Zukunftsentscheidungen und -entwürfe
von GFS-Admin_2021 · Veröffentlicht · Aktualisiert
Krisenzeiten – Zeiten für Utopien?
Utopien sind zurück. Das jedenfalls legt ein Blick in die gegenwärtige Medienlandschaft nahe: „Utopien gedeihen in Krisenzeiten besonders gut“. „Weggabelung. Krisenzeiten wie die jetzige lassen Utopien sprießen“ Diese oder ähnliche Überschriften zu Medienbeiträgen und auch zu Tagungsangeboten und Universitätsveranstaltungen findet man in diesen Zeiten, die Bundeskanzler Scholz als „Zeitenwende“ bezeichnet und in denen es durchaus auch Beispiele für die Suche nach nachhaltigen Alternativen im Alltag gibt. Krisenzeiten also Zeiten für Utopien?
Frage an die Nachkriegszeit. Wie sah es in dieser für viele Menschen in Europa existenziellen Krisenzeit im Alltag der Menschen in Deutschland aus? Waren diese Menschen in der Lage und auch Willens, Utopien oder auch Zukunftsentwürfe zu entwickeln? Auskunft sollen und können uns dafür Spielfilme aus jener Zeit geben.
Wenn man Siegfried Kracauer folgt, sind Filme Spiegelungen von kollektivem Bewusstsein, von Sehnsüchten, Ängsten, Tagträumen der Menschen und der Zeit, in der und für die sie gemacht wurden. Dann müssten sich in den Nachkriegsfilmen – wenn Krisenzeiten Zeiten für Utopien sind – auch Zukunftsvorstellungen und utopische Ideen wiederfinden lassen.
Bettina Greffrath hat sich und ihren Lesern diese Fragen auch gestellt:
- Sind in den Gesellschaftsbildern der zweiten Nachkriegszeit, so wie sie die untersuchten Spielfilme zeichnen, Lösungsvorschläge und Entwürfe für das neue Deutschland nach dem Krieg enthalten?
- Von welchen Traditionen, Einflüssen und ethisch-politischen Entscheidungen sind diese Entwürfe, Modelle und erkennbaren Orientierungen geprägt?
Sieh dazu auch im Beitrag Spielfilmanalyse und sozialpsychologische Beschreibungen : Neuordnung – Von innen oder nur äußerlich?
Wir stellen im Folgenden die Befunde vor, die Bettina Greffrath aus ihren Filmanalysen gezogen hat. Generell lässt sich die eingangs gestellten erste Fragen eher mit NEIN beanteorten. Nur wenige Filme „erheben den Anspruch, komplexe Modelle für neue politische und gesellschaftliche Strukturen und Verhältnisse in Deutschland vorzustellen und zu diskutieren.“ (Greffrath) Dies Filme, alle in der SBZ/DDR produziert, versuchen dabei filmisch und politisch an Traditionen aus der Weimarer Republik anzuknüpfen.
Im Wesentlichen offenbaren die Nachkriesgspielfilme, dass die Menschen kaum in der Lage und auch nicht Willens waren, Utopien oder auch Zukunftsentwürfe zu entwickeln. Rückwärtsgewandte Zukunftsvorstellungen werden allerdings in der Filmen, unterschiedlich zwar, durchaus angeboten.
Beispielfilme
Nur wenige Spielfilme unseres Untersuchungszeitraumes erheben den Anspruch, komplexe Modelle für neue politische und gesellschaftliche Strukturen und Verhältnisse in Deutschland vorzustellen und zu diskutieren. 1946 beschäftigt sich FREIES LAND mit dem Thema Bodenreform, 1948 der Film GRUBE MORGENROT mit der Frage nach der Vergesellschaftung der Montanindustrie. Beide Filme sind DEFA-Spielfilme.
Zu untersuchen war in diesen Filmen insbesondere, ob diese in den Filmen gestalteten Gesellschaftsmodelle Bewegungen und Entscheidungen innerhalb der Nachkriegsbevölkerung reflektieren, ob sich kollektive Strömungen in diesen Filmen gleichsam ausdrücken.
