Dramaturgie
„Unser täglich Brot“ ist ein exakt kalkuliertes und konstruiertes Stück filmische Realität, welches seinen Charakter als Film nirgends leugnet und auf Überzeugung und Einsicht setzt. Hier wird ein Modell im brechtschen Sinne vorgestellt, das auf Methode der Darstellung im Lehrstück und im epischen Theater zurückgreift. Dudow bedient sich dabei eines sachlich-dokumentarischen Stils in der filmischen Realisierung. Sein Kino-Lehrstück stellt innerhalb der Nachkriegsproduktion eine Ausnahme dar. Es ist eine bewusste Anknüpfung an Traditionen, die im sogenannten proletarischen Kino am Ende der Weimarer Republik entwickelt wurden und die durch den Nationalsozialismus zerschlagen worden waren. Dudow selbst hatte 1931 mit „Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt“ zusammen mit Bertolt Brecht einen entscheidenden Beitrag zu diesem in Deutschland raren Genre geleistet. „Unser täglich Brot“ nun ist Ausdruck für ein politisch-intentionales Handeln und Wollen. Folglich ist der Film auch konsequent parteilich, und Dudow leugnet diese Parteilichkeit an keiner Stelle. Mit seinem Werk bzw. seiner Stellungnahme zur gesellschaftspolitischen Situation in Deutschland nach 1945 will er Entscheidungshilfen geben und stellt „dem Falschen“ „das Richtige“ gegenüber. Auf den ersten Blick mag der Film daher aufdringlich und gewollt, plakativ und pathetisch, allzu sehr in den Dienst der guten Sache gestellt wirken. Erst beim zweiten Sehen ist zu erkennen, dass eine genau kalkulierte filmische Form Künstlichkeit, d. h. in diesem Fall ein Modell, bewusst ausstellt; hier wird nicht zur Einfühlung und Anteilnahme eingeladen, sondern es wird exemplarisch vorgeführt und didaktisch aufgezeigt.
Die Geschichte in „Unser täglich Brot“ folgt einer einfachen, leicht nachvollziehbaren Chronologie: Ausgehend vom Anfangsdatum 1946 zeichnet sie den Zerfallsprozess einer Familie und den Verfallsprozess des Familienoberhauptes Karl Webers nach . Diese Person des typischen Kleinbürgers steht dabei zwar im Mittelpunkt, ist aber nicht der Star des Films. Um ihn herum wird die Handlung fokussiert, wobei die Beziehungen der Personen untereinander wichtig sind. Auf diese Weise ist es Dudow möglich, die daraus resultierenden Konflikte als gesellschaftliche Konflikte zum Ausdruck zu bringen. Dabei wird zugleich deutlich: Hier soll nicht Realität – die der späten vierziger Jahre im Nachkriegsdeutschland – einfach abgebildet werden, hier wird eine filmische Realität konstruiert, die mit der historischen Situation der deutschen Nachkriegsgesellschaft korrespondiert und einen Blick auf sie zulässt.
Was der Film will, verbirgt er nicht: Er propagiert anhand des Aufbaus eines volkseigenen Betriebes die politische Botschaft des Sozialismus. Diese Botschaft wird noch betont durch die formale Gestaltung, sowohl generell in seiner Ästhetik, die – wie bereits erwähnt – an die proletarischen Filme der Weimarer Zeit erinnert, als auch anhand des Modells der Entwicklung einer Familie im Nachkriegsdeutschland. Dieser Botschaft mag man zustimmen oder nicht – dass der Film offen bewertet und Partei ergreift, zeichnet ihn aus und macht ihn zugleich kritisierbar. Diese Kritik ist jedoch eine politische – und keine Kritik am Film, um die es hier aber gehen soll.
Zweifelsohne stehen die Haltungen des alten Webers und seiner beiden Söhne Ernst und Harry im Zentrum des Films. Der Vater ist der Schnittpunkt von Dudows filmischem Gesellschaftsmodell. In seiner durch die persönliche Lebenserfahrung verinnerlichten kleinbürgerlichen Haltung, dem festen Glauben an die absolute und unbedingte Richtigkeit seiner Welt und seiner Lebensauffassung, bewertet Webers das Verhalten und die Aktivitäten der anderen, vor allem seiner beiden Söhne, deren Differenzen, d. h. gesellschaftspolitische Unterschiede nicht in einer expliziten Konfrontation zwischen ihnen ausgetragen werden, sondern sich am Vater brechen.
