Der Ruf (1949)

Inhalt
In der Emigration in Kalifornien erhält Professor Mauthner den Ruf, als Philosophieprofessor an seine alte Universität Göttingen zurückzukehren. Seine amerikanischen Freunde raten ihm ab, aber er reist trotzdem mit seinen jüngeren Mitarbeitern über Paris zunächst nach Berlin. Dort trifft er seine geschiedene Frau, die ihm erzählt, dass ihr gemeinsamer Sohn in Kriegsgefangenschaft sei. Aus dem Gespräch zwischen dem jüdischen Professor und seiner nichtjüdischen Frau wird deutlich, dass sie, in der Hoffnung, damit den Sohn zu schützen, einen Nationalsozialisten geheiratet hat. Der Sohn ist nicht in Kriegsgefangenschaft, sondern Mitglied einer Gruppe junger Studenten, die unter Anführung des neiderfüllten, ehrgeizigen und nach wie vor der nationalsozialistischen Ideologie anhängenden Kollegen Fechner den zurückgekehrten Emigranten boykottieren und vertreiben wollen. Als Professor Mauthner in Göttingen seine Antrittsvorlesung hält, die, ausgehend von Plato, eine Antikriegsrede ist und sich mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzt, gibt es feindselige Reaktionen und, anläßlich eines Mauthner zu Ehren stattfindenden geselligen Abends, offen antisemitische Äußerungen. Der ohnehin kranke Professor stirbt an den Folgen der Aufregung über diese Vorgänge in dem Moment, in dem sein Sohn sich von der nationalsozialistischen Gruppe trennt und seine Frau zu ihm zurückfindet. Dem Trauerzug schließt sich auch einer der Fechner-Anhänger an.
Autoren/Innen
Filmanalyse: Autorengruppe Nachkriegsspielfilme (1993)
Zusammenstellung und Bearbeitung der Materialien: Autorengruppe Nachkriegsspielfilme (1993); aktualisiert: Detlef Endeward (2021)

Relevanz für folgende Themen

Regie: | Josef von Baky |
Produktion: | Objektiv-Film GmbH |
Drehbuch: | Fritz Kortner |
Kamera: | Werner Krien |
Bauten: | Fritz Maurischat |
Musik: | Georg Haentzschel |
Uraufführung: | 19. April 1949, Berlin |
Darsteller: | |
Fritz Kortner | Professor Mauthner |
Rosemarie Murphy | Mary |
Johanna Hofer | Lina |
Lina Carstens | Emma |
Michael Murphy | Spencer |
Ernst Schröder | Walter |
William Sinningen | Elliot |
Paul Hoffmann | Fechner |
Arno Assmann | Kurt |
Charles Regnier | Bertram |
Nr. |
Inhalt |
Länge |
Zeit im Film |
1 |
Vorspann. Straßenszenen in Los Angeles. Der farbige Hausdiener Homer trifft im Haus von Professor Mauthner ein. In der Küche sind die Vorbereitungen für die Party im Gange. Emma schwärmt vom Deutschland der Kaiserzeit. Mauthners Assistenten Mary, Elliot und Spencer treffen ein. Hausmusik, Gespräche der Partygäste. Homer singt eine Arie. |
9.40 |
0.00 – 9.40 |
2 |
Gespräch Mauthners mit einem Freund im Separé. Mauthner berichtet ihm von dem Ruf an die Universität Frankfurt und seine widerstreitenden Gefühle zur Frage seiner Rückkehr nach Deutschland. |
4.29 |
9.40 – 14.09 |
Während das Schreiben in geselliger Runde verlesen wird, redet Mauthners Freund Mary zu, Mauthner umzustimmen. Mauthner versucht, die Party wiederzubeleben. In der Küche teilt Mary der aufgeregten Emma ihre Einschätzung mit, dass Mauther die Entscheidung zur Rückkehr bereits gefällt hat. Unter den Partygästen kommt es zum Streitgespräch über das Wesen der Deutschen („Menschenfresser“). Mauthner ergreift Partei für die Deutschen, die den Massenmord nicht verhindert haben. Morgens: Emma bringt Kaffee und fragt in die Runde, ob sie ein Menschenfresser sei. |
6.25 |
14.09 – 20.34 |
|
4 |
Überfahrt. Gespräch Mauthners mit einem deutsch sprechenden Mitreisenden. Mary sorgt sich um ihn. Gespräch Mauthners mit Elliot und Spencer, die auf Deutschland gespannt sind. Gespräch Mary und Emma in der Kabine: Mary erfährt, daß Mauthner die ganzen Jahre über Päckchen nach Deutschland geschickt hat, die wohl an eine Frau gerichtet waren. Nächtliches Gespräch Emma und Mary, da Mary nicht schlafen kann. |
4.18 |
20.34 – 24.52 |
5 |
Ankunft in Europa und Zugfahrt durch Frankreich. Mauthner teilt der Gruppe seinen Entschluss mit, von Paris aus gleich weiterzufahren. Trennung von der Gruppe im Pariser Bahnhof. Mauthner setzt alleine die Reise fort. |
3.16 |
24.52 – 28.08 |
6 |
Berlin. Vorbeimarsch amerikanischer Infanteristen und Kavallerie. Zufallsbegegnung Mauthners mit einem zudringlichen alten Bekannten (Fechner), den Mauthner zunächst nicht wiedererkennt. Ein amerikanischer Beamter teilt Fechner mit, daß Mauthner an seiner Stelle die erhoffte Professur erhält. Mauthner besucht alte Bekannte, denen er die eigentlich für Lina gedachten Päckchen zugestellt hatte. Sie können ihm bei der Suche nach Lina nicht weiterhelfen. |
5.14 |
28.08 – 33.22 |
7 |
Behördengänge Mauthners auf der Suche nach Lina. Begegnung mit einem Schwarzmarkthändler. In einer Kneipe trifft er schließlich Lina, die ihm mitteilt, ihr gemeinsamer Sohn befände sich noch in Kriegsgefangenschaft. Sie bricht das Gespräch ab, teilt ihm aber ihre Adresse mit. Mauthner trifft noch vor ihr an ihrer Wohnung ein und fängt sie vor der Haustür ab. Da sie die Wohnung mit anderen teilt, schlägt Mauthner vor, das Gespräch in einem Schieberlokal fortzusetzen, von dessen Existenz er durch Fechner erfahren hatte. |
8.58 |
33.22 – 41.20 |