(…)
FREIES LAND versucht durch seine semidokumentarische und aspektreiche Anlage das gesellschaftliche Lösungsmodell der Bodenreform in seiner Sinnhaftigkeit zu erklären und dabei zugleich emotional für den einzelnen attraktiv als Hoffnung und Glück erscheinen zu lassen. Das Problematische dieses Films liegt m.E. jedoch gerade in einer Diskrepanz zwischen aktuell erlebter Realität und der modellhaften und idealisierenden Filmerzählung. Insbesondere die verbalen Reflexionen der Bauern wirken zu künstlich. Der Handlungsausgang lässt seinen spekulativ-beschwörenden Charakter, besonders wenn man den Film aus analytischem und historischem Abstand betrachtet, deutlich hervortreten. Wollte man diese neue Wirtschafts- und Gese1lschaftsreform unterstützt durch diesen Film propagandistisch konsensfähig machen, so gelang dieser Versuch – zumindest im Fall von FREIES LAND offenkundig nicht. Eine der ersten Kritiken stellte fest:
„Überraschend allerdings war der schwache Besuch dieses Filmes. Der Bildstreifen rollte vor vielen leeren Stuhlreihen ab. „23 Der Film fand von seiner Uraufführung im Oktober 1946 bis zum Jahr 1950 nur rund 110.000 Zuschauer.24
In seinem Versuch, eine grundlegende Umgestaltung, eine gesamtgesellschaftliche Lösung aus einer überkommenen (Besitz-) Ordnung zu propagieren und modellhaft vorzuführen, bleibt FREIES LAND auch unter den DEFA-Spielfilmen ein Ausnahmefall wie der (…) Spielfilm GRUBE MORGENROT.
Er ist] ein späterer Versuch, ein in sich kohärentes Modell für eine Neugestaltung des Wirtschaftssystems durch eine Spielfilmhandlung vorzustellen und von ihm zu überzeugen. (…)
Der Film schildert den Versuch der Belegschaft einer Grube im Jahr 1931, sich gegen die Schließung ihrer unrentabel arbeitenden Zeche zur Wehr zu setzen. Diese Themenstellung ist als Versuch zu verstehen, ein ökonomisches Lösungsmodel I vorzuführen, bzw. für bereits erfolgte politische Umgestaltungen Begründungen nachzuliefern. Der Film beschreibt das Scheitern dieses Versuches. Der zur Steigerung der Fördermengen erfolgte Einsatz einer Schrämmmaschine führt zu einem Unfall, der 151 Bergleute das Leben kostet. Auch die Übernahme der Grube durch die Bergleute in Eigenregie scheitert. Einer der Steiger, Ernst Rothkegel (Claus Holm), weiß sowohl 1931 als auch 1945 den Grund: Nur ein planwirtschaftlich organisierter Verlustausgleich könne die unrentabel produzierende Zeche am Leben erhalten.
Mit dieser kurzen Skizze sind die wesentlichen Charakteristika dieses Films angedeutet: Die Gruppe der Bergleute zeigt sich nicht in der Lage, selbst eine Lösung des Problems zu finden. Sie erscheint nicht einmal lernfähig, sondern wählt in beiden historischen Situationen (1931, 1945) die gleiche Lösung: die kollektive Selbstverwaltung der Grube.
Außerdem zeigen die Bergleute in ihrer alltäglichen Existenz in beiden historischen Phasen eher depressive, kopflose oder auch fatalistische Einstellungen und Haltungen. Als Handlungsmotive äußern sie kaum politische Vorstellungen, sondern allein materielle Bedürfnisse und Notwendigkeiten.2s
Durch verschiedene Äußerungen zeigen die Bergleute zudem, dass sie geführt werden möchten. Diese Führerfunktion übernimmt im Film eine persönlich starke und zugleich mutige, unabhängige, theoretisch ausgebildete ‚Avantgarde‘, hier vor allem die Figur des Ernst Rothkegel. Über ihn wird in der Inhaltsangabe gesagt, er habe „auf der Bergschule seine Steigerprüfung mit ’sehr gut‘ bestanden“ und wörtlich:
„Er hat die Augen offen gehalten und begreift, dass bei der jetzigen Form der Kapitalwirtschaft seine Kumpels nie auf einen grünen Zweig kommen werden.“29 Unterstützt wird Rothkegel durch den Ingenieur Dr. Becker (Oskar Kaesler). Auch ein oder zwei der älteren Bergleute treten als personale Autoritäten auf.