Mit seinem übertriebenen Ordnungssinn, seiner pedantischen Korrektheit und seinem sturen Festhalten an alten Lebensprinzipien verkörpert der Vater das exemplarische Bild, die Inkarnation des Kleinbürgers. Ernst, der ungeachtet aller Schwierigkeiten die alte, zerstörte Renner-Fabrik, in der sein Vater als Kassenverwalter tätig war, in einen volkseigenen Betrieb umzugestalten hilft, steht für den progressiven gesellschaftlichen Fortschritt bzw. den Sozialismus. Harry, der die Maxime „jeder ist sich selbst der nächste“ vertritt und sein Glück vergeblich auf dem Schwarzmarkt, also im kapitalistischen System sucht, verkörpert den gesellschaftlichen Rückschritt, die „Reaktion“.
In einer Parallelität von Geschichten, Episoden und Beobachtungen auch der anderen Personen werden diese drei Hauptlinien des Films variiert, erweitert und modifiziert. So verkörpert die Mutter die moralische Instanz der (bürgerlichen) Familie. Dies zeigt sich z. B. daran, dass sie Mary aufgrund ihrer wechselnden Herrenbekanntschaften des Hauses verweist; Inges Fleiß und Rechtschaffenheit sind es, die sie in die sozialistische Gesellschaft und die Arme von Peter Struwe, der den Aufbau des Werkes leitet, führen; Nicki als junge, tatkräftige Frau meistert auch in schwierigen Situationen ihr Leben mit Geschick – im Gegensatz zu Mary, die den Verlockungen materiellen Besitzes erliegt und dafür ein Leben als Prostituierte in Kauf nimmt. Im Verlauf des Films kommen zwei weitere Personen hinzu: Der Werksleiter Peter Struwe und der Ingenieur Bergstetter, die beide ihre Bildung und ihr Fachwissen ebenfalls in den Dienst des sozialistischen Aufbaus stellen. Peter Struwe versucht in der gesellschaftlichen Umbruchssituation der Nachkriegszeit seine sozialistischen Ideale zu verwirklichen, Bergstetter, der seine Angehörigen (im Konzentrationslager?) verloren hat, erkennt, dass Depression kein Ausweg ist: Sein erlittenes Leid ist Motivation für den Aufbau einer neuen, besseren Gesellschaft.
Mit diesen Personen konstruiert Dudow in „Unser täglich Brot“ ein Panorama von menschlichen Charakteren und Verhaltensweisen innerhalb der deutschen Nachkriegsgesellschaft, wobei er die einzelnen Haltungen nicht unbewertet lässt: Das tägliche Brot für alle, Grundvoraussetzung einer humanen menschenwürdigen Existenz, kann nach der Erfahrung des Nationalsozialismus nur in einer sozialistischen Gesellschaft garantiert werden. In diesem Zusammenhang gilt der Satz, den Dudow über seinen früheren Film „Kuhle Wampe“ gesagt hat, auch für „Unser täglich Brot“: „Die Wirklichkeit ist nicht schlechthin da, und man kann sie nicht schlechthin fotografieren, sondern sie nützt bestimmten Menschen, und bestimmten anderen schadet sie, so wie sie ist. Da man aber nicht die ganze Wirklichkeit, sondern nur gewisse Teile daraus, und diese nur in einem bestimmten Zusammenhang fotografieren kann, so muss man sich entscheiden, wem man damit schaden kann oder wem man damit nützen will.“
In „Unser täglich Brot“ ist der Verlust eines sicheren Wertegefüges zentral, die Brüchigkeit tradierter Werte liegt dem Verhalten der Handlungsträger konstitutiv zugrunde. Der alte Webers isoliert sich zunehmend in seinem starrsinnigen Glauben, dass die vergangenen Gesetzmäßigkeiten ewig gälten und verfällt in bedrohlicher Weise, bis er notgedrungen seine Entscheidung revidiert. Sein Sohn Harry, der den bequemen Weg eines schnellen Geschäftes auf dem Schwarzmarkt sucht, wird Handlanger eines professionellen Schiebers, hat aber nur vorübergehend geschäftliches Glück. Zudem verliert er seinen moralischen Halt so weitgehend, dass er einen anderen Menschen – ohne es zu wissen, seinen Vater – wegen eines Brotes überfällt. Er begeht schließlich Selbstmord. Die Cousine Mary, die ebenfalls auf einfache Art ein materiell unbeschwertes Leben führen möchte, rutscht immer tiefer in die gewerbsmäßige Prostitution ab. Ernst Webers ist im Film derjenige in der Familie, der den Bruch in der Tradition erkennt, beim Namen nennt und modellhaft die „richtigen“ Konsequenzen zieht.