Im Schieberlokal. Unter den Gästen sind auch Fechner und seine Ehefrau. Fechner beschwert sich bei einem Amerikaner über Mauthner, der ihm die Professur weggeschnappt habe. Lina und Mauthner treffen ein und setzen ihr Gespräch über den Sohn fort, dem Lina Mauthners Vaterschaft verschwiegen hat. Fechner erkennt Mauthner und verabschiedet sich höflich von ihm. Lina und Mauthner geraten in einen heftigen Streit, in dem sich persönliche und politisch-weltanschauliche Gegensätze vermischen. |
8.50 |
41.20 – 50.10 |
|
9 |
Am nächsten Morgen: Lina stattet Mauthner einen Versöhnungsbesuch ab. Unverhofft treffen Emma und Mary in der Wohnung ein, Mauthner stellt ihnen seine Ex-Frau vor. |
4.20 |
50.10 – 54.30 |
10 |
Tanzabend in einer Berliner Studentenkneipe: Elliot und Spencer machen die Bekanntschaft deutscher Studenten. |
3.39 |
54.30 – 58.09 |
Zugfahrt Berlin nach Frankfurt. Mary sorgt sich um Mauthner, der von zwei jungen Männern aufdringlich beobachtet wird. Einer von ihnen ist Walter. Am Bahnhof erwarten der Hochschuldekan und Fechner die Ankunft des Zuges: Der Dekan begrüßt Mauthner, Fechner die beiden jungen Männer. |
3.27 |
58.09 – 61.36 |
|
Antrittsrede Mauthners vor großem Plenum: Rückgriff auf Platon, Ablehnung des Krieges. Bei Ende des Vortrags verläßt die überwiegende Mehrheit der Zuhörer schweigend den Saal, eine Minderheit applaudiert begeistert. Mary macht Walters Bekanntschaft. Fechner beschwert sich bei Walter über das Ausbleiben des geplanten lautstarken Protestes gegen Mauthner. |
7.53 |
61.36 – 69.29 |
|
13 |
Besprechung der Antrittsrede im Kollegium: Ein Empfangsabend für Mauthner wird angekündigt. Im Gespräch mit einem Kumpan stellt sich Walter als Linas Sohn heraus. Emma und Mauthner am Mittagstisch. Vor dem Bierkeller: Walter und Mary küssen einander. |
5.17 |
69.29 – 74.46 |
Empfangsabend im Bierkeller. Fechner spielt sich vor seinen Studenten auf und erntet Beifall für antisemitische Entgleisungen. Ein Anhänger Mauthners mischt sich ein, woraufhin es zu Handgreiflichkeiten und zur Saalschlacht kommt. Mauthner kann durch sein persönliches Auftreten die Ausschreitungen beenden, sieht sich aber ganz offen mit dem Haß seiner Gegner konfrontiert. |
7.31 |
74.46 – 82.17 |
|
15 |
Lina liest in der Zeitung von den Vorfällen in Frankfurt und von der Verstrickung ihres Sohnes. Konspiratives Treffen der Antisemiten im Bierkeller: Wegen der Suspendierung Fechners werden weitere Schritte gegen Mauthner geplant und Walter angestiftet, seinen Kontakt zu Mary auszunutzen, um in die Nähe Mauthners zu gelangen. |
3.12 |
82.17 – 85.29 |
16 |
Walter sucht Mary auf, um mit ihrer Hilfe ein Treffen mit Mauthner zu arrangieren. Lina sucht Walther auf, kann ihm jedoch nicht die Wahrheit über seinen Vater sagen, da Fechner gerade bei ihm ist. Aztbesuch bei Mauthner, den seine körperliche Schwäche ans Bett fesselt. Diskussion mit Emma, die eine baldige Abreise befürwortet. |
6.11 |
85.29 – 91.40 |
17 |
Lina erscheint an Mauthners Krankenbett. Mauther bittet sie zu bleiben, sodaß Lina dem geplanten Treffen mit Walter fortbleiben muß. |
4.13 |
91.40 – 95.53 |
Emma lässt Walter ein. Ohne seine Mutter zu bemerken, tritt er an das Bett Mauthners und bittet diesen um Entschuldigung. Der vor sich hindämmernde Mauthner nimmt aber seine Umwelt kaum noch wahr. Eine Montage veranschaulicht Gedanken und Erinnerungsfetzen des sterbenden Mauthner. Walter tröstet seine Mutter am Totenbett des Vaters. |
4.49 |
95.53 – 100.42 |
|
19 |
Einer aus Fechners Gruppe schließt sich dem Trauerzug für Mauthner an. |
0.48 |
100.42 – 101.30 |
Der nach einem Drehbuch von Fritz Kortner inszenierte Film nimmt sowohl von der Thematik als auch in der Darstellungsperspektive eine Sonderstellung unter den deutschen Nachkriegsspielfilmen ein. Er schildert das Schicksal eines emigrierten jüdischen Philosophieprofessors, der dem Ruf an seine alte Universität in Deutschland gegen den Rat seiner Freunde folgt, dort mit antisemitischen Reaktionen konfrontiert wird und scheitert.
Für gewöhnlich gilt der Regisseur als der – maßgebliche – Schöpfer eines Films. Er ist es, der die künstlerischen Anteile des Kameramannes und des Drehbuchautors, des Schauspielers und des Beleuchters, des Bühnenarchitekten, Tonmeisters und Cutters zu einem koheränten Ganzen zu fügen hat. Was einen Filmregisseur jedoch zu einem Filmregisseur macht und nicht zu einem bloßen Organisator und Koordinator der unterschiedlichen filmkünstlerischen Aufgabenbereiche, das ist die Ausprägung einer eigenen Handschrift, die erst, gleich einer Komposition, die vielfältigen filmischen Ausdrucksmittel im „Gesamtkunstwerk“ Film mit- oder gegeneinander zu einer (Wechsel-)Wirkung formt.
1948/49 übernahm Josef von Baky die Regie des so gar nicht zeitgemäßen Nachkriegsfilms „Der Ruf“. Aber dieser Film ist eben auch nicht ein Film von Josef von Baky, es ist vielmehr der seines Drehbuchautors und Hauptdarstellers Fritz Kortner, einer, der sich – zeit seines Lebens – nicht arrangierte; der 1933 als gefeierter Film- und Theaterschauspieler Deutschland verließ und über die Schweiz und Großbritannien in die USA emigrierte; der 1948 zurückkehrte und nun, vor allem als Regisseur, in unbequemen und provozierenden Theaterinszenierungen der deutschen Nachkriegsgesellschaft unerbittlich den Spiegel vorhielt, so dass er in den 60er Jahren für eine neue Generation von Theaterregisseuren wie Ivan Nagel, Peter Stein und Peter Zadek zum väterlichen Vorbild wurde.