GRUBE MORGENROTs unterschwelliges Bild der politischen Einsichts- und Handlungsfähigkeit der einfachen Bergleute ist somit eher pessimistisch. Die Bergleute scheinen nicht in der Lage, über die unmittelbaren und gegenwärtigen Interessen hinaus Gesamtzusammenhänge zu erfassen, reagieren auf ökonomische Schwierigkeiten eher verzweifelt bis kopflos, mit Depressionen oder auch Alkoholismus.30 Gesellschaftlicher Neubeginn und Fortschritt scheint nur unter Leitung und Führung der Intelligenz möglich, die durch traditionelle Autoritäten unterstützt wird. Die wirtschaftliche „Lösung“ für die Unrentabilität der Grube findet die Filmerzählung einzig in der Festlegung auf ein planwirtschaftliches System.
Beispielfilme
Kinder und Jugendliche sind in den Jahren 1947 und (besonders) 1948 häufig Haupthandlungsträger. 1) Dieser Trend korrespondiert mit der Tendenz zu einer heiteren und optimistischen Lebenssicht in den Filmen. Kinder werden zu Stellvertretern einer Einstellung, die von den Erwachsenen zu diesem Zeitpunkt offenbar glaubhaft kaum verkörpert werden konnte. Ab Herbst 1948 spielen Kinder kaum noch eine dominante Rolle in den Filmen, bis zum Ende unseres Untersuchungszeitraumes zeigt nur noch der DEFA-Film DIE KUCKUCKS ungestüm lebensfrohe und zuversichtliche Kinder.
Im Jahr 1949 sind Jugendliche und junge Erwachsene als Hauptfiguren in anderer Konnotation von Bedeutung. Mindestens drei Spielfilme haben die Straffälligkeit als zentrales Motiv: Der DEFA-Spielfilm UND WENN’S NUR EINER WÄR und die Westproduktionen MARTINA und MÄDCHEN HINTER GITTERN. Zu diesem historischen Zeitpunkt war das Alltagsproblem der Jugendkriminalität und der sittlichen Gefährdung offenbar immer noch dringlich. Die Fürsorgeerziehung hatte sich – folgen wir den Ausprägungen dieses Motivs in den Filmen – bereits institutionalisiert, war aber in ihrer Form noch umstritten. Während frühere Spielfilme die Perspektiven für straffällig gewordene Kinder und Jugendliche häufig düster zeichneten, 2) verbindet sich 1949 dieses Motiv auf neue Weise mit einer Hoffnung: der Hoffnung auf Besserung und Wiedereingliederung in die Gemeinschaft.
Beispielfilme
Unterschwellig wird in mehreren Filme ein NIE WIEDER KRIEG angedeutet, dies aber aus der Opferperspektive, nicht aus (Mit-)Täterperspektive, so auch in DIE MÖRDER SIND UNTER UNS. Da wird allerdings auch klar Anklage erhoben gegen eben diese Mörder und Rechenschaft gefordert.
Nur ein Film stellt sich explizit die Fragen, woran historisch anzuknüpfen sei und und wie dies geschehen kann: UND WIEDER 48
Andere Wege einschlagen aufgrund der gemachten Erfahrungen. Diese neuen Wege bietet ROTATION an: Helmuth und Inge im Treppenhaus von Hans’ Wohnung. Helmuth bringt den Mut auf, Hans aufzusuchen. Der Vater umarmt ihn und vergibt ihm. Helmuth wird zivil eingekleidet. Hans spricht zu ihm von der Schaffung einer Welt ohne Krieg und Not. Helmuth und Inge treffen einander am gleichen Bahnübergang. Sie liegen in der Sonne, und Helmuth beharrt darauf, dass sich das Geschehene nicht wiederholen darf. Gemeinsam schlagen sie einen anderen Weg ein als Helmuths Eltern vor zwanzig Jahren. Und DIE BUNTKARIERTEN müssen zweimal einen Krieg erleiden, weil sie nicht die richtigen Lehren gezogen hatten.
Parteilichkeit und daraus abgeleitete Lehren für die Gegenwart, dafür steht der Film RAT DER GÖTTER und formuliert damit zugleich politische Stellungnahme zur unmittelbaren Vergangenheit und seiner eigenen Gegenwart.
