Eine Gesellschaft in Bewegung?

Formen der Wahrnehmung, der Realitätsverarbeitung und des Handelns

Bettina Greffrath (1993)

Die Gegenwartsbilder der untersuchten Filme zeigten sich durch ein spezifisches Empfinden bestimmt: durch das Gefühl, in einem mitunter unwirklich anmutenden Zwischenreich zu existieren, in dem traditionell und historisch gelernte Sichtweisen und Orientierungen außer Kraft sind und die Realität dem einzelnen undurchschaubar und zumeist feindlich entgegentritt. Die Aufmerksamkeit in diesem Kapitel gilt nun der inneren Dynamik in diesem „Zwischenreich“.

Bereits in der genauen Analyse des häufigen Figurentypus des Heimkehrers zeigte sich: Menschen, die von außen in die Nachkriegsrealität versetzt werden, lässt dieses Erleben selten unverändert. Zwischen dem Gestern und dem Morgen liegen Prozesse der Wahrnehmung, Analyse, Bewertung, liegt eine Orientierung, Entscheidung, wenn auch nur selten eine personale Wandlung.

In diesem Kapitel interessieren mich zunächst typische Verläufe, Strukturen und Resultate dieser in den Filmen spezifisch gezeichneten Prozesse. Wie vollzieht sich der Schritt aus Vergangenheit und Gegenwart in die Zukunft bei den Protagonisten der Filme? Welche Verarbeitungsweisen der Gegenwart werden vorgeführt, welche propagiert? Welche konkreten Haltungen gegenüber Dingen und Menschen, welche Verhaltensweisen werden positiv bewertet?

 

Orientierungsversuche im Kollektiv: Das Beispiel UND ÜBER UNS DER HIMMEL

Ein Gesamt-„Kaleidoskop“ der Nachkriegsdeutschen gestaltete Josef von Baky in UND ÜBER UNS DER HIMMEL. Die exemplarische Analyse dieses ersten unter amerikanischer Aufsicht uraufgeführten Spielfilmes erscheint deshalb als Problemaufriss für dieses Kapitel besonders geeignet.

Weitere Beispielfilme

Die Analyse der in den Spielfilmen vorgeführten Orientierungsprozesse 1) offenbarte folgende typische Struktur: Menschen, insbesondere die Heimkehrer, blicken durch Fenster in eine fremd gewordene Welt. Die Häufigkeit dieses Motivs ‚Menschen am Fenster‘ (es findet sich in etwa 20 % der untersuchten Filme) verweist auf die offenbar unausweichliche Auseinandersetzung mit alltäglichen Problemen, mit den Folgen von Krieg und Zerstörung. Geschaut wird aus dem Schutzraum der eigenen Wohnung, aus einem mehr oder minder heilen Innenraum. Diese Menschen am Fenster zeigen zynische Verzweiflung und Selbstbetäubung 2), geistige Verwirrung aufgrund von Kriegserlebnissen 3), depressive Todessehnsucht 4) oder das Gefühl der individuellen Zukunftslosigkeit 5).

„Die geringe Aussicht“ dieses Ausblicks wird satirisch noch einmal in der BERLINER BALLADE kommentiert:

„Otto kommt in seine Wohnung zurück, in der jetzt ein Schieber und eine Heiratsvermittlerin die noch intakten Zimmer besetzt haben. Seine Möbel und sein Hausrat sind angeblich fast vollständig geplündert. Die beiden führen ihn in ein Zimmer, in dem die ganze vordere (Fenster-)Front und ein Teil des Daches fehlen. Hier soll Otto nun wohnen. Off: Von diesem Zimmer hatte man eine schöne Aussicht und doch schien ihm die Aussicht recht gering. 6)

In DER APFEL IST AB (1948) führt der Sanatoriumsprofessor Petri (Helmut Käutner) seinem Patienten Adam ein Rollo vor, das – mit verschiedenen bildlichen Motiven ausgestattet – die Sicht aus dem Fenster, auf die Trümmer der Nachkriegsrealität, verstellt. Petri beschreibt dieses Verstellen der Sicht als wichtiges Therapeutikum. Er hat diese „sinnreiche Erfindung“, „die den Patienten vorübergehend von Zeit und Umwelt löst“, vor jedem Fenster seines Sanatoriums anbringen lassen. Diese Sinnestäuschung habe „an sich nur symbolische Bedeutung“, sei aber von „erstaunlicher Heilwirkung“:

Adam: Und Sie meinen, man kann vergessen, was dahinter ist?
Petri: Vorübergehend, ja.
Adam: Und wenn man rauskommt?
Petri: Dann ist der Patient geheilt und als körperlich und seelisch erneuertes Individuum in der Lage, die Dinge so zu sehen, wie sie sind, ohne ihren schädlichen Einflüssen zu unterliegen. Der Patient-wählt selbst diese durch Wunsch- und Traumkomplexe fixierten Ausblicke.
(Eine Krankenschwester zeigt daraufhin mit den Worten.‘ ‚Hier sind die Muster, mit denen wir im allgemeinen auskommen.‘ eine Reihe von Rollos mit verschiedenen Bildmotiven.)
Schwester: Einsame Insel. Unter Blütenbäumen. Über den Wolken. Das Meer ruft. Schweigen im Walde.
Petri: Und dann die, die an bestimmte örtliche Vorstellungen gebunden sind…
Schwester: (wieder neue Rollos herunterziehend) Panorama von Wien. Sur les toits de Paris – über den Dächern von Paris. Das Matterhorn. New York mit- der Freiheitsstatue.
Petri: Wird in letzter Zeit sehr viel verlangt. “ 7)
Adam wählt schließlich das Motiv „einsame Insel“.

Vom Hinsehen und Wegsehen, von Störungen oder Hindernissen in der Wahrnehmung handeln eine Reihe von Filmen in ihren wichtigen Motiven. So kennzeichnet der Film DIE MÖRDER SIND UNTER UNS die Figur des „Mörders“ Brückner durch seine selektierende, ausgrenzende Wahrnehmung: In einer Szene wird der Fabrikant gezeigt, wie er völlig unberührt und voller Appetit ein belegtes Brot aus einem Stück Zeitungpapier verzehrt, auf dem zu lesen ist: „2 Millionen vergast!“ In einer anderen Szene rümpft Brückner die Nase über das Ruinenfeld, über das ihn der Protagonist Dr. Mertens führt:

„So was sollte man nur vom Weggucken kennen, so was will man ja gar nicht mehr sehen, so was will man vergessen, und zwar möglichst bald.“ 8)

In EHE IM SCHATTEN beklagt die Jüdin Elisabeth Wieland: „Ach, warum haben wir nie klarer gesehen?“. In LIEBE ’47 scheint Beckmanns Todessehnsucht gerade durch Wahrnehmungen verursacht: Der Heimkehrer sieht im Bett seiner Frau einen fremden Mann und hat alptraumartige Visionen: Ihn verfolgen die Bilder von gefallenen Kriegskameraden.

Eine Realitätswahrnehmung ohne Tabus, eine umfassende Erfahrung des einzelnen wie des Kollektivs propagiert – in der Form einer Parabel – lediglich einer der untersuchten Filme: DER GROSSE MANDARIN. Dieser Ausnahmefilm nennt als eine wesentliche Voraussetzung für Frieden und Gerechtigkeit in einer Gesellschaft die Erfahrung gerade der belastenden Momente der eigenen wie der Existenz der Mitmenschen. Dazu gehört die Fähigkeit, auch das Dunkle im Zusammenleben der Menschen und in sich selbst zu sehen.

Dieses ‚Dunkle‘ wird im Untersuchungszeitraum zunehmend vom Hellen überstrahlt, und zwar ist diese Beobachtung durchaus wörtlich zu verstehen: Immer seltener wird die Finsternis der Trümmerstädte, das Grau der Existenz der Nachkriegsdeutschen sichtbar gemacht 9). In den (musikalisch unterstützten Stimmungs-)Bildern dominiert zunehmend das Licht: 1948 vor allem in ländlich-sonnigen Handlungsräumen 10) und in Filmen, in denen Kinder als Figuren einer sorglosen, heiteren, weil realitätsfernen Existenz in Hauptrollen zu sehen sind 11).

