Streifzüge durch die Geschichte der Medienbeschleunigung
von GFS-Admin_2021 · Veröffentlicht · Aktualisiert
Am Anfang war…
Wolf-Rüdiger Wagner (1993)
Die Geschichte der Medienbeschleunigung kann hier nicht systematisch beschrieben werden. An einigen Entwicklungslinien und durch exemplarische Beispiele aus der Mediengeschichte soll aufgezeigt werden, wieviel die Kategorie der Beschleunigung zum besseren Verständnis unserer Kommunikationskultur beitragen kann.
Eine Geschichte der Medienbeschleunigung könnte man mit der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern anfangen lassen. Durch den Buchdruck konnten Texte in vielen Exemplaren verbreitet und somit von vielen Menschen gleichzeitig gelesen werden. (15) Die Beschleunigung des Informationsflusses trug entscheidend zur Dynamik des gesellschaftlichen Wandels bei. Dies zeigt sich z.B. an der Funktion der Flugschriften in der Reformation und in den Bauernkriegen.
Die Masse der Bevölkerung konnte die Flugschriften zwar nicht lesen, aber ohne die schriftliche Fixierung der Forderungen und Argumente wäre der Zusammenhang zwischen den verschiedenen lokalen Bauernprotesten nie entstanden bzw. sehr schnell „zerredet“ worden. Daran wird deutlich, dass es hier nicht nur um die Beschleunigung des Informationsflusses an sich ging – mit Sicherheit verbreiteten sich Gerüchte mit höherer Geschwindigkeit – sondern um die Qualität der dabei vermittelten Botschaften.
Verändert sich durch den Buchdruck und der damit einhergehenden schnellen Vervielfältigung von Informationen das Tempo und die Qualität des gesellschaftlichen Kommunikationsprozesses, kommt es zum nächsten qualitativen Schub in der Geschichte der Kommunikationskultur mit der Entwicklung der Fotografie.
Neben der Detailtreue und Genauigkeit sind die Zeitgenossen von der Schnelligkeit des neuen Abbildungsverfahrens fasziniert. So hebt Arago 1839 in seinem Bericht über die Erfindung der Daguerreotypie vor der Akademie der Wissenschaft diesen Punkt besonders hervor:
„Die Schnelligkeit der Methode hat vielleicht am meisten Erstaunen im Publikum erregt. In der Tat sind kaum 10 bis 12 Minuten in der trüben Witterung des Winters notwendig, um die Ansicht eines Monuments, eines Stadtviertels, einer Landschaft aufzunehmen…. Zu allen diesen Vorrichtungen zusammen dürfte eine Zeit von einer halben bis zu dreiviertel Stunden nötig sein. Diejenigen, die neulich, als sie gerade im Begriff waren, eine Reise anzutreten, erklärten, sie wollten jeden Augenblick, wo die Chaise Steigungen zu überwinden hätte, benutzen, um Ansichten der Gegend aufzunehmen, wurden daher in ihren Erwartungen getäuscht.“ (1)
Die sanfte Ironie, mit der Arago Vorstellungen vom schnellen Reisefoto abtut, wird bald ihrerseits belächelt werden. Doch bevor von einem markanten Beschleunigungsschub in der Geschichte der Fotografie die Rede sein soll, noch eine Anmerkung zum Kontext der Erfindung.
Niepce, der Partner Daguerres, war Besitzer eines lithografischen Druckbetriebes. Bei seinen Experimenten ging es ihm zunächst um die Beschleunigung des Steindrucks. Statt die Zeichnungen umständlich von Hand zu übertragen, wollte Niepce transparent gemachte Zeichnungen durch das Sonnenlicht auf die mit einer lichtempfindlichen Schicht überzogenen Steinplatte kopieren.
Der Steindruck, erst 1797 erfunden, hatte sich sehr schnell durchgesetzt, weil es ein vergleichsweise einfaches Verfahren war, um die große Nachfrage nach Bildern schnell und preiswert zu befriedigen. Die Fotografie bewirkt also nicht nur eine Beschleunigung der Kommunikationskultur, sondern ihre Erfindung ist selbst eingebettet in den Kontext der schneller werdenden Druckverfahren.
