hier sind die Dörfer mit den schönen alten Häusern, aus denen die gesamte jüdische Bevölkerung deportiert wurde.
Claude Lanzmann zeigt uns die Bahnhöfe von Treblinka, Auschwitz und Sobibor. Er setzt seinen Fuß auf die heute von Pflanzen überwucherten `Rampen´, wo Hunderttausende von Opfern in die Gaskammern getrieben wurden. (…)

Die Stimmen. Sie schildern über weite Strecken des Films alle das gleiche: die Ankunft der Züge, das Öffnen der Waggons, aus denen die Leichen heraus fielen, den Durst, die lähmende Ungewissheit und Angst, das Entkleiden, die `Desinfektion´, das Öffnen der Gaskammern. Doch nicht einen Moment lang haben wir den Eindruck, dass sich bereits Gesagtes wiederholt. Zunächst wegen des Unterschiedes im Klang der Stimmen. Da ist diese kalte, objektive – anfangs nahezu unbewegte – Stimme von Franz Suchomel, seinerzeit SS-Unterscharführer; er macht die genauesten und detailliertesten Angaben über die Vernichtung eines jeden Transportes. Es gibt die bekümmert klingenden Stimmen einiger Polen: jene des Lokomotivführers, den die Deutschen mit Wodka bei der Stange hielten, der aber die Schreie der verdurstenden Kinder kaum ertrug; die des Bahnhofsvorstehers von Sobibor, den die jäh einsetzende Stille im nahen Lager beunruhigte.

Die Sicht der `Techniker´

Häufig jedoch klingen die Stimmen der polnischen Bauern gleichgültig oder gar ein wenig hämisch. Und schließlich gibt es die Stimmen der überlebenden Juden. Zwei oder drei ringen sichtlich um Gelassenheit. Doch viele vermögen kaum zu sprechen; die Stimme versagt ihnen, sie zerfließen in Tränen. Die Gleichartigkeit ihrer Berichte ist nie monoton, im Gegenteil. Man sieht sich unwillkürlich erinnert an die absichtsvolle Wiederholung eines musikalischen Themas oder Leitmotivs. Denn es ist eine musikalische Komposition, die durch die subtile Konstruktion von `Shoah´ mit seinen Kulminationspunkten des Grauens, seinen pastoralen Landschaften, seinen Klageliedern und motivisch neutralen Stellen evoziert wird. Und das Ganze wird rhythmisiert durch das beinahe unerträgliche Rattern der zu den Lagern fahrenden Züge.

Gesichter. Sie sagen oft viel mehr als Worte. Die der polnischen Bauern bekunden Mitleid. Doch die meisten wirken gleichgültig, ironisch oder gar schadenfroh. Die Mienen der Juden stehen im Einklang mit ihren Worten. Am merkwürdigsten sind die deutschen Gesichter. Franz Suchomels Züge verraten keinerlei Regung bis auf den Moment, wo er eine Hymne auf Treblinka anstimmt, die seine Augen aufleuchten lässt. Doch bei den anderen straft der verlegene, verschlagene Gesichtsausdruck ihre Beteuerungen der Unschuld, des Nichtwissens, Lügen.

Es ist in der Tat einer der großen Verdienste von Claude Lanzmann, dass er uns den Holocaust aus der Sicht der Opfer schildert, aber auch die seiner `Techniker´ vermittelt, die ihn ermöglicht haben und gleichwohl jede Verantwortung von sich weisen. Mit am charakteristischsten dafür ist der für die Transporte zuständige Bürokrat. Die Sonderzüge, erklärt er, standen Gruppenreisenden für Ausflüge oder Ferientouren zum halben Fahrpreis zur Verfügung. Er leugnet nicht, dass die Transporte in die Lager ebenfalls mit Sonderzügen vorgenommen wurden. Er behauptet jedoch, nicht gewusst zu haben, dass die Lager den sicheren Tod bedeuten. Das waren, so dachte er, Arbeitslager, in denen die Schwächsten starben. Seine verlegene Miene, sein ausweichender Blick stehen jedoch im Widerspruch zu seiner Beteuerung, nichts gewusst zu haben. Kurz danach erfahren wir durch den Historiker Hilberg, dass die `überstellten´ Juden durch das mit der Abwicklung der Transporte beauftragte Reisebüro Ferienreisenden gleichgestellt waren, d.h. offiziell als Gruppenreisende figurierten, und, ohne es zu wissen, ihre eigene Deportation finanzierten, da die Gestapo diese mit den Geldmitteln bezahlte, die sie von ihnen beschlagnahmt hatte.