Von liebevollen Blicken auf die Welt ist trotz gelegentlicher Romantisierungen der deutschen Landschaft und des bäuerlichen Lebens – nur selten etwas zu spüren 12). Das Verhältnis der Menschen zur Wahrnehmung ihrer Welt erscheint im Überblick in den Filmen fast durchgängig gestört, negativ. Gesehen und erlebt werden fast ausschließlich Verluste, Zerstörungen und Not diese spiegeln sich in den schmerzverzerrten Gesichtern der ‚Menschen am Fenster‘. Die Wahrnehmung selbst erscheint als Ursache des Schmerzes, des seelischen Elends. Nicht selten zeigen die Filme deshalb Prozesse der Selbstbetäubung durch Alkohol, haltloses Vergnügen und das Ausleben geschlechtlicher Lust 13), im Lärm der Schieber- oder Nachtlokale oder auf dem Rummelplatz.

Der Ort, wo „einem Hören und Sehen vergeht“, wo es gelingt, sich für eine Weile aus der Welt zu nehmen, wo Leid und Schuld in der Schnelligkeit, im Rausch der Bewegung und der Farben unsichtbar werden und die Ohren vor lauter Lärm taub, ist der Rummelplatz. Der Jahrmarkt ist wichtiger Schauplatz in einer ganzen Reihe von Filmen unseres Untersuchungszeitraumes 14) und in den Vergleichsfilmen SCHICKSAL AUS ZWEITER HAND und NACHTWACHE. Der Rummelplatz ist stets auch ein Ort der Verführung, der sittlichen und seelischen Gefährdung. Es gibt in den Filmen immer wieder moralisierende oder ironisch-kritische Wendungen gegen die hohlen, eben selbstbetäubend ‚unechten‘ Vergnügungen der Zeit, wie z.B. Kabarett und Nachtbarprogramme, Maskenbälle und Tanzveranstaltungen. In allen diesen Stellungnahmen schwingt der Vorwurf mit, in diesen Zeiten seien bestimmte Formen der Lust und der Weltentrückung unangemessen. 15)

In der Vorfernsehzeit war jedoch – neben dem Kino der Jahrmarkt einer der wenigen Orte für die Massen, der als Fluchtpunkt für wenig Geld Zerstreuung und Ablenkung versprach. Der Jahrmarkt wird bei Hellmut Jaesrich zu einem bedeutungsvollen Bild auch der zweiten Nachkriegszeit. In seiner Besprechung des 1947 erstmals veröffentlichten Caligari-Buches von Siegfried Kracauer hält Jaesrich im Mai 1948 fes

„Der Bedrückung der äußeren Welt, der starren Behörden und des mächtigen Seelenzaubers steht das wirbelnde Chaos des Jahrmarktes gegenüber, die einst und jetzt gern gebrauchte Allegorie für die Verwirrung des Nachkriegsdeutschlands. “ 16)

Schwankender Boden, verwirrte Sinne, Blicke in die Finsternis – wie kein anderer Film ist WOZZECK durch diese Empfindungen bestimmt. Als fünfter DEFA-Film im Dezember 1947 uraufgeführt, erzählt er Büchners Geschichte von der Entmenschlichung des Menschen durch den Menschen. Diese ist zugleich auch eine Geschichte von der Gefährlichkeit ungebändigter Lust, von den Hindernissen der Liebe, den Verlockungen des Jahrmarkts und der äußeren Reize… 17)
(..)

Das Dunkle, die Finsternis, ist in den Filmen, ob optisch oder verbal präsentiert, häufig Metapher oder Umschreibung für die Nachkriegsgegenwart. Dieses Bild verbindet sich mit Empfindungen der Angst, Verzweiflung, Unausweichlichkeit und des Ausgeliefertseins. Sumpf und Abgrund stehen für die Gefühle des einzelnen gegenüber seinem Lebensweg in dieser Zeit.

Dunkel ist es im Wortsinn in den Wohnungen der Armen, Kranken und Verlassenen 18) und in der Umgebung von Verzweifelten 19), im übertragenen Sinne in den Herzen von Ungläubigen 20). Finsternis ist aber auch Metapher für das nationalsozialistische Deutschland 21) und die Folgen dieser Zeit, die als „grausige Höhle“ erscheinen kann 22).