Für die Naturwissenschaftler des 19. Jahrhunderts war die Fotografie in ihrer Detailtreue und Unbestechlichkeit ein Leitbild. Der Wissenschaftler solle zum „Photographen der Natur“ werden, „ohne vorgefaßte Meinung beobachten, auf die Natur hören und nach ihrem Diktat schreiben“. Diese Maxime formulierte in der Mitte des 19. Jahrhunderts Claude Bernard, einer der Begründer der experimentellen Medizin. Sein Schüler, der Physiologe Marey, setzte diesen Gedanken in die Tat um. Er war an der Analyse von Bewegungsabläufen interessiert, die mit dem Auge nicht erkannt werden können. Dazu entwickelte er die Technik der fotografischen Reihenaufnahmen und schuf damit die Grundlage für die Kinematografie, den Film.
Mit fotografischen Reihenaufnahmen – dies sein wissenschaftliches Interesse – konnte er die Unzulänglichkeit der menschlichen Sinneswahrnehmung ausgleichen und ihre Fehler korrigieren. In der Kinematographie wurde die Überlegenheit der Photographie über die Fähigkeiten des menschlichen Auges weiterentwickelt. Durch die Geschwindigkeit des Aufzeichnungsverfahrens konnten Bewegungen mit einer Genauigkeit und einem Detailreichtum festgehalten werden, die der natürliche Blick nicht erreichen kann: „Die Welt, die wie ein unbekannter Kontinent ,wiederentdeckt‘ wurde, erschien endlich in ,ihrer ganzen Wahrheit‘.“ (17)
Die immer schneller werdenden Foto- und Filmtechnik fand ihren Einsatz über die Berichterstattung und Unterhaltung hinaus vor allem in Forschung und Technik. Anatomische Bewegungsstudien oder die fotografische Analyse ballistischer Kurven von Artilleriegeschossen waren hierfür nur ein frühes Vorspiel.
Bei der von Arago gerühmten schnellen Belichtungszeit von 10 bis 12 Minuten waren Porträtaufnahmen ohne Kopf und Körperhalter undenkbar. Erst in den 20er Jahren unseres Jahrhunderts werden Momentaufnahmen aus der Hand technisch möglich.
Wie neu das Medium „Momentfotografie“ für die Zeitgenossen war, läßt sich an folgender Reaktion zeigen. Der Pressesprecher der preußischen Regierung erklärt im Mai 1930, dass die Minister sich weigern, an Banketts teilzunehmen, wenn beim Essen fotografiert wird.
„Zu keinem Festessen, zu keiner gastlichen Veranstaltung können die Minister gehen, ohne photographiert zu werden. Während des Essens stürzen plötzlich von allen Seiten Pressephotographen herbei, um die Minister aufzunehmen, wie sie gerade die Gabel zum Munde führen…. Eine wirklich intelligente und nicht allzu bequeme Bildreportage soll den Menschen da zu photographieren versuchen, wo eine charakteristische Gebärde das geistige Niveau des Betreffenden zum Ausdruck bringt.“ 18
Durch den Schnappschuss wird die Fotografie „schneller“ als die menschliche Wahrnehmung. „Zwischenzeiten“, d.h. Übergänge im Mienen- und Gebärdenspiel eines Politikers können festgehalten werden, die sich der Wahrnehmung entziehen. Derartige Fotografien sind nicht manipuliert und lassen dennoch keinen Rückschluss auf eine Situation zu. Dies ist nur ein augenfälliges Beispiel dafür, wie die Beschleunigung der Medientechnik zu einer Veränderung der Information führt.
Nach der Beschleunigung der Vervielfältigung von Informationen durch die Entwicklung der Drucktechniken und nach der Erfindung der fotochemischen Aufzeichnungstechniken erfolgt der nächste epochale Einschnitt in der Mediengeschichte mit der Einführung der Telegrafie.
1) Zitiert nach Eder, Handbuch der Photographie l.q. – Geschichte, 4. Auflage 1932, S. 305 f.
2) Paul Virilio, Die Sehmaschine, Berlin 1989, S. 58
3) Willy Stiewe, Das Bild als Nachricht, Berlin 1933, S. 96 f.
Durch die elektromagnetische Telegrafie wird zum ersten Mal in der Kommunikationsgeschichte die Bindung zwischen Verkehrsmitteln und Nachrichtentransport aufgehoben. Nachrichten werden schneller als Pferde, Schiffe und Eisenbahnen.