Dudow variiert die beispielhafte Entscheidung für den gesellschaftlichen Fortschritt hin zum Sozialismus mit einer Liebesgeschichte (zwischen Inge und Peter Struwe, dem Werksleiter) sowie mit der Bekehrung einer Figur, die der des alten Webers von seiner sozialen Stellung her vergleichbar ist (Ingenieur Bergstetter) und die Katharsis der Hauptfigur damit bereits antizipiert. Auch die Massenszenen auf den Straßen stehen für diese Entscheidung. Nur ihnen ist auch die stark rhythmische, optimistische Musik Hanns Eislers unterlegt, so dass diese Bilder eine besonders intensive suggestive Wirkung erhalten.
Die Musik stützt die bildliche und verbale Aussage des Films nicht nur, sie hat eigenständige inhaltliche Funktion. Bei den Dialogpassagen in der Wohnung und in der Fabrik gibt es keine musikalische Begleitung oder Untermalung – die Musik würde vom wichtigen Wort ablenken. In den Passagen, die die einzelnen Konfliktstadien miteinander verknüpfen, sie mit der Außenwelt in Beziehung bringen, „treibt“ die Musik voran, vermittelt sie Dynamik und Entwicklung. Eisler selbst hat erklärt, was seine Musik ausdrücken soll: Den Heroismus der Hamsterer („Hungerzug“), die Freude über das erste markenfreie Essen („Die Suppe“) und besonders „die vorwärtsführende Kraft der arbeitenden Menschen“ .
Mit der Aufarbeitung bzw. der Bewältigung der nationalsozialistischen Vergangenheit setzt sich das filmische Lehrstück von Dudow bis auf eine Bemerkung von Ernst Webers nicht explizit auseinander. Ernst spricht immerhin deutlich aus, dass nicht einfach alle nur Opfer einer Entwicklung waren. „Den Karren in den Dreck fahren, da wart ihr alle dabei“, so der Sohn in einer Auseinandersetzung mit seinem Vater. Da es dem Film jedoch primär um den Grundsatz des Aufbaus des Neuen geht, bei dem möglichst alle – auch der Kleinbürger – mitmachen sollen, zieht der Film quasi einen Schlussstrich unter die Vergangenheit, der Blick ist eindeutig auf die Gegenwart und in die Zukunft gerichtet.
Die Art und Weise, wie der Film die zeitgenössische Gegenwart in Form von politisch-ökonomischen Grundkategorien („Brot“ und „Geld“) zuspitzt, lässt keinen Zweifel daran, dass auch die geschichtliche Entwicklung eben nicht als schicksalhaft, sondern als politisch-ökonomisch bestimmt begriffen wird, als eine Entwicklung, die auch von den Entscheidungen der einzelnen Individuen abhängt.
Das Rezept, das „Unser täglich Brot“ „zur Bewältigung aller Folgen der Vergangenheit, der psychischen wie der materiellen“ , verschreibt, lautet: Arbeit. Dem Film liegt ein sozialistisches Verständnis von Arbeit als dem grundlegenden gesellschaftlichen Verhältnis zugrunde. Sinnvolle Perspektiven können sich in diesem Sinne nur über eine wertschöpfende Tätigkeit ergeben. Sie ist hier nicht Selbstzweck, sondern erscheint stets zweckgebunden an die Erzeugung lebensnotwendiger Güter. Im Vordergrund steht die kollektive Verausgabung der Arbeitskraft im Betrieb, hier in einer Maschinenfabrik. Interessant ist aber, dass neben der kollektiven Arbeit in der Fabrik auch der kleine Privatbetrieb, z. B. die Bäckerei, in der Nicki schließlich unterkommt, als eine positive Form von Tätigkeit erscheint.