„Der Ruf“ war Kortners erste künstlerische Arbeit in Deutschland nach seiner Rückkehr. Eigentlich hatte er von dem Intendanten Wolfgang Langhoff und dem Chefdramaturgen Herbert Ihering einen „Ruf“ an das deutsche Theater in Berlin erhalten, um dort im „Don Carlos“ den König Philipp zu spielen.
In seiner Kortner-Biografie berichtet Klaus Völker: „Am 21. Dezember 1947 traf Kortner, von Zürich über Frankfurt kommend, in Berlin ein. Als amerikanischer Staatsbürger mußte er sich hier nun unerwarteterweise an die OMGUS-Bestimmungen halten. Da das Deutsche Theater im Ostsektor der Stadt lag, kam ein Auftreten Kortners dort schon gar nicht in Betracht. Aber auch die Pläne mit dem Hebbel-Theater, wo er dann als Schauspieler und Regisseur eines amerikanischen Stückes in Erscheinung treten sollte, ließen sich 1948 nicht verwirklichen: Jede Art von `trading with the enemy´ wurde ihm untersagt. Warum die Amerikaner Kortner diese Schwierigkeiten machten, wer hier gegen ihn arbeitete, nachdem Eric Pommer und sogar der amerikanische Kulturoffizier Benno Frank zu seinen Gunsten interveniert hatten, blieb im Dunkeln. Kortner hätte damals seine amerikanische Staatsbürgerschaft aufgeben und in den Ostsektor `überlaufen´ müssen, um spielen zu können. Die Amerikaner boten ihm als Ersatz schließlich einen Film an. […]“[1]
„Der Ruf“ wurde mit amerikanischen Finanzmitteln produziert: er sollte der „Reeducation“ dienen. Kortner notierte dazu in seinen Memoiren „Aller Tage Abend“:
„Pommer, der allmächtige Filmmann der zwanziger Jahre, nun beamteter amerikanischer Leiter der Abteilung für Film, brachte die Produktion eines Films, mit amerikanischer Finanzhilfe, zustande, der sich gegen den schon damals da und dort auflebenden Neofaschismus und den zum Teil noch unbeseitigten Antisemitismus wenden sollte. Ich lieferte die Idee und schrieb das Drehbuch; die `von Baky und König-Filmgesellschaft´ engagierte mich für die Hauptrolle und Hanna (Kortners Frau, d. V.), die inzwischen eingetroffen war, als meine Partnerin.“[2]
Kortners Drehbuch zu dem Film verarbeitet seine Lebenserfahrungen in der Emigration und formuliert seine persönliche Haltung zum Hitler-Faschismus und den Anforderungen eines gesellschaftlichen Neubeginns nach 1945: Er verneint die Kollektivschuld, bekämpft jegliche Überreste eines noch vorhandenen Antisemitismus und faschistischer Haltungen, beschwört (vor allem zur Jugend gerichtet) die Chance eines gesellschaftlichen Neuanfangs, bei dem er der `Freiheit des Geistes´ (für Kortner sind das Kunst und Wissenschaft) eine tragende Bedeutung beimißt. Nicht Verdrängung, sondern Verantwortung, für das Geschehene der Vergangenheit und das Kommende der Zukunft, heißt das Wort, an das Kortner die Deutschen in diesem Film gemahnt.
Der Film beginnt in Amerika. Es ist 1948. „Jetzt ist es 15 Jahre her, dass wir uns von drüber wegmachten“, sagt Lina Carstens als Hausangestellte und guter Geist von Professor Mauthner, in dessen Haus sich deutsche Emigranten und amerikanische Freunde und Studenten zu einer kleinen Party versammeln. Es wird musiziert, über Kunst und Deutschland debattiert. Mauthner sitzt in einem zweiten Zimmer abseits und hört der Musik zu. Die Kamera isoliert ihn von dem übrigen Geschehen, das Zimmer ist dunkel, Mauthners Gesicht fast ganz im Schatten verborgen. Fränkl kommt herein und holt ihn aus seinen Gedanken. Mauthner zeigt Fränkl seine Berufung an die Universität Göttingen und erklärt, dass er überlege, nach Deutschland zurückzukehren. Kurze Zeit später, als auch alle anderen von Mauthners Plänen erfahren haben, kommt es zwischen ihm und Fränkl zum Disput (Sequenz 3). Die Musik ist verstummt, in einer halbtotalen Einstellung zeigt die Kamera einen aufgebrachten Fränkl empört zu den Freunden ausrufen: „Und ich sage euch, auch wenn es brutal klingt: Das sind doch Menschenfresser, die da drüben! Kannibalen! Ja, das sind sie! Verspürst du keinen Haß, keinen Abscheu gegen sie?“
Der aus dem Hintergrund herankommende Mauthner antwortet: „In meinen besten Momenten: nein.“
Fränkl, laut und ungehalten, wendet sich ab. „Das versteh ich nicht. Mitgemacht oder zugeschaut haben sie doch alle!“ Die Kamera fährt langsam in einer Ranfahrt aus der Halbtotalen in eine Großaufnahme von Mauthner. Während dieser Fahrt sagt er: „Ich frage dich Fränkl, der du hier so groß angibst, bist du bereit dein Leben zum Schutze anderer, unschuldig Verfolgter, zu riskieren? Es gibt da noch allerlei Gelegenheit auf der Welt. Wenn nicht, dann schweig und verlang’s nicht von anderen. Es gibt weder ein Volk von Verbrechern noch ein Volk von Helden. Was weiß ich, wie ich mich verhalten hätte, wenn ich hätte drüben bleiben können!“
1959 schreibt Kortner in Erinnerung an diese Zeit: „Meine Rückkehrabsicht stieß auf die Verdammung der vielen Ankläger gegen Deutschland. Jener erbarmungslos gewordenen Getretenen, Geflohenen, um Vergaste und Ermordete grimmig Trauernden. Meine anders geartete Einstellung zu Deutschland beruhte, von meinem Wunschtraum abgesehen, auf der Erkenntnis, dass jedes Volk unter gewissen sozialen und historisch bestimmten Umständen gleichfalls so entarten könne und ähnlich bestialisch handeln würde. […] Ich war und bin überzeugt davon, dass es keine deutsche Kollektivschuld gibt, jedoch eine Kollektivschuld der machthabenden Kreise in Deutschland, England, Frankreich und Amerika durch die fast komplizenhafte Duldung des Hitlerischen Aufstiegs, seiner Machtergreifung und seiner Raubzüge. […] Ich rüstete mich zur Reise. Die Emigranten standen kopf. Ich verkrachte mich noch schnell mit manchen der unversöhnlichen Hasser. Sie fanden dann später den Weg ins deutsche Wirtschaftswunderland und kamen besser damit zurecht als ich, der ich mit soviel Erwartung gekommen war.“[3]
Mauthner kehrt nach Deutschland zurück. Mit ihm reisen seine Hausangestellte Emma und die drei wissenschaftlichen Assistenten Elliot, Spencer und Mary. Während der Überfahrt steht er allein im grauen Nebel an der Reling. Ein alter Herr gesellt sich zu ihm und fragt nach dem Reiseziel. Mauthner zitiert Heinrich Heines „Deutschland. Ein Wintermärchen“. „Was, nach Deutschland wollen sie?“ fragt ungläubig der Alte, ganz offensichtlich wie Mauthner ein Jude, und wendet sich von ihm ab.