In vielen Filmen offenabern die Gegenwarts- und Zukunftsorientierungen aber eine Verweigerung, sich mit der – schuldbeladenen – Vergangenheit auseinanderzusetzen. Dieses fehlende historische Bewusstsein macht es unmöglich, Utopien zu entwickeln.
Nur wenige Filme propagieren wie UND WIEDER 48 den unverstellten Gebrauch des eigenen Verstandes. Kein Film tut dies so deutlich wie der in der amerikanischen Zone entstandene Spielfilm DER RUF.
Erst Ende der 40er Jahre treten einige der deutschen Spielfilme aus der lähmenden Gegenwartsbefangenheit heraus und wagen zumindest gedanklich Entwürfe einer anderen Gesellschaft, die über die sentimentale Propagierung eines abstrakt bleibenden Humanismus hinausgehen, so z.B. UNSER TÄGLICH BROT. Doch tritt in den meisten Fällen eher Defaitismus, der Glaube an die naturgesetzliche Wiederholung des Immergleichen in der Geschichte an die Stelle eines positiven Entwurfs.
Exemplarisch an der Anlalyse des Films DIE KUPFERNE HOCHZEIT verdeutlicht B. Greffrath, wie in den Spielfilmen, mal mehr, mal weniger ausgeprägt, „Mikrokosmen der Harmonie“ restituiert werden.
Der exemplarisch untersuchte Film DIE KUPFERNE HOCHZEIT ist motivisch noch durch Kränkungen und Störungen besonders des männlichen Selbstbewusstseins bestimmt. Auch der für die Nachkriegszeit typische Orientierungsverlust bricht sich erkennbar. Zugleich ist DIE KUPFERNE HOCHZEIT handlungslogisch und dramaturgisch auf eine nostalgische Beschwörung und Restitution traditioneller Ordnungssysteme hin angelegt. Die Rückführung der Paare in das alte Glück hat hier die Rückkehr patriarchaler Autoritäten zur Voraussetzung: Der verstorbene Lehrer der drei Ehemänner gibt diese ethische Orientierung – ein Brief „aus dem Jenseits“ wird zur läuternden Botschaft. Der Vater der von Hertha Feiler gespielten „Mette“ kehrt nach siebenjähriger Abwesenheit aus Amerika (!) zurück. Erst durch das Eingreifen dieser beiden, durch ihre Erinnerung an „ewige Werte“ wie Treue, Liebe, Mütterlichkeit gelingt es den Paaren, ihre Ehen von den Gefährdungen zu befreien. (1)
Während die Männerfiguren für die Wende zum Happy-End ihre Einstellungen kaum verändern (2), wird von den Frauen eine „Rückverwandlung“ verlangt. Sie sollen als Lebensziele und Faustpfand des weiblichen Glückes wieder die Mütterlichkeit und Rücksichtnahme auf die Verletzlichkeit, den jungenhaften Eigensinn und das Versorgungs- und Liebesbedürfnis des Mannes erkennen. (3) Während die Frauen sich trennen müssen, und zwar von ihrer kühlrationalen Zurückhaltung und Kontrolle des männlichen Verhaltens (Hedwig), von der Bewunderung und sinnlichen Liebe eines Mannes (Inge), von den romantisch-absoluten Erwartungen an die Liebe und Einfühlung des Partners (Mette), bleiben die Männer sich gleich bzw. überwinden ihre Demütigungen und Kränkungen und finden so „zu sich selbst zurück“.
Die Rückkehr in eine unverändert geordnete und gutbürgerlich-gediegene
Welt, in eine Harmonie zwischen den Geschlechtern und Gesellschaftsschichten, ist so behauptet auch der Handlungsverlauf von DIE KUPFERNE HOCHZEIT – die Voraussetzung für einen Neuanfang. Es ist dies eine Rückkehr in die auch in den Unterhaltungsfilmen der NS-Zeit dominierenden Handlungsräume einer bürgerlichen Wohlsituiert- und Kultiviertheit.