Auffällig ist, wie gering der Stellenwert der Trümmerarbeit ist, wie wenig Wertschätzung den Menschen entgegengebracht wird, die diese Arbeit verrichten (müssen). Für alle Protagonisten ist diese Arbeit das „Letzte“, was man sich – und anderen – zumuten will. Im Film bleibt Trümmerarbeit eine Hintergrundkulisse, mit der elende Lebensbedingungen umrissen werden, zudem wird die (entfernt verwandte) Trümmerfrau Ilse von allen Mitgliedern der Familie geschnitten (s. Kap. 3. 2). Analog der politischen Auseinandersetzung geht es nicht um die Trümmer von gestern, sondern um die Schaffung des Neuen. Selbst Karl Webers als jemand, der noch der alten Welt verhaftet ist, hat für sie nichts übrig.
Für die Gewinnung einer neuen gesellschaftlichen Perspektive ist nicht nur die Aufbauarbeit zentral, sondern auch die Kleinfamilie. In „Unser täglich Brot“ spiegelt die Ausgangsfamilie einerseits zeittypisch zusammengesetzte Familienclans, andererseits projiziert Dudow in diesen Familienverband ein Gesellschaftsmodell. Die jüngeren männlichen Hauptpersonen Ernst und Harry agieren jeweils stellvertretend für die Klasse, die sie repräsentieren. Folglich unterliegen sie im Laufe der Handlung auch keiner Wandlung, sie bleiben immer, was sie zu Beginn des Films auch gewesen sind. Nur der alte Webers ist eine Ausnahme: Der Prototyp des Kleinbürgers wird durch den Zwang der Verhältnisse dazu gebracht, seine ursprüngliche Haltung aufzugeben und sein Verhalten zu ändern, allerdings eher äußerlich und aufgesetzt, im Innern bleibt er doch „der Alte“ (s. Kap. 3. 2.). Damit ist die eingangs gezeigte Familie auch ein Modell für eine zerfallende Gesellschaft: Ihr Wert als Hort materieller Sicherung und als moralischer Bezugspunkt nimmt ab. Die Funktion, Leitbild für die handelnden Subjekte zu sein, wird zunehmend von dem solidarischen Betrieb übernommen. Aber nichtsdestotrotz bleibt die Kleinfamilie unangetastet, ja gehört zu einer wünschenswerten Perspektive dazu: Ernst Webers und Peter Struwe, die Vertreter der Zukunft, machen nicht nur beruflich Karriere, sondern haben bzw. finden ihr privates, kleinfamiliäres Glück.
Filmästhetik
Der Film beginnt mit einer Zeitbestimmung: Der Titel „1946“ wird eingeblendet. Danach die erste Kontrastmontage: Eine leere Markthalle – Schnitt – ein überfüllter Zug. Die Menschen tragen große Taschen, Rücksäcke und ähnliches, denn sie kommen vom Hamstern – offiziell gibt es nichts zu kaufen. Auf diese Weise ist mit einer einzigen Montage die wirtschaftliche Situation beschrieben.
In Totalen zeigt die Kamera die Menschenmassen in eine Richtung strömen: Diese wirtschaftliche Lage besteht nicht nur für einige wenige, sondern für die große Mehrheit der Bevölkerung. Aus den Massenaufnahmen greift die Kamera den ersten Handlungsträger heraus. Es ist Nicki, die als eine der vielen zu Beginn gezeigten Menschen auf Hamsterfahrt war. Die Kamera verfolgt die Menschen weiter in Totalen. Die rhythmisch-stakkatische Musik Hanns Eislers scheint sie voranzutreiben. Einmal erhebt sich die Kamera etwas über die Köpfe der Menschen und begleitet ihre Bewegung mit einer Vorwärtsfahrt. Der Zuschauer wird durch die Kamera in die Bewegung der Massen hineingezogen und sieht sich einen kurzen Augenblick in ihre Situation versetzt. Die Menschenmassen und ihre zielgerichtete gemeinsame Bewegung sind Ausgangspunkt und Ziel des Films: Am Ende werden die Menschen den Fahrten der ersten nach dem Krieg produzierten Traktoren zusehen und applaudieren: Ihre gemeinsame Bewegung, ihr gemeinsames Ziel, ihr solidarisches Handeln haben die Maschinen zum Laufen gebracht, haben die Produktion von Traktoren in einem volkseigenen Betrieb ermöglicht. „Unser täglich Brot“ zeigt Ausschnitte und Momente von bestimmten Erfahrungen, Erlebnissen und menschlichen Verhaltensweisen auf dem Weg zu diesem Ziel. Der zeitliche Endpunkt des Ziels wird nicht definiert. Seit 1946 ist Zeit vergangen, und das Fehlen einer explizit ausgewiesenen Jahresangabe am Schluss des Films lässt die Vermutung zu, dass ein Ziel erreicht wurde, aber noch nicht das Ende des Wegs.