(…) Claude Lanzmanns Filmmontage gehorcht keiner chronologischen Ordnung, denn sie ist – insofern man dergleichen angesichts eines solchen Sujets überhaupt sagen kann – ein poetisches Gefüge. Es bedürfte einer eingehenderen Untersuchung als der vorliegenden, um die Resonanzen, die Symmetrien, die Asymmetrien und Harmonien aufzuzeigen, auf denen es beruht. So wird auch erklärlich, warum das Warschauer Ghetto erst am Ende des Films, wo wir das unerbittliche Los der Eingeschlossenen bereits kennen, zur Sprache kommt. Auch dazu gibt es vielfältige Zeugenberichte: geschickt montiert zum mehrstimmigen Trauergesang. Karski, seinerzeit Kurier für die polnische Exilregierung, besucht das aufgrund der Bitte zweier jüdischer Verantwortungsträger das Ghetto, um vor der Welt Zeugnis abzulegen (übrigens vergebens). Er sieht nur die entsetzliche Unmenschlichkeit dieser in Agonie befindlichen Welt. Die wenigen Überlebenden des mit deutschen Bomben niedergeschlagenen Aufstands schildern hingegen, welche Anstrengungen unternommen wurden, um die Menschlichkeit in dieser zum Sterben verurteilten Gemeinschaft zu wahren. Der große Historiker Hilberg diskutiert mit Lanzmann ausführlich über die Selbsttötung von Czeriakow, der geglaubt hatte, den Juden im Ghetto helfen zu können und der am Tage nach der ersten Deportation jegliche Hoffnung verlor.

Der Schluss des Films ist in meinen Augen bewundernswert. Einer der wenigen Überlebenden des Aufstandes findet sich allein inmitten der Trümmer und Ruinen wieder. Damals, so sagt er, habe er eine Art von Gelassenheit verspürt bei dem Gedanken: `Ich bin der letzte Jude, und ich warte hier auf die Deutschen.´ Dann sehen wir einen Zug mit einer neuen Fracht zu den Lagern fahren.

Wie alle Zuschauer vermische ich Vergangenes mit Gegenwärtigem. Ich habe geäußert, dass die bewundernswerte Seite von `Shoah´ auf dieser Verschmelzung beruht. Ich füge hinzu, dass mir eine solche Allianz von Schrecken und Schönheit bis dahin unvorstellbar schien. Wiewohl das eine nicht dazu dient, das andere zu verschleiern; es geht nicht um Ästhetik, im Gegenteil: diese Verbindung des Schreckens und der Schönheit wird mit solch unnachgiebiger Strenge und Erfindungskraft erhellt, dass uns bewusst wird, welch großes Werk wir hier betrachten. Ein wahres Meisterwerk.“


Simone de Beauvoir: „Die Erinnerung an das Grauen“. In: Le Monde, Paris, 28.4.1985. Zitiert nach: Informationsblatt zu `Shoah´, herausgegeben von dem internationalen Forum des jungen Films / Freunde der deutschen Kinemathek. S. 2/3.

„Claude Lanzmanns `Shoah´ ist nicht nur der anspruchsvollste Film, der jemals über die Judenvernichtung gedreht wurde, sondern auch ein Werk, das von dem alttestamentarischen Gebot, sich keine Abbilder zu schaffen, inspiriert gewesen sein könnte, so gewissenhaft geht der Film mit dem Problem der Darstellung um. `Der Holocaust ist insofern beispiellos, als er einen Flammenkreis um sich herum errichtet, eine Schranke, die nicht überschritten werden kann, weil ein bestimmtes absolutes Entsetzen nicht vermittelt werden kann´, schrieb Lanzmann 1979 in einem Essay über die Fernsehserie `Holocaust´. `Wer vorgibt, diese Linie zu überschreiten, macht sich eines schweren Vergehens schuldig.´

