Fernsehen im Wandel des Alltags

Fernsehrezeption, schon immer ein komplexer Prozeß zwischen Kommunikator, Rezipient und dessen Umgebung,

Zusammenfassung des Referats von Dr. Wolfgang Neumann-Bechstein (1)

Dominanz der Widersprüche

Die Diagnose ist widersprüchlich, denn die Zuschauer nutzen das Medium Fernsehen zugleich mehr und doch auch wieder weniger als noch zu Zeiten des unangefochtenen öffentlich-rechtlichen Programmangebots. Der Fernseher läuft länger als je zuvor, konzentriert hingesehen wird aber wesentlich seltener.

Neue Freiräume bei der Fernsehnutzung

Herrschte vormals die Blickrichtung von Medium zum Zuschauer vor, hat sich die Sichtweise des kritischen Betrachters jetzt umgekehrt. Die enorme Zunahme der Programme und ihres Sendeumfangs hat ebenso zu einem gewandelten Zuschauerverhalten beigetragen wie die weite Verbreitung der Fernbedienung. Die Zuschauer selbst haben neue Entscheidungsfreiräume bei der Einbeziehung des Fernsehens in ihren Alltag gefunden. Die alte These, nach der das Medium allein schon die Nachricht sei, gilt nur noch sehr eingeschränkt, Es muss deshalbnach der Rolle des Publikums und seinem Einfluss auf die Programmentwicklung gefragt werden. Nur wer Veränderungen im Lebensumfeld der Zuschauer wahrnimmt, kann erkennen, ob das veränderte Fernsehverhalten lediglich eine vorübergehende Mode oder Ausdruck eines fundamentalen Strukturwandels ist.

Programmliche Veränderungen und deren Rezeption

Im Mai 1993 konnten in Deutschland von den rund 32 Millionen Fernsehhaushalten zwei Drittel mehr als die üblichen terrestrischen Programme empfangen. Kabel und Satellitenempfang führen für sie zu einem „Rund-um-die Uhr-Fernsehen“. Das über den ganzen Tag kleingerasterte Programm, das die Sender anbieten, um jederzeit zum Einstieg zu motivieren, hat auch zur Folge, dass jederzeit der Aus- und Umstieg möglich wird. Daraus folgt: Eine gezielte Vorauswahl durch das Publikum wird überflüssig, Programminformationen dienen eher der Nachinformation über die gerade laufende Sendung. Bezeichnend für diese Veränderung des Nutzungsverhaltens ist der Misserfolg der Sendung „Die zweite Heimat“, deren letzte Folgen nur 3% der Fernsehhaushalte einschalten, von denen nur etwa ein Drittel die jeweilige Folge vollständig gesehen hat.

Die Folgen sind in vielen Programmbereichen ähnlich. Kleingerasterte Programmhäppchen und der Verzicht auf thematische Komplexe selbst bei Informationsprogrammen (Beispiel „ZAK“) sind Konzession an die Zuschauerwanderung durch die Kanäle. Wer nicht begreift, dass kürzere Spannungsbögen das Gebot der Stunde sind, „den bestraft die Fernbedienung“. Der Versuch, das Fernsehen zum Medium hintergründiger Themen zu entwickeln, scheint gescheitert.

Die Rückkehr des Fernsehereignisses

Mit der möglichst exklusiven Übertragung spektakulärer Ereignisse versuchen die Programmmacher dem seit Jahren schleichend voranschreitenden Verlust des Erlebnischarakters des Mediums entgegenzuwirken. Dabei wird auch nicht vor Sensationalismus halt gemacht. Inhalte und Erfolgsmaßstäbe werden von den Machern immer ungenierter voneinander getrennt betrachtet. Einfache Schuldzuweisungen an die Programmverantwortlichen verkennen aber die Dimension und die eigentliche Ursache des Wandels. Wir befinden uns inmitten eines Differenzierungsprozesses von Sehgewohnheiten und Nutzungsmustern, denn heute sind zwischen den einzelnen Sendersystmen Polarisierungen ihres Publikums zu beobachten. In der Tendenz stimmen alle Einzelstudien im Ergebnis überein. Der Zuschauer setzt der Dramaturgie des Programms die Dramaturgie der Fernbedienung entgegen. Allgemein gilt die Kurzformel: Mehr Fernsehen in anderen Nutzungszusammenhängen.

Keine Zeit mehr zum Fernsehen?

Zu den weniger offensichtlichen Ursachen gehört das veränderte Zeitbewusstsein der Zuschauer. Die Frage nach dem Zusammenhang von Alltagszeit und Fernsehzeit wird hierbei immer wichtiger. Nimmt das Gefühl, keine Zeit mehr zu haben, allgemein zu, liegt es nahe, die Wirkungen auf den Umgang mit Medien zu untersuchen, denn deren Nutzung baut auf bestimmten vorgegebenen Zeitrastern auf. Galten früher für die meisten Menschen vergleichbare Zeitabläufe, individualisieren sich nun Zeitabläufe im Alltag zusehends. Trotz aller technischen Erleichterungen ist der Anteil individuell verfügbarer Freizeit im Bewusstsein der Menschen rückläufig, was zu einem gesteigerten Gefühl von Zeitmangel führt. Eine Strategie, im Alltag seine Zeit optimal zu nutzen, d.h., den prinzipiell nicht erweiterbaren Zeitvorrat listig zu optimieren, ist die Steigerung von Paralleltätigkeiten.

Nichts versäumen, alles gleichzeitig machen

Das Gefühl, keine Zeit zu haben, wird auch durch die voranschreitende Auflösung der klaren Scheidung zwischen Reproduktions- und Freizeit verstärkt. Das Leben erscheint immer häufiger als Durcheinander von notwendigen und nichtnotwendigen Tätigkeiten, von extremem Stress und plötzlichem Leerlauf, so das man über seine freie Zeitraum mehr disponieren zu können glaubt. Dort wo man eine Lücke in seinem Zeitablauf anders nicht sinnvoll füllen zu können meint, ist das Fernsehen der ideale Zeitvertreib. So entsteht die paradoxe Situation, dass ein allgemeines Gefühl des „keine-Zeit-habens“ eine umfangreiche Fernsehnutzung begünstigt und zugleich zu einem zusammenhangloseren und vereinzelteren Gebrauch führt. Erste Forschungsergebnisse in dieser Hinsicht legen nahe, das Fernsehen von immer mehr Zuschauern als Medium zur Zeitverdichtung genutzt wird.


1) Zusammenfassung eines Referats auf der lAK-Studienwoche „Medien in einer neuen Alltagskultur – eine Herausforderung für die Medienpädagogik“ vom 25.7.-31.7.1993 in Graz.

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