Die untersuchten Filme, die die Gegenwart im Nachkriegsdeutschland ins Bild setzen, sind sehr häufig durch Hell-Dunkel-Empfindungen und optische Lichtgegensätze bestimmt. Gerade die frühen Filme bewegen sich in einer fast durchgängig dunklen Atmosphäre, die sich allenfalls zum Filmende hin auflöst. Diese Umdüsterung lässt zum Teil auch die Differenzierungen, die verschiedenen Details der Handlung, die Unterschiede der gezeigten Verhaltensweisen, die durch den Inhalt der Handlung eigentlich angelegten Stimmungswechsel kaum hervortreten.

Die ‚Menschen am Fenster‘ begreifen, fühlen oder ahnen, in was für eine Welt sie gekommen sind. Wie gebannt bleiben einige von ihnen dort stehen 23) und wenden sich damit von der gegenwärtigen Welt ab 24). Für diese Figuren läuft vor dem Fenster ein Film ab, alptraumartig, nicht zu beeinflussen. 25) Erst am glücklichen Ende werden in der Mehrzahl der Filme diese umdüsterten Figuren unvermittelt in ein neues Licht geführt. 26)

Nur wenige Protagonisten sehen mit offenen Augen wie Hans Richter in UND UBER UNS DER HIMMEL und tauchen in diese fremde und feindliche Welt ein, wie Fische in das Wasser, passen sich an, werden aktiv und gehen ungewohnte Wege. Im Untersuchungsraum werden die positiv bewerteten Protagonisten zunehmend in eine deutliche Distanz zu diesen belastenden Wahrnehmungen gesetzt.27) Am deutlichsten propagiert schließlich der Vergleichsfilm NACHTWACHE 28) eine selbstgewählte Wahrnehmungseinschränkung. Hier ist es der Schauspieler Gorgas (Rend Deltgen), der an sich selbst zweifelt und den Blick immer wieder auf die Vergangenheit und das gegenwärtige Elend richtet. Über ihn sagt die Protagonistin Cornelie:

„Das ist ein sehr unglücklicher Mensch. Ohne irgendeinen Glauben, sogar ohne den an sich selbst! (… )“

Luise Ullrich, die Darstellerin der Cornelie, weist in ihren Memoiren interessanterweise auf eine Diskrepanz zwischen ihrer und der Sichtweise des Regisseurs Harald Braun hin:

Der Ton, den Harald Braun für die Ärztin wollte, war nicht mein Ton… Er wollte sie sanft, mild, leise, wehmütig, und ich wollte ihr hinterrücks eine Spritze Lebenswillen und Selbstironie verpassen, und wenn Harald Braun es nicht merkte, einen Hauch Humor, weil ich finde, die schrecklichsten Dinge im Leben kann man als intelligenter Mensch nur mit Humor ertragen. Wir mussten Vokabeln klären. Harald sagte: ‚Verstehen Sie doch, die Ärztin ist vom Leben enttäuscht und desillusioniert.‘ Ich sagte: ‚Das stimmt, Sie haben recht.‘
Das muss man immer sagen, wenn man mit einem Regisseur verhandelt und seine eigene Meinung durchsetzen will.
Aber Enttäuschung heißt ja wörtlich das Ende einer Täuschung, ist also positiv und der Anfang von Wahrheit. Und Glück liegt dort, wo keine Illusionen mehr sind.‘ Harald Braun war vollkommen anderer Ansicht. Er verstand überhaupt nicht, dass man heiter enttäuscht sein und sich von Illusionen angenehm befreit fühlen kann. Trotzdem ließ er mich die Rolle so spielen, wie ich sie eben mit meinen Möglichkeiten spielen konnte.“ 29)

Tatsächlich gelang es, wie die Analyse dieses Films ergab, Luise Ullrich, die Figur der Cornelie in einer interessanten und für die Frauenfiguren der untersuchten Filme ungewöhnlichen Schwebe zu halten, sie als nüchterne und zugleich heiter-sinnliche Frau erscheinen zu lassen. Dennoch obsiegt in der Gesamtaussage des Films die von der Schauspielerin bereits am Drehbuch heftigst kritisierte „triefend(e,…) Sentimentalität“ 30). Luise Ullrichs grundlegend andere Anschauung, eine der lebendigen Offenheit für Enttäuschungen, für eine illusionslose Wahrnehmung konnte sich nicht durchsetzen: Cornelie propagiert verbal ein spezifisches Wahrnehmungs- und Verarbeitungsmodell, das entscheidend durch Momente des Verschließens vor einer Auseinandersetzung mit Gegenwart und Vergangenheit, durch das Moment der Gefühlsdämpfung bestimmt ist. Zur Begründung, warum sie nicht wieder mit ihrem ehemaligen Geliebten Gorgas zusammen sein will, sagt Cornelie:

„Ich würde daran zugrunde gehen. Nein, Stefan. Alles, was Du tust und was Du redest, das ist immer noch das ist immer noch wie Krieg Und ich kann nichts mehr hören (dabei hält sie sich die Ohren zu), ich will nicht mehr dran denken!“ 31)

So verhallt auch das Credo der moralisch letztlich diskreditierten Gegenfigur Gorgas für eine tabulose und deshalb notwendig schmerzhafte Wahrnehmung. 33) Seine heftigen auch emotionalen Reaktionen werden von zwei der positiv bewerteten Hauptfiguren, Pfarrer Heger (Hans Nielsen) und Cornelie, als „Theaterspiel“, also künstliche Verstellung, vorgestellt. 32) Auch die selbstdefinierten Rollen für Heger und den anderen Positivprotagonisten, den katholischen Kaplan Imhoff (Dieter Borsche), sind eher bestimmt durch „Nicht-Wahrnehmung“ und eine abwartende Haltung:

„Imhoff: Das ist unser Amt, Heger. Allein zu sein, zu warten und die Nachtwache zu halten, während es um uns herum dunkel ist und während etwas geschieht, was wir nicht wissen!“ 34)

„Es wartet die Welt in langen Schlangen.
Sie wartet, dass man den Hunger stillt.
(Im Bild: lange Schlangen vor Lebensmittelgeschäften)
Es wartet der Angler, was zu fangen,
es wartet der Jäger auf das Wild. (…)
Der Film muss oft auf Sonne warten (Filmteam) (…)
     Refrain: Im großen Wartesaal des Lebens,
     (überfüller Wartesaal, z.T. unterlegt mit jazziger Musik)
     da wartet jeder auf das Glück.
     Die meisten warten ganz vergebens,
     das hält vom Warten nicht zurück.
     Und können wir das Glück nicht zwingen
     und liegt die letzte Hoffnung weit,
     wir sind nicht aus der Ruh‘ zu bringen.
     Bald kommt die nächste Wartezeit,
(…) hier wartet ein Herr auf seine Hosen
und hier einer auf eine bessere Welt
(in Lehnstuhl ein alter Mann mit einer Decke über den Knien)
Man wartet auf die Milch mit erstem Lallen
(…) man wartet, dass die Gitter endlich fallen.
(Sträfling in Zelle, der durch die Gitter schaut)
Wir alle warten, unbeirrt.
     Refrain: Im großen Wartesaal des Lebens…
Es warten Menschen und Maschinen,
daß man vom Warten sie befreit,
es rosten rastende Turbinen,
und so vergeht die schönste Zeit.
(Im Bild ruhende Fabrikhalle; Off-Kommentar mit sanfter Stimme:) „Alle Räder standen still (…)“

Einer der letzten Heimkehrerfilme und vielleicht der letzte „Trümmerfilm“ fängt die Stimmung – nun schon reflektierend, karikierend in diesem Lied ein: Die BERLINER BALLADE blendet zurück in die erste Zeit nach der Rückkehr. Dieser Film, am letzten Tag des Jahres 1948 uraufgeführt, gibt noch einmal einem Erleben Ausdruck, das, wie in der Untersuchung des Heimkehrer- und des Menschenbildes 35) bereits deutlich wurde, durch Momente wie Düsternis und Passivität in der Auseinandersetzung mit der Umwelt geprägt ist.