`Shoah´, dessen Titel sich von dem hebräischen Wort für `Vernichtung´ herleitet, überschreitet diese Linie nicht, sondern definiert sie. Über weite Strecken seiner Spieldauer von neuneinhalb Stunden erscheint der Film formlos und repetitiv. Vom allgemeinen zum besonderen hin und herwechselnd, bestimmte Themen umkreisend, überwältigt `Shoah´ den Zuschauer mit einer Fülle von Details. Für diejenigen, die nach linearem Fortschreiten verlangen, mag Lanzmanns Methode pervers erscheinen – die Entwicklung des Films vollzieht sich nicht in der Dimension der Zeit. `Die sechs Millionen Juden starben nicht in ihrer eigenen Zeit, und darum muss heutzutage jedes Werk, das dem Holocaust gerecht werden will, die Chronologie zertrümmern´, schrieb Lanzmann. Obwohl `Shoah´ durch seine inneren Entsprechungen strukturiert wird, muss man am Ende selbst die Schlussfolgerungen ziehen. Dieser Film wirft jeden auf sein eigenes Vermögen zurück. Er zwingt den Zuschauer, sich das Unvorstellbare vorzustellen.

Lässt man die Länge des Films einmal beiseite, so ist `Shoah´ bemerkenswert durch die Strenge der Lanzmannschen Methode: (…) `Der Film musste aus Spuren von Spuren von Spuren gemacht werden´, sagte Lanzmann einem Interviewer. Wie dem schwedischen `Chain Rumkowski und die Juden von Lodz´ oder der ungarischen `Gruppenreise´, zwei Dokumentarfilmen aus der jüngsten Zeit mit einer weniger umfassenden Perspektive vom Krieg gegen die Juden liegt `Shoah´ eine starke und prinzipielle Zurückhaltung zugrunde. Wie Syderbergs `Hitler, ein Film aus Deutschland´ weigert sich auch dieser Film, die Vergangenheit zu ´rekonstruieren´, wodurch eine konventionelle Reaktion unmöglich gemacht und der Zuschauer auf den Ursprung seiner eigenen Faszination verwiesen wird.

Lanzmann ist jedoch kaum so theatralisch wie Syderberg. In mancher Hinsicht erinnert seine Strategie an die von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet. Deren 1976 entstandener Film `Fortini-Cani´ z.B. unterstreicht die Lesung des italienisch-jüdisch-kommunistischen Dichters Franco Fortini durch lange, nachdenkliche Einstellungen von Waldlandschaften, wo die Nazis vor ungefähr 30 Jahren eine Gruppe italienischer Partisanen massakrierten. Lanzmann ist der gleichen Auffassung: dass die Vergangenheit uns umgibt, dass die Geschichte (und sei es nur durch ihre Auslöschung) in der Gegenwart eingeschrieben ist. In seinem Artikel über `Holocaust´ zitierte er den Philosophen Emil Fackelheim: `Die massakrierten europäischen Juden gehören nicht nur der Vergangenheit an, sie sind die Anwesenheit einer Abwesenheit.´ Das ist der Grund, weshalb `Shoah´ sich nicht so sehr auf Auschwitz (…), sondern auf Treblinka konzentriert, ein Lager, das nur dazu errichtet wurde, um Juden zu vergasen; ein Stück Hinterland, das von den Nazis selbst wieder abgerissen und umgepflügt wurde, in dem Versuch, alle Spuren der 800.000 Morde zu verwischen.

Die Landschaften in `Shoah´ sind nicht minder beschaulich als die in `Fortini/Cani´, doch so viel gespenstischer als diese, dass man es nicht nachvollziehen kann: unter Tannenwäldern und Sumpfgebieten verbergen sich Massengräber, und auf dem Grund eines schlammigen Sees ruht die Asche von Hunderttausenden von Opfern. (…)
Was diese Landschaften miteinander verbindet, sind die Züge, die aus allen Richtungen Europas nach Polen oder in Richtung Osten rattern. Lanzmann gelang es sogar, einen Lokomotivführer aufzufinden, der die jüdischen Transporte fuhr. Eines der wiederkehrenden Bilder des Films zeigt einen Zug, der durch polnische Landschaften fährt oder im Bahnhof Treblinka ankommt, wobei derselbe Lokomotivführer, jetzt faltig und knochig wie ein mittelalterlicher Tod, auf seine unsichtbare Fracht zurückschaut. Diese Züge, so heißt es in `Shoah´, verdeutlichen das Ausmaß an bürokratischer Organisation, dessen es zum Völkermord bedurfte, die augenfällige Tatsache der Transporte und nicht zuletzt den existentiellen Schrecken der Reise. (…)