Die Zeitgenossen feiern hymnisch die Telegrafie, die mit der Geschwindigkeit des Blitzes Kontinente und Meere überquert. Die Schnelligkeit der Nachrichtenübermittlung wird immer wieder selbst zur Nachricht. Typisch hierfür die Meldung aus dem Jahr 1881 über einen neuen Nachrichtenrekord. Nur fünf Sekunden nachdem der Sieger die Ziellinie beim englischen Derby in Epsom überquert hatte, wurde der Sieger in New York bekannt gegeben. (1)
Aufgrund der wachsenden Bedeutung der Telegrafie für den Austausch von Geschäftsmitteilungen entstand noch in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts ein starkes Interesse an der Entwicklung eines Faksimile-Telegrafen. Durch die direkte Übermittlung von Handschriften wäre die Übersetzung von Mitteilungen in das Morsealphabet und die notwendige Rück-übersetzung entfallen, ein Vorgang, der sowohl Spezialkenntnisse und Zeit erforderte als auch eine Quelle häufiger Übermittlungsfehler war. Darüber hinaus wäre das Telegramm durch die direkte Übermittlung von Handschriften zum Dokument geworden, wodurch Auftragserteilung und Vertragsabschluss per Telegramm nach den bis dahin üblichen Formen hätte abgewickelt werden können. Diese Versuche erhielten zusätzlichen Auftrieb durch das Aufkommen der illustrierten Massenpresse. Seit 1883 stand mit der Autotypie ein Verfahren zur Verfügung, welches ermöglichte, von Fotografien direkt Druckplatten herzustellen. Damit war von der Drucktechnik her die Voraussetzung gegeben, Bildinformationen der Aktualität der Wortnachrichten anzupassen.
Von einer Londoner Tageszeitung wird 1891 berichtet, dass sie sich mit Hilfe der Taubenpost die aktuellen Illustrationen beschafft.
„Auf dem Dache des der Zeitung gehörigen, im Herzen Londons gelegenen Gebäudes werden zahlreiche Brieftauben gehalten, jeder Zeichner nimmt einige derselben in einem leichten Handkäfig mit, entwirft seine Skizzen auf äußerst dünnem Papier, befestigt dieselben zusammengerollt an dem Hals der Taube, welche sie in wenigen Minuten an den Ort ihrer Bestimmung trägt.“ (2)
Selbst in den ersten Jahren unseres Jahrhunderts dachte man über das „Fernsehen“ vor allem in Analogie zum „Fernschreiben“ und „Fernsprechen“ nach. Es fehlte noch der „Rundfunk“ als Vorbild für das heutige Massenmedium Fernsehen.
1) Scientific American 9. Juli 1881, S. 19
2) Die technischen Hilfsmittel des Daily Graphic, in: Prometheus Nr. 78/1891, S. 406
Als durch die Einführung der Telegraphie Nachrichten schneller als die Verkehrsmittel werden, werden Geschwindigkeit und Fortschritt zu Synonymen. In dieser Zeit verschiebt sich auch die Bedeutung des Begriffs „Tempo“. Bezeichnete man damit früher „das angemessene Zeitmaß“, bedeutet Tempo seit dem Ende des 19. Jahrhundert „hohe Geschwindigkeit.
Schnelligkeit ist die Parole des Tages
Wir leben in der Zeit des Telephonierens, Telegraphierens, Stenographierens, Photographierens und Stereotypierens – was mit anderen Worten heißt, daß wir in fliegender Hast dahinsausen und Raum und Zeit mit Siebenmeilenstiefeln überspringen. Schnelligkeit ist die Parole des Tages geworden – wer dieser Parole nicht folgt, ist rettungslos verloren. – Schnelligkeit ist für eine Zeitung das oberste Leitmotiv, welches sie befolgen muß. Aber es hilft kein Stoßseufzer, denn wir leben in der beseligenden Zeit des Dampfes, und der Tag wird kommen, wo nicht nur eine Morgen- und Abendausgabe, sondern auch noch eine Frühschoppen-, Mittag- und Nachtausgabe erscheint, wo der Staatsbürger täglich nicht mit zwei, sondern mit fünf Nummern seines Leib-Preßorgans in seinen Prinzipien gefestigt wird.
Deutsche Stenographen-Zeitung 1890, S. 29
In der Diskussion über die Echtzeitberichterstattung sollte man zur Kenntnis nehmen, dass schon im 19. Jahrhundert die Beschleunigung der Presse das Zeitbewusstsein der Menschen entscheidend beeinflusst hat. Die Medien fungieren spätestens seit dem 19. Jahrhundert als eine Art „sozialer Taktgeber“.