Anmerkungen
- Diese Faktoren sind wiederum solche, die sich bereits in den Gegenwartsbildern als negativ wirksame Kräfte präsentiert fanden: Die Großstadt, sinnliche Verführung durch Künstler, intellektueller Zynismus, weibliches Streben nach geistiger Überlegenheit und Berufstätigkeit und mangelnde Bescheidenheit in Bezug auf die Erwartungen an das Leben und den (männlichen) Partner,
- Sie haben ihre „Fehler“ entweder schon vorher eingesehen oder können nun ihre Eigenarien erst ungehindert leben,
- So lauten die verbal postulierten und handlungslogisch bestätigten Thesen der patriarchalen Autoritätsfiguren,
Beispielfilme
Am Anfang scheinen sie in den Filmen bunt durcheinander gewirbelt: Menschen mit unterschiedlicher regionaler und sozialer Bindung treffen auf ihren Wegen und Haltepunkten – kurzzeitig zu „Kaleidoskopen“ vereinigt – aufeinander. Der Prozess einer sozialen Neuformation der Gesellschaft ist in den frühen Nachkriegsspielfilmen oft thematisiert: Immer wieder wird hier von der Egalisierung sozialer Unterschiede erzählt, ihre Verkehrung und Bedeutungslosigkeit behauptet und zum Teil auch bewusst propagiert. In mehr als 25 % der Spielfilme – es sind vor allem die bis Ende des Jahres 1948 uraufgeführten – spielt Kritik an sozialen Barrieren oder zumindest an materialistischen Haltungen eine Rolle, wird Bescheidenheit und Einfachheit im Lebensstil gefordert. Auch das Überschreiten von Klassen- und Bildungsunterschieden ist vielfach Motiv. 1)
Nur wenige Filme im gesamten Untersuchungszeitraum nähern sich diesem Problem analytisch-kritisch wie die beiden DEFA-Spielfilme
AFFAIRE BLUM und UND WIEDER 48. Eher schon wird das Problem beschreibend oder auch beschwörend umkreist: Paare finden sich über Bildungs- und soziale Herkunftsschranken hinweg 2), wobei der männliche Teil der Verbindung oft den sozial höheren Rang einnimmt, die zumeist jüngere Frau jedoch eine lebenspraktisch-moralische Überlegenheit in die Waagschale wirft. 3) In den ersten Filmen der Westzonen und in den DEFA-Produktionen des gesamten Untersuchungszeitraums scheitern Figuren, die starr an ihren alten, gewohnten Positionen festhalten. Diese Figuren, zumeist sind es junge Männer 4), scheinen auf das neue Leben unter dem Vorzeichen materieller Bescheidenheit, Improvisation und Reduzierung der Lebensansprüche nicht ausreichend vorbereitet. Sie bedürfen deshalb zumindest der Unterstützung einer lebenspraktisch zupackenden Frau. Ungleichheit wird in der unmittelbaren Nachkriegssituation der Trümmerstädte zumeist auf moralische, nicht auf soziale Unterschiede zurückgeführt. Fast alle „normalen “ Deutschen erscheinen gleichermaßen expropriiert, Wohlstand nur auf der Grundlage von Egoismus und Skrupellosigkeit zu erlangen.
Während noch der DEFA-Spielfilm UNSER TÄGLICH BROT in zwei Figuren ein solches Scheitern bei der Neuorientierung beschreibt, 5) häufen sich in den Filmen der Westzonen ab Ende 1948 Szenerien, in denen die sozialen Hierarchien und Abgrenzungen, die Differenzierungen der Gesellschaft zunehmend wieder sichtbar sind. 6) Haben die Männer zumeist in ihre angestammte Berufsrolle, die Frauen in ihre Orientierung als Frau und Mutter zurückgefunden, so bewegen sich die Filme in ihren Handlungsräumen wieder in einem restituierten Bürgertum. Hauptfiguren haben zumeist gehobene Positionen als Fabrikbesitzer, Ärzte, Architekten. 7) Dienstboten und Firmenmitarbeiter umgeben diese in selbstverständlicher Unterordnung und Harmonie. Dieses Einfügen wird in den Filmen oft durch die spezifische Zeichnung der Figuren (von einfacher Bildung, schlichter Intelligenz und schlichtem Gemüt) als „vernünftig“ begründet.
Am Ende des Untersuchungszeitraumes umkreist noch einmal ein Spielfilm diesen gesamten Problemkreis und beantwortet ihn auf spezifische Weise: TRAGÖDIE EINER LEIDENSCHAFT (1949) 8)
Anmerkungen
- den Abschnitt „Kritik an Verkünstelung und klassendivergierender Sinnentleertheit“ im Beitrag „“Zum Menschenbild in den Nachkriegsspielfilmen“.