Mauthner entschließt sich, nicht wie die anderen eine Woche in Paris zu verbringen, sondern gleich nach Berlin zu fahren. Eine Naheinstellung zeigt den heimatsuchenden Heimkehrer aus dem Zugfenster in die dunkle Nacht starren. Von Deutschland ist nichts zu sehen.
Im „Headquarter office of military government for Germany“ trifft Mauthner einen ehemaligen Kollegen wieder, der den Emigranten überschwenglich in der „alten Heimat“ begrüßt und im nächsten Satz betont, wie schwer doch die „innere Emigration“ für ihn gewesen sei. Der Kollege läßt Mauthner nicht zu Wort kommen, überhäuft ihn mit Phrasen und geheuchelter Anteilnahme und Freundlichkeit, um am Schluß, nicht ohne Genugtuung gegenüber seinem „alten Kollegen“ herauszustellen, dass er seine Professur erwarte. Mauthner kann sich nicht an den Namen das Bekannten erinnern. Später, im Lokal, als der „Kollege“ erfahren hat, dass nicht er, sondern Mauthner die Professur erhält, und er sich darob zynisch-provokativer Bemerkungen gegenüber dem so freundlich Begrüßten nicht enthalten kann, fällt Mauthner der Name plötzlich wieder ein: Fechner. Er wird aufgrund dieser von ihm empfundenen persönlichen Kränkung in Göttingen die Studenten gegen Mauthner aufwiegeln: Jude, Emigrant und Heuchler sind seine Stichworte, um den Heimgekehrten (erneut) zu diffamieren. Das Tausendjährige Reich gibt es seit drei Jahren nicht mehr, seine Welt- und Menschenbilder existieren jedoch fort – und fallen bei den jugendlichen Studenten durchaus nicht auf unfruchtbaren Boden.
In Berlin trifft Mauthner auch seine ehemalige Frau Lina wieder. Mehr aus Zufall; denn finden konnte er sie (der er all die Jahre Pakete aus den USA geschickt hatte, die aber nie ihr Ziel erreichten) nicht – sie wollte nicht gefunden, nicht mit der Vergangenheit und der Erinnerung an sie konfrontiert werden. Lina hatte nach Mauthners Emigration wieder geheiratet, einen „Arier“, um die jüdische Abstammung ihres gemeinsamen Sohnes zu vertuschen. In einem Schieberlokal kommt es zur mühsamen Aussprache zwischen beiden, die ihm Streit endet. Mauthner will von seinem Sohn wissen, Lina berichtet, sie habe keinen Kontakt mit ihm, er sei in Gefangenschaft. Mauthner hat das Bild eines Babys vor Augen, denkt er an seinen Sohn. In den letzten Jahren trug in seinen Träumen und Phantasien dieses Baby eine Uniform.
Es ist ein langes, schwieriges Gespräch – auch für den Zuschauer – zwischen beiden, in englischer Sprache geführt (Sequenz 8). Die englische Konversation (in sparsamen Untertiteln ins Deutsche übersetzt) zwingt zur Aufmerksamkeit, zum genauen Hinhören. Gleichzeitig schafft sie eine Distanz zwischen Mauthner und seiner früheren Frau, ver- und entfremdet ihre persönliche Geschichte, schafft die fremde Sprache rationale Kälte zwischen den Sprechenden, aber auch zwischen den Filmbildern und den Zuschauern im Kinosaal – eine außerordentliche Filmsequenz im Kino der deutschen Nachkriegszeit. Aus einem zweiten Raum der Gaststätte dröhnen laute Musik und Menschenstimmen zu den beiden herüber: Ablenkung, Vergessen, besinnungsloses Genießen einer breiten Masse andeutend. Die Gesichter von Mann und Frau sind hart ausgeleuchtet, sie sind zur Hälfte in Schatten getaucht. Der ganze Raum ist dunkel, unfreundlich, wirkt armselig, leer und ausgebrannt: ein Bühnenbild als Spiegelbild der in ihm agierenden Menschen. Mauthners Vorwürfe gegen Lina werden härter, seine Stimme lauter. Es ist der beklemmende Versuch einer Verständigung zwischen einer, die blieb und bleiben wollte (weil sie konnte), und einem, der ging, weil er als Jude gehen mußte. Zwischen diesen Polen ist nichts geblieben, alles zerstört, verlorengegangen: Die Gewalt des deutschen Faschismus hat nicht nur Millionen Menschen getötet und Tausende von Städten zerstört, sondern auch die Freundschaft und die Liebe zwischen den Menschen. Was hier entzweit wurde, kann, wenn überhaupt, so schnell nicht wieder heilen.
Mauthner wirft seiner damaligen Frau vor, dass sie faschistischen Idealen angehangen habe. Er bezichtigt sie, wie die meisten Deutschen, schweigend oder schreiend, dem Rassenwahn anheim gefallen zu sein, was seine Verleugnung ihrem gemeinsamen Sohn gegenüber beweise. Lina entgegnet verzweifelt, dass er sie verlassen habe durch seine Emigration, nicht sie ihn. Außerdem habe sie nur das halbjüdische Kind schützen wollen, nicht mehr und nicht weniger, und dazu erschien ihr jedes Mittel recht. „Man kann nicht mit dem Todfeind unter einer Decke leben,“ schreit Mauthner heraus. Auch nicht, wenn es die eigene, geliebte Frau ist. Lina steht vom Tisch auf und geht.