Die männlichen Heimkehrer wirken insbesondere in den ersten 25 Spielfilmen oft wie gelähmt. Ihre Bewegungen sind langsam, schlurfend, nicht selten stehen sie mit hängenden Armen in der Szenerie. Worte reichen als Anstoß für das Einschwenken der Männerfiguren in einen aktiven, in die Zukunft gerichteten Kurs zumeist nicht aus. Auch zeigen die Filme fast nie aktive und eigenständige Orientierungsprozesse. Vielmehr wird die neue Lebensperspektive in der Mehrzahl aller Fälle von außen, von anderen Menschen eröffnet. Andere haben für den Perspektivlosen eine Aussicht geschaffen, – wie Hans Richter in UND ÜBER UNS DER HIMMEL plötzlich eine Stadt im Wiederaufbau sieht und sich nach weiteren schockhaften Erlebnissen aktiv für einen Weg entscheiden kann. 36) Neue Perspektiven finden die Protagonisten oft durch das Vorbild und die Überredungskunst einer Frau. 57) In einer ganzen Reihe von Filmen gehen die Impulse von väterlichen Autoritäten oder anderen Führerfiguren aus. 58)

Zusammenfassung

Die Mikroanalyse der Spielfilme fragte nach der inneren Dynamik der Gegenwartsbilder: Welche typischen Formen, Strukturen und Resultate der Wahrnehmung, Bewertung, Haltung, Orientierung und des Handelns lassen sich in den Prozessen der Rückkehr und Orientierung erkennen, welche werden propagiert, welche verworfen?

Die exemplarische Analyse des Spielfilms UND UBER UNS DER HIMMEL veranschaulichte charakteristische Momente der Orientierungsverläufe, wie sie in vielen Spielfilmen des Untersuchungszeitraumes vorgesteilt werden: Am Anfang steht der Blick aus dem Fenster, das schockierende und schmerzauslösende Gewahr werden der Veränderungen und Beschädigungen der äußeren Welt. Die Konsequenzen dieses Anblicks sind durchgängig negativ: Sie bestehen in psychischem Leid und Persönlichkeitsdeformationen, in Handlungsunfähigkeit und Fehlorientierungen. Dagegen erscheinen beharrende – von den Erfahrungen der Außenwelt abgeschlossene – Menschen eher beherzt und „richtig“ handeln zu können.

In den Filmen, die etwa bis Ende 1947 produziert wurden, werden diese schmerzverzerrten Blicke in die Außenwelt und das Gesehene noch oft gezeigt, die sich am Außen orientierenden Menschen tendenziell neutral beschrieben und die Auswirkungen der Wahrnehmungen und die aus ihnen resultierenden Haltungen und Handlungen vorgeführt. Versuche der Selbstbetäubung erscheinen verständlich, auch wenn sie mitunter deutlich mit Orten des moralisch-sittlichen Abseits 39) verbunden werden. Alkoholismus und äußere Verwahrlosung erscheinen als normal-menschliche Reaktion auf die Wahrnehmung der Wirklichkeit. In den später produzierten Filmen tendiert die filmische und handlungslogische Bewertung dieser „Figuren am Fenster“ dazu, solche Formen der Realitätsverarbeitung als charakterliche Schwäche zu bewerten. 40) Heilung und eine positive Lebenseinstellung lässt sich, so behaupten einige der Filme der Jahre 1948 und 1949 ausdrücklich, viele unterschwellig, nur für den erringen, dem es gelingt, sich vor der Wahrnehmung der dunklen Realität zu verschließen und zu schützen: z.B. hinter den geschlossenen Gardinen des „Heims“ oder in lichten und moralisch heil gezeichneten Arealen ländlichen Lebens.

Die Gestalten der Finsternis, die weiterhin nicht von den negativen Momenten der Vergangenheit wie der Gegenwart absehen können, werden zunehmend in das gesellschaftliche Abseits gedrängt. Die Figuren, die intellektuell und radikal in ihrem Verhältnis zur Welt gezeichnet werden, fungieren in den Filmgeschichten immer häufiger als Störer, die den Seelenfrieden und den Blick auf die positiven Momente der Existenz hindern. Gegenüber ihrer Entbindung von den Sicherheiten einer Tradition oder eines Glaubens ist bereits, ohne dass in den Filmen dieser Begriff gebraucht wird, der Vorwurf des Nihilismus spürbar. Die emotionale Aufgewühltheit dieser Figuren wird zunehmend als egozentrische und/oder theaterhafte Attitüde diskriminiert. 41)