Was die Landschaften `Shoah´ an Gewicht verleihen, geben ihm die Interviews an Dramatik. Über und kontrastierend zu diesen Bildern aus dem heutigen Polen und Deutschland wird das Zeugnis der jüdischen Überlebenden vernehmlich, von polnischen Augenzeugen und deutschen Nazikommandanten. Doch der Film ist gleichermaßen angefüllt mit Schweigen wie mit Sprechen. Neun Stunden Untertitel ergeben ein Buch von kaum 200 Seiten mit einem breiten Rand. Die Pausen, das Zögern sind manchmal vielsagender als Worte. (…)

Man hat mich oft mit einer gewissen schuldbewussten Neugier, die ich gut verstehe, gefragt, ob man `Shoah´ wirklich ansehen müsse. Ein Gefühl der moralischen Verpflichtung verbindet sich unvermeidlich mit solch einem Film. Wer kann sagen, ob `Shoah´ gut für einen ist? (Man hofft, aber wahrscheinlich vergebens, dass die Rezensenten ein Moratorium des schon herabgesunkenen Slangs von Werbesprüchen erklären werden.) Während ich den Film ansah, kam ich mir manchmal vor wie bei einer Pflichtarbeit; und dennoch stelle ich fest, noch Wochen später, dass mir Landschaften, Gesichtsausdrücke, Klangfarben von Stimmen – die Essenz und das Rohmaterial, aus dem Kino besteht – nicht aus dem Sinn gehen. Der publizierte Text kann in keiner Weise den Film ersetzen; den `Text´ von `Shoah´ kann man nur auf der Leinwand erfahren. Auf der anderen Seite ist das Buch hilfreich, um Lanzmanns Struktur zu begreifen. Denn wenn `Shoah´ zu Beginn auch porös und aufgebläht erscheint, so ist dies gleichwohl ein Film, der sich erst in der Erinnerung wirklich zusammenfügt: erst allmählich werden seine subtilen Querbezüge und seine monumentale Form evident. Es widerstrebt einem, `Shoah´ als Kunst zu betrachten – zu recht, so kunstvoll der Film auch ist.

`Shoah´ lässt den Zuschauer erstarren, er überwältigt ihn, und schließlich – mit unendlicher Zartheit und Behutsamkeit, hinterlässt er bei ihm eine Verletzung, eine Narbe. Es gibt Augenblicke in diesem Film, in denen man es nicht mehr ertragen kann, einen anderen Menschen zu sehen; diese Momente muss man allein erleben. `Shoah´ lehrt uns die Bedeutung des Wortes `untröstlich´. (…)
Beim Verlassen des Kinos mag sich der Zuschauer an den Bericht eines Überlebenden von einem geheimen Ausflug in das `arische´ Warschau am Vorabend des Ghettoaufstandes erinnert fühlen: `Plötzlich befanden wir uns zu unserer Verblüffung auf einer Straße im hellen Tageslicht, mitten unter normalen Menschen. Es war, als wären wir von einem anderen Planeten gekommen.´ Das Schreckliche daran ist: dieser Planet ist der unsere.“


Jim Hoberman: „`Shoah´: Zeugnis der Vernichtung“. In: The Village Voice, New York, 29.10.1985. Zitiert nach: Informationsblatt zu `Shoah´, herausgegeben von dem internationalen Forum des jungen Films / Freunde der deutschen Kinemathek. S. 10/11.

„Der 1925 geborene Franzose Lanzmann versucht in seiner 9 ½-stündigen epischen Dokumentation `Shoah´ die Vernichtung der europäischen Juden an den Orten der Verbrechen und durch die Aussage von Zeugen dem Vergessen und Verschweigen, mehr noch: der Geschichte zu entwinden.