Am nächsten Morgen besucht Lina Mauthner. Beider Zorn hat sich gelegt, aber es wird auch nicht weiter über dieses Vergangene geredet, jede Verständigung erschiene sonst unmöglich. Man ist freundlich zueinander, aber man ist sich auch fremd.
In der Zwischenzeit sind auch Emma, Mary, Elliot und Spencer in Berlin eingetroffen. Gemeinsam fahren sie mit dem Zug nach Göttingen. Es ist wieder Nacht. Von Berlin hat der Zuschauer nicht eine bekannte Straße oder ein größeres Gebäude gesehen: Ein „Wiedererkennen“ Mauthners mit der Heimat findet nicht statt, Identifizierungen mit der Geschichte dieses Landes sind nicht möglich. Das Alte, auch nur materiell nur noch vorhandene, und seien es die Ruinen, ist nicht mehr. Nur in den Menschen lebt es noch fort. Keine Totale zeigt eine öffnende Perspektive, kein einziger Sonnenstrahl dringt in die Filmbilder. In Deutschland ist dunkle Nacht.
Im Zug mustern mit provozierend herabwürdigenden Blick zwei junge Männer Mauthner und Mary in ihrem Abteil (Sequenz 11). Der eine ist. wie sich herausstellen wird, Mauthners Sohn Walter, von Fechner nach Göttingen gerufen, um gegen den ihm unbekannten Vater zu intrigieren. „Die selben Gesichter wie früher“, sagt Mauthner und bittet Mary, sich so zu setzen, dass er die beiden nicht mehr sehen müsse. Die selben Gesichter, die selben (Vor-)Urteile. Wegen der Beziehung Mauthners zu Mary, des alten Mannes zu der jungen Frau, wird Fechner den Professor in Göttingen verurteilen und als schamlos in der Öffentlichkeit darstellen. Seit seiner ersten Begegnung in Berlin war Fechners zweite Frage, frivol und chauvinistisch, an Mauthner gewesen: „Ach übrigens, wie steht’s mit den Frauen? Sie waren doch auch kein Kostverächter.“
In seiner Antrittsvorlesung (Sequenz 12) greift Mauthner das gleiche Thema auf, mit dem er vor 15 Jahren seine Universitätstätigkeit hatte beenden müssen: Ausführungen über Platons Grundbegriff der Tugend. Zuerst ist nur Kortners Stimme zu hören, die Kamera befindet sich im Technikraum des Vorlesungssaales. Die beiden Amerikaner Elliot und Spencer verfolgen von hier aus die Vorlesung. Langsam fährt die Kamera auf ein Fenster zu und schwenkt in den Saal. In dieser totalen Obersicht verharrt sie eine Weile. Mauthners Stimme ist kräftig und energisch, seine Sätze und Wörter sind pointiert und fesselnd. Und doch wirkt Mauthner aus dieser Perspektive klein und verloren, hilflos und verlassen.
Mauthner redet in englischer Sprache, die Muttersprache ist ihm während seiner wissenschaftlichen Tätigkeit in den USA fremd geworden. Und nach 12 Jahren Faschismus sind Wirkung und Macht der deutschen Sprache, die unter Hitler zum gewalttätigen Propagandainstrument wurde, mit Vorsicht und Behutsamkeit zu verwenden. Mit einer vertikalen Fahrt gibt die Kamera ihre distanzierte Obersicht auf und zeigt anschließend in mehreren Schwenkfahrten den vollbesetzten Vorlesungssaal. Mauthner wird in Einzeleinstellungen von seinem Plenum isoliert. Außer Kortners gewaltiger Stimme ist kein Geräusch zu hören. Fechner hatte die Studenten zu lautem Protest aufgerufen. Aber niemand vermag sich zu rühren, auch Fechners junge Gefolgsmänner Walter und Kurt nicht.
Dann hat Mauthner „seine“ Sprache wiedergefunden. Die letzten Sätze seiner Vorlesung spricht er in Deutsch:
„Dunkle Nacht senkte sich über Deutschland. Ihr saht diese Nacht als neuen Tag. Jetzt wollen viele unter euch die Augen nicht öffnen. Ihr nennt den neuen Morgen Dunkelheit. Doch dieser Morgen kann Tag werden. Ihr seid jung, eines Tages werdet ihr erkennen: Manche verlorene Schlacht gibt mehr Anlaß zu Triumph als der Sieg.“ Doch während dieser Sätze hat sich die Kamera längst wieder in ihre totale Obersicht begeben. Beschwörend sind Mauthners Worte, ohnmächtig steht er dort unten hinter dem Rednerpult. Die letzten Warte verhallen, stumm erheben sich die Studenten von ihren Plätzen. Das ist ihr Protest, aber auch ihre Irritation. Als Mauthner den Saal verläßt, klopfen einige Wenige, noch ganz fassungslos über das Geschehene, laut und ausdauernd auf ihre Tische.
Mauthner zu Ehren findet ein geselliger Abend statt (Sequenz 14). Hier kommt es zum Eklat. Fechner, der Alkohol hat ihm endgültig die Zunge gelöst und ihn die Maske ablegen lassen, bemerkt im Kreise seiner Anhänger, das nächste Mal müsse wohl noch gründlicher mit den Juden aufgeräumt werden. Gegen Fechners antisemitische Reden setzt sich ein (jüdischer) Student zur Wehr, und löst mit seiner engagierten Reaktion eine Schlägerei aus. Als Elliot, der in unmittelbarer Nähe Fechners Sätze mithörte, diese seinem einige Tische weiter entfernt sitzenden Professor aufgebracht erzählt, bricht Mauthner in ohnmächtiger Wut zusammen. Zur geplanten Rückreise in die USA (auch Emma ist es in diesem ihr fremdgewordenen Land zu kalt; sie sehnt sich nach der Sonne Kaliforniens) kommt es nicht mehr. Mauthners Lebenskraft ist verbraucht. Die letzten Stunden verbringt er in Gegenwart seiner aus Berlin angereisten Frau. Walter, der sich in Mary verliebt hat und eigentlich für Fechner in Erfahrung bringen soll, ob Mauthners Krankheit „ein weiterer geschickter moralischer Schachzug“ von ihm sei, bittet den schlafenden Mauthner um Verzeihung, als er seine Mutter im Zimmer erblickt. Zusammen wohnen Mutter und Sohn dem Tode ihres Mannes und Vaters bei (Sequenz 18).