In einer Übergangsperiode zeigt sich dieses Anwachsen der Distanz in einer Reihe von satirisch-kabarettistischen Versuchen, in denen sich außerdem eine neue Form des Gleichmuts, des Fatalismus und dies ein sehr häufiges Motiv – eines ruhigen Wartens zeigt. Im Jahr 1948 werden allein sechs Spielfilme uraufgeführt, die surreale Karikierungen von Nachkriegsproblemen enthalten. 42) Diese Handlungsmodelle – noch deutlich durch die materiellen und gesellschaftlichen Lebensbedingungen der unmittelbaren Nachkriegszeit geprägt – zeigen inhärent bereits Strategien der bewussten Abtrennung der Gefühlswelt und der Alltagsexistenz des einzelnen von der äußeren Welt. 43)


Anmerkungen
  1. hierzu auch: „Im ‚Inneren‘: von Mensch zu Mensch“ im Beitrag: Erstaunte Blicke in eine fremd gewordene Welt – Die Gegenwart im deutschen Nachkriegsfilm
  2. B. die Figur des Arztes in DIE MÖRDER SIND UNTER UNS
  3. B. die Figur des Soldaten in IRGENDWO IN BERLIN
  4. B. die Figur des Jochen Wendt in ARCHE NOVA
  5. So etwa Martin Delius in FILM OHNE TITEL
  6. Eigenes Filmprotokoll
  7. Eigenes Filmprotokoll
  8. Filmprotokoll; Pleyer, 1965, a.a.O., 24. Sequenz, S. 185
  9. …auch wenn das Motiv der Beschädigung durch diese wirklichkeit weiterhin auftaucht…
  10. FILM OHNE TITEL, SCHULD ALLEIN IST DER WEIN u.a.
  11. DIE KUCKUCKS, 1-2-3-CORONA u.a.m.
  12. In IRGENDWO IN BERLIN zerstören Jungen mit gestohlenen Feuerwerkskörpern das Gemälde eines unsympathisch gezeichneten Malers. Es zeigt einen kriegsgeschädigten Baum:
    Junge: Schade, das schöne Bild
    2. Junge: Drüben auf dem Hof steht auch so’n kaputter Baum.
    Maler: Beim Malen habe ich mich über jedes kleine Blättchen gefreut (…)
  13. B. Mitzi in UND ÜBER UNS DER HIMMEL, Erika in STRASSENBEKANNTSCHAFT
  14. a. in: WOZZECK,STRASSENBEKANNTSCHAFT, DER HERR VOM ANDEREN STERN
  15. hierzu „Thesen zur Notwendigkeit der menschlichen Existenz“ im Beitrag: Theorien der Vergesslichkeit und Eindeutigkeit – das Menschenbild.
  16. Jaesrich übersetzt den Titel „From Caligari to Hitler“ (wie später auch die Herausgeber der ersten deutschen Fassung von Kracauers buch)missverständlich mit „Von Caligari bis Hitler“. In: Zs Dionysos 1.Jg./11, 21.5.1948, S. 8
  17. Die Analyse des Film siehe bei der Dokumentation zu Wozzeck
  18. B. DIE MÖRDER SIND UNTER UNS, UND ÜBER UNS DER HIMMEL, MORITURI
  19. DIE MÖRDER SIND UNTER UNS, VOR UNS LIEGT DAS LEBEN
  20. Besonders deutlich in NACHTWACHE
  21. FINALE, GRUBE MORGENROT, ZWISCHEN GESTERN UND MORGEN U:A:M:
  22. Besonders deutlich in VOR UNS LIEGT DAS LEBEN
  23. So in: IRGENDWO IN BERLIN
  24. Die Hauptfiguren in: DIE MÖRDER SIND UNTER UNS, FINALE
  25. Eine ganze Reihe von Menschen sieht hier zu, wie einer der Jungen eine hohe Trümmerrand erklettert und schließlich zu Tode stürzt – eine Erfahrung, die den Vater des Freundes des Jungen langsam aus seiner Lethargie und Passivität löst.
  26. In den genannten Spielfilme wie auch z.B. in: DIE ZEIT MIT DIR, VOR UNS LIEGT DAS LEBEN
  27. Das geschieht oft bereits durch die Wahl des Hauptortes, der Handlungszeit oder auch den Umraum einer gehobenen sozialen Schicht. Besonders deutlich in DIE ANDERE und DIESE NACHT VERGESS‘ ICH NIE