Treblinka: der Name des dörflichen Gemeinwesens im südlichen Polen ist auf der ganzen Welt bekannt wie Auschwitz, das nahebei liegt. Es waren Zielbahnhöfe für Todeszüge, die aus ganz Europa unter dem Hakenkreuz nach dorthin geleitet wurden. Die `Todesfabriken´ hat Claude Lanzmann aufgesucht: Chelmno, Belzec, Treblinka, Auschwitz. Dort begannen die Vergasungen, dort wurden sie perfektioniert. Die heute idyllischen Orte, die heute verstreuten Täter, die Augenzeugen an den Orten und die wenigen Opfer, die der spurenlosen Vernichtung ihrer Leidensgenossen entkamen: sie alle hat Lanzmann zum Sprechen gebracht. In 14 Ländern hat er rund dreieinhalb Jahre recherchiert, während 5 Jahren gedreht, und sein Material von 350 Stunden hat er in 4 Jahren geschnitten. Lanzmanns `Shoah´ ist mit 9 ½ Stunden Länge das eindrucksvollste, nachwirkendste Zeugnis einer Erinnerungsarbeit, die bisher über System und Praxis der nazistischen `Endlösung´ versucht wurde.
(…) `Unvorstellbar´ heißt in der Sprache, was die individuelle Phantasie sich zwar vorstellt, aber den Worten vorenthält. Paradoxerweise sind es aber in Lanzmanns `Shoah´ einzig die Worte, ist es die Sprache, sind es die heutigen Menschen, die jetzigen Orte, die allein das `Unvorstellbare´ und `Unfassbare´ so heraufzubeschwören vermögen, dass das Geschehen ein innerlicher Teil der Zuschauer und Zuhörer wird, ohne dass ihnen etwas gezeigt würde; und nur so hält das Medium Film, das immer dazu tendiert, unsere Phantasie zu enteignen, unsere Blicke zu lenken, unsere Gefühle zu dressieren und die Realität zuzurichten, eine Distanz zum Schrecken der wirklichen Tat, – eine Distanz, welche die Würde der Opfer bewahrt ineins mit der Scham der Überlebenden und Nachgeborenen.

(…) `Die Idee, die Distanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart aufzuheben´, erklärte Lanzmann zu `Shoah´, `war die Basis für die Wahl der Orte und der Charaktere des Films. In Treblinka sprechen die Erde, der Fluss Bug, der Wald, die Männer und Frauen alle vom Holocaust. Sie lassen ihn wiederauferstehen; sie wiederbeleben ihn soweit, dass wir sogar vergessen, dass dreiundvierzig Jahre vergangen sind seit 1942. Die Erinnerungen der Männer und Frauen sind nicht nur wahrheitsgetreu, sondern etwas viel Weitergehendes: sie erinnern jedes einzelne Detail mit einer alarmierenden Exaktheit, und wenn sie sprechen, sprechen sie nicht von ihren Erinnerungen, sondern sie vermitteln den Eindruck, als durchlebten sie diese Erfahrungen jetzt. Die Dampflokomotive, die durch die Nacht fährt und die Brücke über den Bug zwischen Malkinia und Treblinka überquert, ist eine TT2, genau derselbe Zug, der 1942 Güterwagen, gefüllt mit Juden, von Bialystock und Warschau brachte. Da gibt es immer noch dieses schrille Pfeifen, dieselbe Bahnstation, dieselben Gebäude, dieselben Nebenwege entlang der Gleise, dieselben Zuführer und Augenzeugen. Nichts hat sich verändert – dort muss niemand eine Fiktion rekonstruieren oder wiederbeleben. Die Destruktion wird uns visuell geliefert´ – indem Claude Lanzmann die Orte und das Bewusstsein der einmal an ihnen dem Tod entkommenen Menschen (…) miteinander konfrontiert.