Mit einem harten Schnitt wechselt die Kamera von einer Massenszene in das Innere einer Küche. Eine halbnahe Einstellung zeigt die Küchentür. Sie öffnet sich und Mutter Webers kommt herein. Noch etwas müde holt sie einen kleinen Rest Brot aus dem Brotkasten, legt ihn auf einen Teller auf den Tisch und (ein Blick zur Wand leitet es ein) zieht die Küchenuhr auf. Die weiteren Familienmitglieder werden nun von der Kamera der Reihe nach in der Küche erwartet. Ernst, vom Schlaf noch benommen und ungekämmt, Inge, seine Schwester, frisch und fertig angezogen, ebenso Ernsts Frau Käthe, die sofort beginnt, der Mutter zu helfen. Harry erscheint im Morgenrock, mürrisch und schlecht gelaunt, eine Zigarette samt Spitze lässig im Mundwinkel. In der Tür begegnen sich die beiden Brüder. Ernst, nun gekämmt und schon agiler, fragt in ironischem Ton: „Na, Harry, auch schon auf?“, worauf dieser gereizt antwortet: „Ja, oder haste was dagegen?“ Zwischen den in der Küchentür stehenden Brüdern hindurch kommen zwei kleine Mädchen, die Zwillinge, in die Küche gelaufen und schauen in den Brotkasten – wie dies zuvor schon Ernst, Inge und Harry sofort nach Betreten der Küche getan hatten.
Zur Einführung des Familienoberhauptes Karl Webers wechselt die Kamera ihren Standpunkt. Der Vater wird nicht wie die anderen in der Küche erwartet, sondern isoliert im Schlafzimmer bei den letzten Handgriffen seiner Morgentoilette beobachtet. Er zupft an den Ärmeln seines Rocks, zieht die Krawatte zurecht und betrachtet sich gewissenhaft im Spiegel. Ein kurzer Rechtsschwenk in halbnaher Einstellung verfolgt seinen Gang aus dem Schlafzimmer in die Küche. Dort hat Ernst in einem Gespräch mit Inge gerade gesagt: „Aber schließlich kann ich kein Geld frühstücken.“ In diesem Moment betritt Vater Webers die Küche und schaltet sich sofort ins Gespräch ein: „Aber Geld, mein Sohn, …“ Die Küchenuhr beginnt zu schlagen. Der Vater hält inne, zieht seine Taschenuhr aus der Westentasche und vergleicht die Zeit. Im Weitergehen beendet er den begonnen Satz: „… ist die Quelle allen Wohlstandes und regelt die Ordnung der Welt.“ Er setzt sich an den Tisch und begrüßt erst jetzt die Familie mit einem „Guten Morgen“, wobei er die Hände auf dem Tisch abstützt. Der Tisch wackelt und sogleich schiebt er einen Keil unter das Tischbein. Dann seufzt er: „Wann werden wir endlich wieder in einem Wohnzimmer frühstücken wie sich’s gehört.“ Nach diesem Satz betritt die Trümmerfrau Ilse die Küche. Die Kamera erfasst sie von der Tür aus und verfolgt ihren Gang mit einem kleinen Linksschwenk. Ihr leises und zaghaftes „Guten Morgen“ wird von niemandem erwidert. Sie nimmt sich eine Tasse Kaffee, setzt sich aber nicht mit an den Tisch, sondern trinkt im Stehen. Mit einer kurzen Fahrt, die in einer Nahaufnahme endet, isoliert die Kamera die Trümmerfrau von den anderen.