  28. Uraufführung. 21.10.1949
  29. Aus: Luise Ullrich: Komm, auf die Schaukel, Luise. Zit. Nach Göttinger Kinothek e.V. (Hg.): Filmfest 1982. Filmstadt Göttingen 1982, S. 27
  30. Ebd
  31. Dialogprotokoll, aus dem Nachlass der Göttinger Filmaufbau GmbH, S. 23
  32. Folgender Dialog geht der eben zitierten Äußerung Cornelies voraus:
    Gorgas: Friede – Friede und Geborgenheit… mein Gott, Cornelie… wo denn in aller Welt… wo nur? Du, Du verkriechst Dich hierher in … in einen Bunker… Ist das denn Friede? Nein, Cornelie! Wir können uns um das Leben nicht herumdrücken. (…) Immer noch krepiert man oder flieht man oder kann dem Schicksal gerade noch entwi(s)chen, aber man fühlt doch wenigstens, dass es da ist, das Leben, wie es uns mitnimmt und trägt und hebt und…
    Cornelie: … und zerstört!
    Gorgas: Lieber singen und bete, meinst Du!
    Cornelie: Arbeiten, Stefan! (Ebd.
  33. Eine konkrete sinnliche Liebe zu Cornelie lebt Heger im Film nicht, sondern propagiert stattdessen ein abstraktes christliches Ideal der Nächstenliebe. Vgl. hierzu die Analyse zu NACHTWACHE
  34. Dialogprotokoll; a.a.O., S. 29
  35. 5.2.1. bzw. 5.3
  36. So „brauchen“ die Jungen in 1-2-3 CORONA den Schock, dass durch eine ihrer Aktionen das Zirkusmädchen Corona verunglückt, um einen Ausweg aus dem Elend des Schwarzhandels zu finden.
  37. a. in : FINALE, DIE MÖRDER SIND UNTER UNS, WEGE IM ZWIELICHT, BLOCKIERTE SIGNALE
  38. In: ZUGVÖGEL, FREIES LAND, MENSCHEN IN GOTTES HAND, DIE KUPFERNE HOCHZEIT, GRUBE MORGENROT u.v.a.m.
  39. … wie es mehrfach die ungezügelte Sinnlichkeit des Rummelplatzes ist…
  40. B.: FINALE, NACHTWACHE
  41. hierzu 5.3.5
  42. FILM OHNE TITEL , DIE SELTSAMEN ABENTEUER DES FRIDOLIN B., DER HERR VOM ANDEREN STERN, DER APFEL IST AB, BERLINER BALLADE, DER GROßE MANDARIN; vgl. hierzu auch Pleyer, 1965, a.a.O., S. 121ff
  43. Diese Haltung wird in NACHTWACHE schließlich zur Voraussetzung für eine seelische Heilung und eine gefestigte und zukunftszugewandte Identität: Das Ende von Trauer, Verbitterung und Verzweiflung sei nur mit ‚verstopften Sinnen‘, einem blockierten Erinnerungsvermögen und einer starren Orientierung an außer uns liegenden Prinzipien und Glaubenssätzen erreichbar. Vgl. hierzu 5.4.3 und 5.6.9

Auszug aus Kapitel 5.4. „Eine Gesellschaft in Bewegung? – Formen der Wahrnehmung, der Realitätsverarbeitung und des Handelns“, in: Bettina Greffrath: Verzweifelte Blicke, ratlose Suche, erstarrte Gefühle, Bewegungen im Kreis. Spielfilme als Quellen für kollektive Selbst- und Gesellschaftsbilder in Deutschland 1945-1949. Diss. Universität Hannover 1993, S. 427-452
[Orthographie aktualisiert und Anmerkungen an die Online-Veröffentlichung angepasst. D.E.]

Grundlagen

Im Folgenden veröffentlichen wir Auszüge aus einzelnen Kapiteln der Dissertation von Bettina Greffrath: Verzweifelte Blicke, ratlose Suche, erstarrte Gefühle, Bewegungen im Kreis. Spielfilme als Quellen für kollektive Selbst- und Gesellschaftsbilder in Deutschland 1945-1949. Diss. Universität Hannover 1993

[Orthographie jeweils aktualisiert und Anmerkungen an die Online-Veröffentlichung angepasst. D.E.]

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