- In: UND ÜBER UNS DER HIMMEL, FILM OHNE TITEL, ZWISCHEN GESTERN UND MORGEN, DIE ZEIT MI DIR u.a.m.
- Ausnahme ist hier die Figur des Hans Richter in UND ÜBER UNS DER HIMMEL allerdings nur insofern, als hier ein Mann aus einer inferioren Bildungs- und sozialen Herkunftsposition heraus auftritt,
- Z. B. UND ÜBER UNS DER HIMMEL: Walter: in DIE KUCKUCKS: Heinz Krüger
- Das sind: Harry Webers, gespielt von Paul Edwin Roth und Marie, Karl Webers Nichte, alias „Mary“, gespielt von Dolores Holve.
- B.: DIE ANDERE; DIESE NACHT VERGESS‘ ICH NIE: Vgl. auch die in Charakterisierung des Films DIE KUPFERNE HOCHZEIT
- hierzu auch den Beitrag „Von der Bedeutung der spezifischen Produktionsbedingungen in den Besatzungszonen“. Diese Tendenz fand sich insbesondere in der amerikanischen Zone.
- dazu exemplarisch, die Analyse dieses Films
(…) In den bis zur Mitte des Jahres 1948 fertiggestellten Spielfilmen [sind] nur in Ausnahmefällen und dann auch nur in Einzelfragen gesellschaftliche oder politische Modelle enthalten (…). In der Frage nach dem Morgen werden in aller Regel nur sehr abstrakte, humanistische Ideale verbal formuliert. 1)
Diese Beobachtung gilt auch für die DEFA-Spielfilme, obgleich diese regelmäßig zeitgenössische Alltagsprobleme wie Arbeitslosigkeit, Jugendverwahrlosung, das Umsiedlerproblem u. v. a.m. thematisieren und beanspruchen, Lösungsvorschläge vorzustellen.
Einige der frühen DEFA-Filme konzentrieren sich auf Themen, die um eine grundlegende Umgestaltung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Strukturen kreisen. Die Mikroanalyse dieser Filme zeigte aber, dass die propagierten neuen kollektiven Formen in der Landwirtschaft bzw. im Bergbau seltsam abstrakt bleiben. Die Handlungsmodelle der Solidarität, „gegenseitigen Bauernhilfe“ und der demokratischen Mitwirkung werden lediglich verbal beschworen. Ihnen gehen in den Filmen keine Prozesse der Erfahrung, Einsicht und Neuorientierungen voraus.
In aller Regel formulieren auch die in der sowjetischen Besatzungszone produzierten Spielfilme ihre Hoffnungen auf die Erneuerung der Gesellschaft ausschließlich im Hinblick auf die nachfolgende Generation. Eine ganze Reihe von Spielfilmen (Schwerpunkt 1947 und erste Jahreshälfte 1948) beschäftigt sich mit Kindern und Jugendlichen und deren Entwicklung in der Nachkriegszeit. Zentral für diese Porträts ist sehr häufig die Frage nach den Möglichkeiten einer Wandlung durch Erziehung. Die Diskussionen um verschiedene Modelle der Erziehung reflektieren in den DEFA-Filmen auch deren Bedeutung für eine gesamtgesellschaftliche Humanisierung und Demokratisierung. In den beiden exemplarisch untersuchten Westproduktionen des Jahres 1949 dominiert dagegen eine selbstbemitleidende Schwermut. Für beide ist die typische Opferperspektive entscheidend und die Differenzierung in Charakterkriminelle und Zeitopfer, Die Protagonistinnen dieser Filme 2) finden ihren Weg auch nicht wie in den DEFA Filmen 3) In der Gruppe, sondern als einzelne. Durch die Distanzierung der Figuren von den „tatsächlich charakterlich vorbelasteten“ Jugendlichen und dadurch, dass ihre eigentliche „Unschuld“ bewiesen wird, verliert sich im Verlauf der Handlung die Frage nach ihrer persönlichen Wandlung.