(…) Das Kino als ein Ort der Vergegenwärtigung, der Geistesgegenwart und der individuellen Phantasieteilhabe benötigt nicht die exaltierte Ästhetisierung der Realität. Das Kino, das auf die Kraft der menschlichen Wahrnehmung und Erfahrung setzt, kann seinen Adressaten die eigene Beschäftigung, die emotionale und geistige Phantasiearbeit nicht abnehmen. Das Kino, das das Vergangene nicht ins Historische verbannt, verlangt von denen, die es sehen und ihm zuhören, dass sie seine Gegenwärtigkeit selbst produzieren: seine vergessenen Spuren, seine erstickten Schreie, seine Verzweiflungen und seine Hoffnungen, kurz: seine Bilder & Töne. Nur ein Kino, das seinem Zuschauer und –hörer diese Freiheit lässt und zugleich zumutet, kann dem inhärenten Drang des Mediums zum eigenen Totalitarismus entgehen.“


Wolfram Schütte: „Agonien und Gegenwart der Erinnerung“. In: Frankfurter Rundschau, 14.9.1985. Zitiert nach: Informationsblatt zu `Shoah´, herausgegeben von dem internationalen Forum des jungen Films / Freunde der deutschen Kinemathek. S. 11

Die exakte Beschreibung von Zuständen und Gefühlen lassen die Vergangenheit fast wie Gegenwart erscheinen. Während sich auf den Gesichtern der Opfer noch heute Scham, Angst und Trauer widerspiegeln, tragen die Täter ihre Gesichter wie unbewegte Masken, erwähnen Zahlen und Statistiken, rekonstruieren akribisch die Ereignisse, geben detaillierte Anhaben über die Vernichtungsmaschine. Der Film macht in seiner filmischen Montagearbeit bewußt, wie das wohl ausgesehen hat, als das Grauen in die Idylle eingebrochen ist. Und er zeigt, wie das funktionieren konnte.

Zentrale Filmografie Politische Bildung Band VIII, Opladen 1994, S. 92

Claude Lanzmanns neunstündiger Dokumentarfilm `Shoah´ animierte die Rezensenten zum Dienst nach ästhetischer Vorschrift. Jetzt kommt das TV-Werk auch ins Kino“:

„Die öffentlichen Reaktionen waren gedämpft, man tat gerade eben seine Pflicht, den Film nicht einfach zu ignorieren. Schließlich geht es in Claude Lanzmanns auf der Berlinale gezeigten, zuletzt in den dritten Fernsehprogrammen ausgestrahlten Dokumentation `Shoah´ um die deutschen Verbrechen am europäischen Judentum: da mag man sich denn doch nicht Teilnahmslosigkeit nachsagen lassen.
Die Rezensionen gingen freilich merkwürdig auf Distanz, das heißt, sie behandelten `Shoah´ wie irgendein anderes cineastisches Kunstwerk und machten in aller Seelenruhe Dienst nach ästhetischer Vorschrift. `Die Poesie der Landschaft steht in striktem Gegensatz zu den Stimmen, die wir hören, und den Gesichtern, die wir sehen.´ Oder: `Noch nie ist in einem Film die wohlfeile Botschaft von der versöhnenden Kraft umgreifender bodenständiger Zusammenhänge, anmutiger Landschaften und malerischer Heimaten gründlicher demontiert worden.´

Während der `Spiegel´-Rezensent sich hinter dem Film versteckte, ließen sich alle, die noch vor Jahren bei der rauschenden `Holocaust´-Party das publizistische Tanzbein geschwungen hatten, diesmal gar nicht erst blicken. Die Chefs der öffentlichen Meinung fühlten sich durch `Shoah´ nicht angesprochen. Kein Augstein und keine Gräfin Dönhoff waren zu vernehmen.
Schon gut, man kann schließlich nicht alles und jedes kommentieren, und außerdem werden die Juden dadurch auch nicht wieder lebendig. Und, mal ganz ehrlich, ist es nicht langsam, da wir uns dem Jahr 2000 nähern, an der Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen? Was bringt es denn, die alte Geschichte immer noch einmal aufzurühren? Wir wissen doch nun alles schon. Sechs Millionen Juden sind in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten umgekommen, na gut, ermordet worden, wem denn so feinsinnige sprachliche Unterschiede wichtig sind. Wir wissen, wie es in den Lagern zuging. Wir haben in Schullehrfilmen die nackten Frauen auf dem Weg zu ihren Mördern, wir haben die Leichenberge und die unwürdigen Schlafstätten gesehen. Wir kennen die Psyche der Täter: seelenlose Bürokraten, für die der Mensch nur ein Aktenzeichen, für die Mord nur eine auszuführende Dienstanweisung war, Menschen wie du vielleicht, aber nicht wie ich.