Diese Isolierung wird sich in weiteren Filmsequenzen wiederholen: Ilse wird geduldet – mehr nicht. Offene Ablehnung ihr gegenüber wird kaum verborgen. So wird sie z. B. von Vater Webers zurechtgewiesen, sich nicht in der Küche die Hände zu waschen. Als kurz darauf Ernst seine Hände in der Küche wäscht, sagt der Vater nichts. Harry grinst den Vater an. Webers Blick zuerst auf Ernst und dann auf Harry verrät, dass er sehr wohl um sein ungerechtes Handeln weiß. Das süffisante Lächeln Harrys und der irritierte, unsichere Blick des Vaters: Zwei Details der Darstellung, die mehr sagen als alle Worte. Als Inge später ihre Stellung verloren hat, zeigt Webers seine Verachtung der Trümmerarbeit gegenüber ganz offen: Er fragt seine Tochter in Gegenwart der gerade in die Küche gekommenen Trümmerfrau, ob sie nun auch „schippen gehen“ und im „Dreck wühlen“ werde. Inge erwidert etwas verhalten, sie werde schon etwas anderes finden – verteidigt die Trümmerfrau und ihre Arbeit jedoch nicht. Die ablehnende Haltung gilt also nicht nur für den Vater. Wenngleich es nicht explizit ausgesprochen wird, wird sie auch von den „progressiven“ Familienmitgliedern Inge und Ernst geteilt. Hier wird das heroische Bild der Trümmerfrauen, das mit wachsender Distanz zur Nachkriegszeit aufgebaut wurde, korrigiert: Die Arbeit in den Ruinen erscheint in den Augen der Zeitgenossen als indiskutabel – wohingegen die selbstlosen Aufräum- und Aufbauarbeiten in der Fabrik als glorreiche Taten dargestellt werden. Bezeichnenderweise ist die Trümmerfrau in „Unser täglich Brot“ außerdem noch Flüchtling, wodurch das ablehnende Verhalten der Webers zusätzlich motiviert wird.
Nicki kommt schließlich erfolgreich von ihrer Hamsterfahrt mit einem großen Laib Brot zurück, und nach dem Frühstück trifft Harry seine Cousine Mary im Hausflur an. Mary, die eigentlich Marie heißt, nun aber Wert auf die englische Aussprache ihres Namens legt, ist erst spät aufgestanden, und sie trifft Harry, der noch seinen Morgenrock trägt. Es sind die beiden Figuren des Films, die scheitern werden. Dudow führt also bereits in der Frühstückssequenz alle Handlungspersonen des Films in einer für sie charakteristischen Haltung ein.
Nach den unterschiedlichen Tagestätigkeiten versammelt Dudow am Abend seine Filmfiguren wieder in der Küche. Es war Lohntag. Inge und die Trümmerfrau geben der Mutter ihr Kostgeld, Harry schenkt dem Vater eine Zigarre: „Hast wohl wieder ein Geschäft gemacht, was?“ äußert der Vater anerkennend. Nur Ernst hat wieder kein Geld gebracht – es wurde in den weiteren Aufbau der Fabrik investiert. Dies führt am Tisch zu einem Streitgespräch zwischen dem Vater und seinen beiden Söhnen (s. M 2).
Die einzelnen Gespräche am Küchentisch dokumentieren optisch und inhaltlich den Verfallsprozess, sie stellen die verschiedenen Stadien der Entwicklung und Entscheidungssituationen dar. In den Gesprächen werden die unterschiedlichen Bewertungen der jeweiligen Konfliktsituation vorgestellt, die von allen Beteiligten Entscheidungen verlangen. Miteinander kontrastiert werden diejenigen, die sich „richtig“ entscheiden: Ernst, Inge und Nicki mit denen, die sich „falsch“ entscheiden: Harry und Mary. Und die Mittelpunktfigur steht dazwischen, wird letztlich gezwungen, sich für eine Seite – die „richtige“ – zu entscheiden. In diesem Sinne hat die Familie Modellcharakter.