„Insgesamt handelte es sich um eine schnell zunehmende Aktualisierung und Verbreitung periodischer Kommunikation auf allen Lebensgebieten. Je nach der Erscheinungsweise des jeweiligen Presseorgans gab es täglich, wöchentlich oder monatlich eine Summe von Neuigkeiten, so dass sich niemand dem Eindruck schneller zeitlicher Bewegung entziehen konnte…“ 22
Die Beschleunigung der Schriftkultur
Ihren entscheidenden Beitrag zur Beschleunigung der Kommunikation leistet die Telegrafie, indem sie räumliche Entfernungen überbrückt. Um Einfluß der Telegrafie auf die Kommunikationskultur genauer zu erfassen, muß man jedoch
einzelne Entwicklungslinien genauer verfolgen. So gibt es einen Zusammenhang zwischen der Telegrafie und der Einführung der Schreibmaschine. Im Prinzip bereits 1714 erfunden, beginnt die eigentliche Geschichte der Schreibmaschine erst um 1870. Das Interesse am maschinellen Schreiben wurde nicht zuletzt durch die Telegrafie belebt. Telegramme mußten aus dem Morsealphabet in die Schriftsprache übertragen werden. Ein geübter Telegrafenbeamter übersetzte schneller, als er schreiben konnte; denn ein guter Schreiber kam in der Mitte des 19. Jahrhunderts höchstens auf 30 Wörter in der Minute. Das Schreiben per Hand hielt nicht mehr Schritt mit dem Tempo der neuen Übermittlungstechnik. Der Systemzwang, die entstandene „Übermittlungslücke“ zu schließen, belebte das Interesse am maschinellen Schreiben und einer Erfindung, die bereits 150 Jahre auf ihre Anwendung wartete.
Dass es noch andere Bereiche gab, in denen die Geschwindigkeit der Telegrafie zu Übermittlungslücken führte, darauf kommt Woidemars Tante in Fontanes Roman „Der Stechlin“ zu sprechen:
„Ich habe dein Telegramm‘, sagte die Domina, ,erst um ein Uhr erhalten. Es geht über Gransee, und der Bote muß weit laufen. Aber sie wollen ihm ein Rad anschaffen, solches, wie jetzt überall in Mode ist…'““
Die Telegrafie selbst verdankt ihren ersten großen Entwicklungsschub einer derartigen Systemlücke, denn die ersten Telegrafenlinien enstanden parallel zum Ausbau der Eisenbahnstrecken und dem dadurch entstehenden Kommunikationsbedarf.
Nicht nur die beschleunigte Übermittlung von Nachrichten durch die Telegrafie, sondern vor allem die Entwicklung der Stenografie als Protokolliertechnik förderte das Interesse an schnelleren Schreibmethoden. Solange die Kurzschrift in Langschrift übersetzt werden musste, entstand hier durch die Langsamkeit der Handschrift ein Engpass.
Wenig Probleme haben in den letzten Jahren eine vergleichbare Aufmerksamkeit auf sich gezogen wie die telegraphische Übermittlung von Bildern und Handschriften. Unter den Erfindern, die sich mit der Lösung dieses Problems beschäftigen, gibt es viele, die darin nur einen vorbereitenden Schritt zur Erfüllung einer bei weitem schwierigeren, aber auch unvergleichlich interessanteren Aufgabe, des Problems der elektrischen Television, sehen. Darunter versteht man das Verfahren, das es ermöglicht, beliebige Gegenstände oder belebte Szenen am anderen Ende der Telegraphen- oder Telephonlinie sichtbar zu machen. Trotz der unbezweifelbaren Attraktivität liegt darin nur ein beschränkter praktischer Nutzen. Tele-Photographie dagegen wird sich mit Sicherheit als außerordentlich wertvoll für Zwecke der illustrierten Presse herausstellen. Sobald ein getreues Abbild eines Ereignisses in Ergänzung zu der Nachricht selbst, über jede Entfernung ohne nennenswerten zeitlichen Verlust übermittelt werden kann, werden Bilder denselben Grad der Aktualität erreichen wie die Berichte der Zeitungskorrespondenten.
Scientific American, 30. Juli 1910