(…) Während wir so mit der Vergangenheit abgeschlossen haben und sie mit schulbuchmäßigen Reflexen weit von uns weisen, während die Realität der Judenvernichtung sich längst zum abstrakten Anlass und zum Beweis unserer intakten Moral verselbstständigt hat, während es uns, mit einem Wort, in der Auseinandersetzung mit den Verbrechen an den Juden immer nur um uns ging, werden wir von Lanzmanns `Shoah´-Dokumentation in unserer Eigenschaft als die moralischen Sieger der Nazi-Verbrechen grausam beschämt.
Statt Gelegenheit zur Empörung zu bekommen, müssen wir zuhören, statt die Nazi-Vergangenheit zu bewältigen, müssen wir ihre menschliche Gegenwärtigkeit zur Kenntnis nehmen. Da sitzen sie nun, im Anzug oder im bunten Freizeithemd, die wir nur schwarzweiß als stumme Leichenberge kannten und anders wohl auch gar nicht kennenlernen wollten: Juden, die den Vernichtungslagern lebend entkommen sind, Juden, mit denen wir für die Dauer des neunstündigen Films das Leben in den Vernichtungslagern zu teilen haben, das wir doch nicht mit ihnen teilen können.

(…) Je länger der Film dauert, je häufiger wird mit der Kamera auf den heutigen Gleisen durchs Tor ins (…) verlassene Lager Auschwitz einfahren müssen, während der Mann vom Sonderkommando berichtet, die Toten in den Gaskammern seien wie Steine gewesen, sie seien, wenn man die Tür geöffnet habe, wie Steine von einem Lastwagen gefallen, je länger sich diese Vergangenheit in der Gegenwart des Zuschauers zusammen, desto mehr nimmt auch das Bedürfnis zu, diesem Film zu entkommen und die Flucht zu ergreifen vor den anklagenden Opfer, die freilich wie Lanzmann so brutal sind, niemanden anzuklagen.

`Shoah´ ist ein Film, der, anders als wir oder das Rührstück `Holocaust´, die Schuldfrage nicht stellt, weil die ja auch, man fasst sich plötzlich entgeistert an den Kopf, von den Deutschen damals beantwortet wurde. Da haben wir jahrelang aufgebracht mit Fingern auf die Täter gezeigt, als bestünde irgendein Zweifel an ihrer Täterschaft. Lanzmann hört ihnen zu, er hört denen zu, die wir allemal niederbrüllen würden. Er hätte keine Schwierigkeit, eine Talkshow mit SS-Unterscharführern zu bestreiten. Wir hingegen sind zum Zeichen unserer antifaschistischen Mustergültigkeit empört, wenn, wie vor Jahren geschehen, der Nazi Michael Kühnen zu `III nach 9´ eingeladen, auf unseren Druck hin dann freilich wieder ausgeladen wird.

Nein, in `Shoah´ müssen wir uns das anhören, wie Herr Dr. Grassler, damals stellvertretender NS-Kommissar im Warschauer Getto, sich an diesen Zeitraum beim besten Willen nicht erinnern kann. Die schönen Bergtouren vor dem Krieg, ja, an die könne er sich erinnern, aber die Zeit in Warschau, nein. Ehe wir noch entrüstet dieses Nazischwein einen Lügner schimpfen können, von wegen nichts gewusst, nichts mitbekommen, sinniert er auch schon mit rührender Hilflosigkeit: `Sehen Sie, das Schöne behält man, und das Schlechte verdrängt man. So ist der Mensch. Und das ist doch auch gut so.´ Hat er nicht recht, der Herr Dr. Grassler?
Er hat nur deshalb nicht recht, weil die Juden in Lanzmanns Film, die das Vergessen bitter nötig hätten, es allen in den Gesprächen sichtbaren Anstrengungen der Verdrängung zum Trotz nicht fertig bringen. (…)“


Ch. Schultz-Gerstein: „Merkwürdige Distanz. Claude Lanzmanns neunstündiger Dokumentarfilm `Shoah´ animierte die Rezensenten zum Dienst nach ästhetischer Vorschrift. Jetzt kommt das TV-Werk auch ins Kino“. Szene Hamburg 4/1998. S. 64.

Das könnte dich auch interessieren …