Die Kamera zeigt in einer halbnahen Einstellung den Vater und seine Söhne (Webers sitzt an der Stirnseite des Tisches, Harry und Ernst haben rechts von ihm an der Längsseite Platz genommen) und geht aus dieser Einstellung in eine Großaufnahme von Harry über, wodurch er separiert und seine folgende Aussage betont wird. Er sagt: „Ich möchte bloß wissen, wofür du den ganzen Tag arbeitest, wenn du kein Geld nach Hause bringst.“ Schnitt. Die drei sind wieder in halbnaher Einstellung zu sehen. Harry spricht weiter, während die Kamera in eine Großaufnahme des Vaters übergeht. Vater Webers: „Sehr richtig. Und wenn du das tun würdest, was Harry tut, anstatt in den Ruinen da rumzubuddeln, dann hätten wir mehr.“ Schnitt. Wieder ist die halbnahe Einstellung der drei zu sehen. Ernst antwortet, und die Kamera fährt auf ihn zu, bis er in Großaufnahme erscheint. Ernst: „Komische Leute seid ihr. Den Karren in den Dreck fahren, da wart ihr alle dabei. Aber wenn’s heißt anpacken, damit man aus dem Dreck wieder herauskommt, da will keiner mit.“ Schnitt. Die Kamera erfasst Nicki, die zur Tür hereinkommt und sich an den Tisch setzt. „Ach Kinder, hab‘ ich einen Hunger“, sagt sie gutgelaunt. Aber alle anderen schweigen. Die Kamera zieht sich in eine halbtotale Einstellung zurück. Sie nimmt eine leichte Obersicht ein. Nur die Eßgeräusche sind zu hören. Es ist ein Abschiedsbild: Zum letzten Mal sitzen alle Familienmitglieder gemeinsam am Küchentisch. Es ist kein harmonisches Bild, denn die Familie wird auseinanderbrechen. Nachdem Ernst, Harry und der alte Webers ihre Haltung, d. h. gesellschaftliche Position verdeutlicht haben, was durch eine klare Filmstruktur unterstrichen wird, die jeweils die entscheidende Aussage in einer Kamerafahrt und Großaufnahme präsentiert, löst sich die Familie auf und damit die bürgerliche Gesellschaft, für die sie beispielhaft steht. Einer nach dem anderen wird das Haus verlassen und seinen eigenen Weg suchen. Am Ende wird Vater Webers mit seiner Frau und seinen Zwillingen allein zu Hause sein. Immer mehr verliert Webers in seinem äußeren Erscheinungsbild an Korrektheit und akkuratem Auftreten. Seine Haare sind zerzaust, er trägt keine Krawatte mehr, mürrisch repariert er am Küchentisch seine Taschenuhr – all dies sind Chiffren einer voranschreitenden Krise bzw. der Auflösung der überkommenen Zeit.
Schließlich macht sich Webers in seiner feinsten Kleidung (Mantel, Handschuhe, Hut) auf, um seinen alten Arbeitgeber Renner in dessen Villa persönlich aufzusuchen, da alle seine Briefe an ihn unbeantwortet geblieben sind. Auf einer menschenleeren Straße geht Webers durch das Villenviertel. Viele Häuser sind zerstört. Diese Bilder sind auch symbolisch zu verstehen: Das Alte schlechthin ist verlassen und in irreparablem Zustand, es existiert nicht mehr. Bei der Renner-Villa angekommen, blickt Webers respektvoll auf das Haus. Vorsichtig schiebt er das Eingangstor zur Seite, ehrfürchtig betritt er die Treppenstufen. Er zieht die Handschuhe aus, man sieht seine Hand in Großaufnahme zittern, und drückt den Klingelknopf. Es rührt sich nichts. Webers öffnet vorsichtig die Tür. Schnitt. Die Kamera zeigt nun Webers in einer halbtotalen Einstellung im Inneren des Hauses. Er betritt die Eingangshalle. Die leise, melancholische Musik Eislers, von kleinen Disharmonien durchsetzt, begleitet seinen zögernden Gang durch die Halle. Sie wird lauter und das Tempo der disharmonischen Klänge nimmt zu. Die Musik greift dem folgenden Bild der Zerstörung vor. Die Kamera schwenkt analog zum Gang Webers‘ nach rechts, dieser erstarrt und nimmt wie in Trance seinen Hut ab. Die Kamera schwenkt weiter und zeigt nun aus dem tendenziellen Blickwinkel Webers‘ die zerstörten Räume der Villa. Das Ausmaß der Zerstörung wird in einem Rechtsschwenk und einer anschließenden Gegenbewegung zurück nach links beschrieben. Es erfolgt ein asyndetischer, harter Schnitt. Eine Totale zeigt die Arbeiter beim Aufbau der Fabrik, die früher Renner gehörte. Die Kontrastmontage führt die Zuschauer direkt von der zerstörten alten Welt in die im Aufbau befindliche neue Welt. Wir kennen den Weg inzwischen: Der alte Webers wird noch mehr Leid erfahren müssen, bevor auch er zur Unterstützung des sozialistischen Neuanfangs bekehrt wird.