Die Schlußbilder des Films sind (und machen) stumm: sprachlos, fassungslos. Naßkalt und grau ist es, als eine kleine Trauergemeinde dem Sarge Mauthners folgt. Keine Musik, kein lautes Schluchzen, nur eisige Kälte übermitteln die Bilder. Am Straßenrand stehen die Unbelehrbaren, ewig Irregeleiteten, allein gelassen von ihrem „Führer“. Nur einer hat verstanden und gelernt. „Ich gehe da mit,“ sagt der junge Charles Regnier in seiner Rolle als Fechner-Anhänger Bertram und folgt dem Trauerzug. Er ist einer der wenigen, die Mauthners/Kortners „Ruf“ doch noch gehört haben.
Es nimmt nicht Wunder, dass ein solch hoher Grad an Beklommenheit und Betroffenheit in der Wirkung der düsteren Bilder dieses Films von den deutschen Kinozuschauern im Jahre 1949 nur höchst unwillig akzeptiert wurden. Zerstörten diese Bilder doch zu nachhaltig die wiedergewonnenen Zukunftsperspektiven, erinnerten sie unnachgiebig an das nun schon seit vier Jahren Verdrängte, fast schon Vergessene. Man war dabei, sich einzurichten, nicht sich aufzurichten: gegen eine weiter existierende faschistische Geisteshaltung, gegen Antisemitismus – das Schicksal Mauthners im Film widerfährt dem Film selber.
So schreibt Karl Sabel in seiner Filmkritik „Der Ruf – Urteil oder Vorurteil?“ im Film-Echo vom 20. Juni 1949: „Ist Kortners Urteil nicht ein Vorurteil? Wogegen er auftritt, das, so glauben wir, lebt nicht mehr. […] Der Eindruck ist stark. Kortner fasziniert, selbst wo das Problem umstritten ist. Das bringt den Film über seine 104 Minuten. Nachher im Gespräch wird Widerspruch laut. In den Essener Zeitungen (nach der deutschen Erstaufführung in der Kleinen Lichtburg) wird Kortner ‚Ressentiment‘ vorgeworfen und beklagt, dass das ‚menschlich Verbindende, Allgemeingültige des Films‘ durch die ‚Primitivität des Gegenspielers verdunkelt‘ wird.“[4]
Kortners Film verfehlte seine Intention und Wirkung. Die Deutschen sahen lieber amerikanische Unterhaltungs- als „Erziehungs“-Filme. „Der Ruf“, einer der wenigen beeindruckenden Filme der westlichen Produktion in der Nachkriegszeit, ist das Werk eines Emigranten, seiner Sichtweise nach der Rückkehr in eine Heimat, die keine mehr war. Liest man die Berichte des Heimkehrers Adorno[5] und der „Besucherin“ Hannah Arendt[6], so findet man ähnliche Sichtweisen und Beurteilungen: Es ist der distanzierte Blick eines „Fremden“ auf das fremd gewordene Vertraute.
Kortners Film ist keineswegs eine haßerfüllte Abrechnung mit Deutschland. Er ist eine ehrliche, beklemmende Stellungnahme und Beurteilung, aufrüttelnd und mahnend. Der Film zeigt kein einziges Trümmerbild. Nicht eine Sekunde hat der Zuschauer die Möglichkeit, in Selbstmitleid zu fallen und das Geschehene zu beklagen. „Der Ruf“ zeigt die menschlichen Trümmer, die rigorose Zerstörung menschlicher und sozialer Beziehungen, Entwurzelung und Heimatlosigkeit Emigrierter, Vertriebener, Inhaftierter, Verfolgter; er zeigt das Fortleben des „alten Geistes“ in (Schulen und) Hochschulen und die strapazierte „Ausrede“ der ‚inneren Emigration ‚ – in differenzierter Abgrenzung zu einer glaubwürdigen inneren Emigration, wie es der Film am Beispiel des Präsidenten der Göttinger Universität aufzeigt.
„Es gab auch länger anhaltende Spannungen. Da blieb dann einer wegen irgendeines anderen von unseren Abenden eine Zeitlang weg. Solche Spannungen ergaben sich sogar zwischen Brecht und mir. Er beklagte einmal die Unfähigkeit der Deutschen zu revoltieren und nannte sie ‚knechtselig‘. Darüber gerieten wir aneinander. Ich war damals geradezu von einem exzessiven Enthusiasmus für das sogenannte andere, gute Deutschland erfaßt. Jahre später, nach meiner Rückkehr, lernte ich meinen Enthusiasmus zähmen.“[7]
Autorengruppe Nachkriegsspielfilme (1993)
[1] Völker, Klaus: Fritz Kortner. Schauspieler und Regisseur. Berlin 1987, S. 170.
[2] Kortner, Fritz: Aller Tage Abend. München 1929, S. 553.
[3] ebd., S. 538 u. 550.
[4] Karl Sabel, „Der Ruf – Urteil oder Vorurteil?“, in: Film-Echo, Nr. 18, 20. Juni 1949, S. 246.
[5] Theodor W. Adorno, Auferstehung der Kultur in Deutschland?, in: Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft, Frankfurt/M. 1980, 5.20 – 33.
[6] Hannah Arendt, Besuch in Deutschland, in: Zur Zeit. Politische Essays, Berlin/West 1986, S. 43 – 70.
[7] Fritz Kortner, Aller Tage Abend, S. 501.
Der Film entstand im Atelier München-Geiselgasteig mit Außenaufnahmen aus München und Umgebung
In Fritz Kortners Erinnerung mischen sich im Rückblick 1959 die Schwierigkeiten der Produktionsbedingungen mit den Ängsten des Rückkehrers:
„Über die Luftbrücke versahen die Alliierten die Westberliner mit dem unerlässlich Notwendigen. Es blieb alles knapp bemessen. So gab es nicht genug Elektrizität, um unseren Film […] in Berlin zu drehen. Wir mussten nach München fliegen. Der Gedanke, in München auch nur ein paar Wochen zu leben, flößte mir tiefes Unbehagen ein.“
Zur Einführung:
Diese Filmdichtung aus unseren Tagen erzählt uns die dramatischbewegte Geschichte eines Universitätsprofessors, der nach Übersee auswanderte.