Wissenschaftlich begründete pädagogische Einsichten und Methoden sind in den Westproduktionen nicht ernsthaft thematisiert. Allenfalls werden fragwürdige Kasernenmethoden zur Herstellung einer formalen, abstrakten, aber eben nur äußerlich bleibenden Ordnung gezeigt und deutlich negativ bewertet. Maximen wie die Pestalozzis (Erziehung durch Vertrauen und Liebe) bleiben abstrakt und erscheinen glaubwürdig nur im Kontext der aus der Masse der verwahrlosten Mädchen herausgehobenen Fälle. Die Protagonisten erleben – auch im DEFA-Film 1-2-3 CORONA – die positive Wende durch neue Lebensverhältnisse und -ziele (Arbeit, Liebe, Ehe), die Möglichkeit, ihre positive Leistungsbereitschaft und ihre Unschuld zu beweisen. Selbst in dem radikaler analysierenden DEFA-Spielfilm UND WENN’S NUR EINER WÄR‚ zeigt sich eine zeittypische Schere: Demokratische Entscheidungsstrukturen werden einerseits propagiert, Gruppen, die nach dem Führerprinzip organisiert sind, andererseits positiv gezeichnet. 4) Das Motiv der Wandlung und des Lernens fand sich relativ häufig. Fast nie und wenn, dann allenfalls bei Kindern, sind solche Veränderungen Ergebnisse eines die ganze Persönlichkeit betreffenden Prozesses.
Die Frauenfiguren lassen in der Regel keine positiv besetzten alternativen und gesellschaftlich orientierten Rollenkonzepte erkennen. Die „Lösungen“ der Filme bestehen zumeist in einer Einordnung – besonders der jungen Frauen – in kleinbürgerlich-familienorientierte Lebensentwürfe. Der DEFA-Spielfilm UND WIEDER 48 durchbricht dagegen nicht nur traditionelle Geschlechtsrollenklischees: In der Protagonistin wird zugleich ein positives Bild von Intellektualität entworfen, das sich fern vom typischen Bild der Emotions- und Lebensferne bewegt und eine Orientierung zwischen Gestern und Morgen entwirft. 5)
Untersucht wurde außerdem, inwieweit eine Auseinandersetzung mit der Kultur und den gesellschaftlichen Organisationsformen anderer Nationen für Orientierungsprozesse und Zukunftsentscheidungen bedeutsam geworden sind. 6) Erst etwa ab Herbst 1948 finden sich in den Westzonen gelegentlich direkte Reflexionen auf die Rolle der Besatzungssoldaten und Hinweise auf deren Herkunftsländer. 7) Auffällig ist dabei, dass sich solche Bilder in aller Regel zwischen Nachahmung und Abgrenzung bewegen. Die Analyse von Handlungsverlauf und -ausgang wie auch einige Detailbeobachtungen des exemplarischen Film HALLO FRÄULEIN zeigten, dass dieser wie andere Filme des Untersuchungszeitraums neben der offiziellen „völkerverbindenden“ Botschaft“ auch distanzierende, negative Empfindungen der Deutschen gegenüber den Ausländern präsentiert. Neben den nach außen verbal propagierten Einstellungen finden sich – teilweise kontrapunktisch unterschwellige Bewertungen: Die Ausländer erscheinen zwar nicht als unsympathisch, doch erweisen sie sich letztlich als lebenspraktisch und z. T. auch moralisch unterlegen. Eine vielschichtige Beweiskette durchzieht den Fi1m, die belegt, dass grundlegende Mentalitäts- und Kulturunterschiede Ausländer und Deutsche voneinander mehr trennen als vereinen.
Erst ab Ende 1948 mehren sich in den Filmen der Westzonen Modelle für Inseln der Glückseligkeit. Handlungsraum ist dabei oft die ländliche Abgeschiedenheit und (oft zugleich) die Wohlsituiertheit einer gehobenen Gesellschaftsschicht. Deutlich sind in den gesellschaftlichen Deutungsmustern, Selbstbildern und normativen Orientierungen der Filme ab Ende 1948 neue Verfestigungen zu erkennen. Filme wie der exemplarisch untersuchte DIE KUPFERNE HOCHZEIT enthalten unterschwellige Behauptungen sowohl über die menschliche „Natur“ wie über eine gleichsam natürliche Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und Klassen- bzw. Schichten.