Die Diskrepanz zwischen Webers‘ sturem Festhalten an der alten Welt und der Wirklichkeit, zwischen dem unwiderruflichen Zusammenbruch des Überkommenen und dem Aufbau der neuen sozialistischen Welt tritt in der beschriebenen Sequenz klar hervor. Das hervorragende Spiel Paul Bildts, seine unsicheren Gesten, seine stummen Blicke, seine geduckte Haltung – er hält den Hut vor sich in der Hand wie auf einer Beerdigung – und die filmtechnische Realisierung (Detailaufnahme, Kameraschwenk, Musikeinsatz, Kontrastmontage) lassen die Sequenz zu einem ausdrucksstarken metaphorischen Bild, zu einem Gleichnis werden: Zum einen für den endgültigen Zusammenbruch der alten Welt, zum anderen für das Ende der alten Vorstellungen Webers. Hier wird der Kleinbürger mit der Wirklichkeit konfrontiert, er kann seine Welt nicht länger mit bloßer Erinnerung am Leben erhalten. An dieser Stelle wird deutlich, dass Webers‘ Lebenshaltung von seiner persönlichen gesellschaftlichen Erfahrung im kapitalistischen Wirtschaftssystem und nicht bloß von oberflächlicher Borniertheit geprägt ist. Das individuelle menschliche Schicksal ist Resultat der historischen Situation.
Die Erfahrung im Renner-Haus und vor allem das Scheitern seines Sohnes Harry, der sich umbringt, nachdem er seinen eigenen Vater wegen eines Brotes beraubt und niedergeschlagen hat, steigern das Leid und die Erschütterung des alten Webers, so dass er sich am Ende des Films auf die neuen gesellschaftlichen Bedingungen einlassen kann. Sein sich stetig verschlechternder äußerer Zustand legt sogar nahe, dass die Wahl zwischen dem Alten und dem Neuen für Webers zu einer Frage auf Leben und Tod geworden ist: Da von der alten Welt nichts Trag- und Haltbares mehr übrig ist, darf er sich dem Neuen nicht mehr versagen, wenn er überleben will.
Nach dem Tode Harrys ist das Filmbild klarer und heller geworden, und die Markthalle ist wieder mit Waren gefüllt. Die gröbsten Schwierigkeiten des Fabrik-aufbaus und Produktionsbeginns (kein Lohn, kein Essen, Mangel an Fachkräften ) sind überwunden, und am Ende des Films rollen die ersten Traktoren (die nicht auf Anhieb anspringen wollen) aus dem volkseigenen Betrieb. Vater Webers, nunmehr Buchhalter in der „neuen alten“ Fabrik, steht zur Feier dieses Ereignisses gemeinsam mit Inge, Ernst, Peter Struwe und Bergstetter in vorderster Reihe und applaudiert. Dieser Optimismus mag gewollt wirken, wie auch die Wandlung des alten Webers als allzu plötzlich, ohne die naheliegenden Brüche und Widersprüche angesehen werden kann – wäre da nicht die kleine Szene vor der Werksfeier, in der Webers, nun voller Stolz auf seinen Sohn, Ernst zu einem korrekten Äußeren rät: „Weißt du, Ernst, ein Mann in deiner Stellung trägt bei so feierlichem Anlaß immer eine dunkle Schleife. Und in der Jackettasche müsstest du ein seidenes Taschentuch haben.“ Ernst schaut seinen Vater an und antwortet: „Wie der Herr Renner, was?“, worauf der Vater prompt „Ja!“ sagt.
Die Spannungen zwischen Vater und Sohn sind zwar begraben, aber die alten Denkstrukturen Webers‘, seine durch das alte Leben verinnerlichten Prinzipien und Haltungen sind noch lange nicht abgebaut, geschweige denn einer neuen politischen Sichtweise gewichen. Der alte Webers hat sich zwar mit in die Reihe derer eingeordnet, die dem Sozialismus applaudieren, wie es ihm aber im Sozialismus ergehen wird, das zeigt dieser Film nicht.