Nach fünfzehnjährigem Exil in Kalifornien, wo er eine neue Wirkungsstätte gefunden hat und sich zum erfolgreichen Pädagogen der jungen amerikanischen Generation eingearbeitet hat, erhält Professor Mauthner eine ehrenvolle Rückberufung in seine Heimat, nach Deutschland.
Freunde raten ihm ab, diesem Ruf Folge zu leisten; ältere Kollegen beneiden ihn um diesen neuen Lehrauftrag.
Mauthner, der beim Abschied von seinen Freunden und Schülern der Neuen Welt ein warmherziges Bekenntnis zu Deutschland ablegt und auf die Frage eines Kollegen, ob er dieses Land trotz aller schmerzlichen Erinnerungen liebe, unbedingt antwortet: „In meinen besten Augenblicken – ja!“, folgt der Stimme seines Herzens und seiner geheimen Sehnsucht und kehrt ohne einen noch so verlockenden Zwischenaufenthalt in Paris direkt nach Deutschland zurück.
Berlin und andere Universitätsstädte sind die Stationen seiner ereignisreichen wie schicksalsschweren Rückkehr. Mauthner erlebt die Nachkriegszeit des Berlin von 1948. Er sucht und findet seine geschiedene und aus den Augen verlorene Frau wieder, erfährt von ihr, daß angeblich sein Sohgn, den er einst als Bub zurückgelassen, noch in Kriegsgefangenschaft ist.
Seine Vorlesung an der Universität nimmt Professor Mauthner mit dem gleichen Thema auf, mit dem er vor einer halben Generation seine Dozententätigkeit unfreiwillig hatte beenden müssen, und siehe: an der Wahrheit des Geistes hat sich nichts geändert. Mauthner bringt seinen kritischen Studenten Platos Vermächtnis über den Grundbegriff der Tugend nahe.
Doch persönlicher Neid eines ebenso ehrgeizigen wie politisch fragwürdigen Kollegen, des Dozenten Fechner, und die politische Einstellung einiger Vertreter der akademischen Nachkriegsjugend erschütternMauthners Glauben an seine Aufgabe.
Mauthner hätte es sich bei seiner Rükkehr nach Deutschland gewiß nicht träumen lassen, daß unter den Studenten der Opposition sich auch sein eigener, inzwischen heimgekehrter Sohn befindet. Ebensowenigdachte er daran, daß man ihm, dem gealterten Manne, seine rein freundschaftliche n und wissenschaftlich verankerten Beziehungen zu der Studentin MAry, zugleich seine Sekretärin, die er aus Kalifornien mit zwei weiteren Assistenten und einer Hausangestellten mitbrachte, zweideutig auslegen würde.
Die Schlußszenen dieses dramatischen Films bringen die Auflösung der Wirren eines verzweifelten Lebens, das ein tragisches Opfer unseres unruhevollen Zeitgeistes wurde, in letzter und unvergeßlicher Eindringlichkeit.
Dr. K. W.
aus: Illustrierte Film-Bühne Nr. 347
Es gibt weder ein Volk von Verbrechern noch ein Volk von Helden. Was weiß ich wie ich mich verhalten hätte, wenn ich hätte drüben bleiben können?
Fritz Kortner in der Rolle des Professor Mauthner
Der nach dem Drehbuch von Fritz Kortner inszenierte Film nimmt sowohl von der Thematik als auch in der Darstellungsperspektive eine Sonderstellung unter den deutschen Nachkriegsspielfilmen ein.
Ausgangspunkt der Darstellung ist zunächst eine Gruppe von Deutschen, die sich den Massenmorden und anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit im faschistischen Deutschland durch die Emigration in die USA entziehen konnten. Exemplarisch wird an diesen Menschen und ihren amerikanischen Freunden vorgeführt, welche verschiedenen Sichtweisen auf Deutschland und seine Menschen in der unmittelbaren Nachkriegszeit möglich waren. Durch die Augen eines der Emigranten, der sich zur Rückkehr in sein Heimatland entschließt, des von Fritz Kortner verkörperten Professors Mauthner, wird dann kritisch das Nachkriegsdeutschland auf seine Entwicklungsmöglichkeiten hin zu einer menschlichen und demokratischen Gesellschaft betrachtet.
Bei einer Konzentration auf die dargestellte Geschichte (Filmrealität) bieten sich folgende Schwerpunkte zur Besprechung an:
- Die Kontinuität zwischen Faschismus und Nachkriegsgesellschaft, exemplarisch im Universitätsbereich; das Fortleben antisemitischer und nationalsozialistischer Haltungen (Filmsequenz: Geselliger Abend nach der Antrittsvorlesung)
- Die Voraussetzungen für eine demokratische Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland unter Berücksichtigung der Frage nach der Schuld des einzelnen Deutschen im Dritten Reich (Filmsequenz: Dialoge zwischen Mauthner und seiner Frau)
- Situation von Emigranten in ihrem Zufluchtsland und nach der Rückkehr. Verluste und Zerstörungen an menschlichen Beziehungen, an geistiger und persönlicher Identität (Filmsequenzen: Diskussion unter den Emigranten, Überfahrt nach Europa, Dialog zwischen Mauthner und seiner Frau. In diesem Zusammenhang sollte besonders auf die bewusste Verwendung der englischen Sprache geachtet werden, die zeigt, wie weit die Emigranten von den Nachkriegsdeutschen entfernt waren.
Für die Auseinandersetzung mit diesen Schwerpunktthemen ist besonders auch der Text aus der Illustrierten Film-Bühne, einem gedruckten Begleitheft zu den Kinofilmen, bedeutsam. Darüber hinaus sollten auch Überlegungen einebzogen werden, warum der Film den englischen Titel THE LAST ILLUSION hat.