Die unscharf gebliebenen Neuorientierungsversuche der ersten Nachkriegsspielfilme weichen starren Gesellschaftsbildern, die denen, des Unterhaltungsfilms des Dritten Reiches oft zum Verwechseln ähnlich sind, Diese Bilder rücken Modelle ehelicher und familialer Bindung wie des traditions- und wohlstandsorientierten Alltagshandelns in den Mittelpunkt. Sie bewegen sich noch in einem labilen, erst im Verlauf der Handlung durch die Rückkehr zur Außenleitung 8) wiederhergestellten, Gleichgewicht, das eine neue Sicherheit und Festigkeit, ein restituiertes Selbstwert- und Identitätsgefühl für den einzelnen verspricht.
An die Stelle einer eigenständigen Erfahrung tritt die fraglose Übernahme der von Autoritäten als natürlich und ethisch positiv bewerteten „ewigen menschlichen“ Werte und Qualitäten, die den einzelnen auf bestimmte Rollen festlegen. Die Suche nach Neuem, der in den ersten Jahren durch das tiefe Empfinden der Ohnmacht, der Schwäche und Verletztheit begrenzte Ausblick, beschränkt sich jetzt selbst den Horizont: berufliche Tüchtigkeit, materieller Wohlstand und familiale Wohlanständigkeit umgrenzen nicht nur die lebendigen Äußerungen, die Träume und Sehnsüchte, sondern auch die Wahrnehmung und das Gefühl gegenüber der Außenwelt.
Im größten Kinoerfolg unseres Untersuchungszeitraumes NACHTWACHE fand sich das Problem zugespitzt: Verletzungen, deren Ursachen in der Vergangenheit liegen, erscheinen nur dem überwindbar, Zukunft nur für den zu gewinnen, dem es gelingt, dem weltlichen Geschehen im Glauben an Gott einen höheren Sinn zuzumessen. Heftige Gefühle der Trauer, der Liebe, der Verzweiflung an sich selbst und am Verhalten anderer Menschen werden zunehmend diskreditiert, eine Abschottung von solchen Gefühlen wird als notwendig und hilfreich für die Genesung des Individuums propagiert.
Wie aus den DEFA-Spielfilmen spätestens in den 50er-Jahren, so verschwindet aus den Produktionen der Westzonen und der jungen Bundesrepublik ab 1949 zunehmend jedes dynamische, widersprüchliche und die eigene Lebenswelt kritisch analysierende Moment. Die lebendigen Reaktionen, die in den frühen Nachkriegsspielfilmen noch sichtbar waren, die Ratlosigkeit, verwirrte Suche und hilflose Beschwörung humanitärer Werte, weichen einer zunehmenden Abschließung und Erstarrung:
Während sich bei der DEFA zumindest vorübergehend die Tendenz einer widerspruchsgereinigten Propagierung von außen übernommener Sichtweisen und Gesellschaftsmodelle verstärkt, zeigt sich in Westdeutschland eine immer ausschließlichere Tendenz zur Rückkehr in Vorsteilungswelten, die primär eine private Perspektive im Blick haben und durch Vorstellungen der natürlichen Bestimmung und Ordnung gesellschaftlichen Zusammenlebens bestimmt sind.
Bettina Greffrath (1993)
Anmerkungen
- So zeigte sich die „Ansprache“ als besonders häufiges Motiv.
- MARTINA und MÄDCHEN HINTER GITTERN
- 1-2-3 CORONA und UND WENN’S NUR EINER WÄR‘
- Sehr ähnlich z.B. auch in 1-2-3 CORONA und GRUBE MORGENROT
- Die Verbindung von tabuloser Rationalität und unverstellter Emotionalität verkörpert auch die Hauptfigur Professor Mauthner (gespielt von Fritz Kortner) in DER RUF
- Siehe dazu den Beitrag „Gegen das Fremde“
- Das hängt vermutlich auch mit zu befürchtenden Sanktionen oder zumindest verstärkter Beobachtung solcher Filmthemen durch die Filmkontrollbehörden zusammen (…)
- D.h. der Orientierung an der Tradition und von Autoritätsfiguren propagierter Moral
Grundlagen
Im Folgenden veröffentlichen wir Auszüge aus einzelnen Kapiteln der Dissertation von Bettina Greffrath: Verzweifelte Blicke, ratlose Suche, erstarrte Gefühle, Bewegungen im Kreis. Spielfilme als Quellen für kollektive Selbst- und Gesellschaftsbilder in Deutschland 1945-1949. Diss. Universität Hannover 1993
[Orthographie jeweils aktualisiert und Anmerkungen an die Online-Veröffentlichung angepasst. D.E.]