Obwohl die Filmerzählung selbst nicht Quelle für geschichtliche Ereignisse sein kann, stellt die ihr zugrunde liegende Perspektive einen sensiblen und authentischen Blick „von außen“ auf Verhaltensweisen und Verhältnisse im Nachkriegsdeutschland dar, wie er zu dieser Zeit wohl nur von einem zurückgekehrten Emigranten möglich war, der sich nie arrangiert hatte. (Bezugsrealität)
Das Scheitern des Professor Mauthner im Film weist dabei auf Kortners Interpretation – ein Stück weit auch Analyse – der gesellschaftlichen Situation hin, die herauszuarbeiten wäre: Kortner sieht die Voraussetzungen für eine demokratische Gesellschaft als noch nicht ausreichend gegeben, sieht nationalsozialistische und antisemitische Haltungen nach wie vor verbreitet und fühlt sich als Emigrant fremd im Zufluchtsland und in der Heimat – gleichwohl mit einem Funken Hoffnung am Ende des Films. Und: Aus dem Film spricht das Vertrauen auf die „aufklärerische Kraft der Wissenschaft“.
In diesem Zusammenhang sollten besonders die zeitgenössischen Filmkritiken beachtet werden, in denen von „Vorurteil“, „Irrtum“ und „Subjektivismus“ die Rede ist, Kortners Anliegen – und v.a. schauspielerisches Können – gelobt, aber seine Interpretation der Verhältnisse in Abrede gestellt wird. Kortners Film war kein Kinoerfolg. Daraus lässt sich ableiten, wie begrenzt wirksam die Kortnersche Kritik im damaligen Deutschland gewesen ist.
Filmvergleiche
DER RUF sollte möglichst im Zusammenhang mit dem Film ZWISCHEN GESTERN UND MORGEN behandelt werden, thematisiert dieser doch ebenfalls ein „Emigrantenschicksal“ – aber aus der Perspektive der Daheimgebliebenen und in der Form anknüpfend an den Gesellschaftsfilm der 30er Jahre. Dieser Vergleich ermöglicht, über die sehr unterschiedlichen Bewußtseinshaltungen und deren Konsequenzen zu reflektieren sowie die Radikalität der Kritik Kortners zu erkennen.
Die Ausnahmestellung des Films zeigt sich darin, wie er die Erfahrung von Krieg zum Ausdruck bringt: DER RUF ist der einzige Film, dem eine ausgewiesen pazifistische Haltung zugrunde liegt, wie sie besonders in der Antrittsvorlesung Mauthners zum Ausdruck kommt. Die Vorlesung gegen den Krieg enthält den Rückblick auf den Krieg und die Warnung vor der konkreten Gegenwart (1948/49), in der schon wieder von der Notwendigkeit des Krieges gesprochen wird. Der Film bleibt nicht allgemein, sondern spricht gegenwartsbezogen die Einsicht aus, daß Gewalt Gewalt erzeugt und dass es gelte, sich dagegen zu wehren.
In diesem Zusammenhang bietet sich ein Vergleich des Films mit den Nachkriegespielfilmen DIE MÖRDER SIND UNTER UNS und IN JENEN TAGEN an.
Die drei Filme (…) zeigen Grundtypen der Erfahrung von Krieg, die sich mit den drei Positionen der Deutschen verbinden, die keine Nazis waren: Staudtes Film klagt aus der Sicht der linken Opposition die für Kriegsverbrechen Verantwortlichen an. Käutners Film entspricht weitgehend der Position der ‚inneren Emigration‘, die die Menschlichkeit ‚in jenen Tagen‘ sieht, aber zu keiner Konsequenz führt. ( … ) Kortners Film stellt als einziger den Zusammenhang von Nationalsozialismus und Krieg her und ist radikal in der Konsequenz, aber er steht, für Film ganz untypisch, für eine Minderheitsposition, am klarsten artikuliert durch die zurückkehrenden Emigranten.

Von den fast 500.000 vertriebenen deutschsprachigen Juden kehrten nach 1945 weniger als fünf Prozent zurück, meist aus Weltgegenden, die während des Krieges die letzten gerade noch zugänglichen Zufluchtsstätten gewesen waren: Shanghai und Bolivien, Venezuela und Ostafrika. Andere kamen in fremden Uniformen. Der heutige Nürnberger Gemeindevorsitzende Arno Hamburger etwa gelangte mit der Jüdischen Brigade der britischen Armee aus Palästina über Italien in seine fränkische Heimatstadt, wo er auf dem Jüdischen Friedhof seine Eltern versteckt vorfand. Der ehemalige Mitherausgeber der »Welt am Sonntag«, der aus Augsburg stammende Ernst Cramer, kehrte mit der US-Army zurück, ebenso der spätere Münchner Gemeindevorsitzende Hans Lamm.
Unter den Rückkehrern befanden sich auch einige prominente Namen, wobei die meisten Intellektuellen als überzeugte Sozialisten eher in die sowjetische Besatzungszone gingen. Im Westen gehörten zu den prominentesten Remigranten die Neubegründer der »Frankfurter Schule«, Max Horkheimer und Theodor Adorno.
WARNUNGEN
Vor allem aber kamen Schauspieler zurück, die mehr als alle anderen auf die deutsche Sprache angewiesen waren. Der bekannteste war wohl der 1892 in Wien geborene Fritz Kortner. Einen Tag nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler hatte sich Kortner auf eine Auslandstournee begeben, von der er erst 1947 wieder nach Deutschland zurückkehrte.
Gleich nach seiner Rückkehr spielte Kortner die Hauptrolle in dem Film Der Ruf, dessen Drehbuch er auch geschrieben hatte. Er verkörperte den – wie er selbst – aus dem amerikanischen Exil zurückgekehrten Professor Mauthner, der trotz Warnungen seiner Emigrantenkollegen einen Ruf an seine alte deutsche Universität angenommen hatte. Kaum zurückgekehrt, ist Mauthner bereits mit einem ungebrochenen Antisemitismus und mit dem Neid der von den Alliierten entlassenen ehemaligen Kollegen konfrontiert. Dieser bis heute sehenswerte Film zeigt besser als jedes andere Dokument dieser Zeit, dass es eine radikale »Stunde Null« nicht gegeben hat.
Kortner und seine Frau, die Schauspielerin Johanna Hofer, drückten ihre Zweifel über die Rückkehr nach Deutschland nicht nur im Film, sondern auch in zahlreichen privaten Dokumenten aus. So schrieb Johanna Hofer 1952 an Kortner: »Fritz, wenn du nicht neben mir bist, es ist einfach nicht mehr zu ertragen in Deutschland. Es ist fremd und teuflisch.« Noch 1962 notierte der inzwischen seit Langem in München ansässige Kortner, dass klerikaler Faschismus und Antisemitismus dafür sorgten, »dass kein jüdischer Baum in den Himmel wächst.«