Eberhard Itzenplitz erinnert sich an seine Göttinger Zeit
Learning by doing oder von einem, der auszog…
Wir lagen buchstäblich vor seinen Füßen, im dunklen, leeren Zuschauerraum des Theaters von Göttingen. Der, dessen Arbeit wir zusahen, hieß Heinz Hilpert, einer der ganz großen Regisseure, der sein Deutsches Theater aus Berlin nach Kriegsende über Konstanz hierhergebracht hatte, politisch unangefochten übrigens… Das war kurz nach 1950, und uns drei oder vier Studenten hielt lange Zeit Hilperts Arbeit mit den Schauspielern mehr in Atem, als es die hochrangigen Vorlesungen von damals zahlreichen Nobelpreisträgern an der Göttinger Universität hätten tun sollen. Hätten?
An der Uni waren wir eine verrückte Gruppe von Twens, besaßen die Unbekümmertheit, aber auch die Legitimität, uns sprunghaft umzuschauen und nach Dingen zu suchen, die vielleicht einmal unser Dasein ausmachen würden. Und jetzt war es das Theater, das Schauspiel, die Arbeit auf der Bühne. An jenem Vormittag immerhin probte Heinz Hilpert mit Hilde Krahl, Edith Herdegen, Mila Kopp, Erich Ponto und zwei ganz jungen Mädchen, die sich einige Tage vorher als “die Neuen“ vorgestellt hatten Christa Keller und Ellen Schwiers.
Philosophie, Kunst- und Literaturgeschichte blieben außen vor, wie man heute so sagt. Oder doch nicht? Letzten Endes taten sie es nicht, denn ohne sie kommt man auch in der Theaterarbeit den Dialogen, dem Text, dem vorbestehenden Werk nicht bei auf dem Wege in die andere ästhetische Dimension, in das szenische Kunstwerk also. Vielleicht ist es eine Frage der Methode, wie man es zu schauspielerischen Hochleistungen bringt.
Wir Hospitanten damals, darunter Henning Rischbieter, der später „Theater heute“ gründete, Horst Loebe, danach langjähriger Hörspiel-Chef von Radio Bremen, Joachim Kaiser, heute Kritiker bei der Süddeutschen Zeitung, oder auch die späteren Regisseure Günter Ballhausen und ich hörten atemlos zu. Denn Heinz Hilpert brachte seine Hilfen bei Schauspielern nicht an, indem er den „Überbau“ diskutierte und gleichsam deduktiv eine Szene, das Spiel und seine Choreographie, bestimmte. Er sah zunächst scheinbar ab von der geistesgeschichtlichen Position eines Textes und besann sich zuerst auf die szenische Situation und den besonderen Zustand der Figuren, die da entstehen sollten. Er ging induktiv vor, und im Spiel als Ganzem erst waren aus zahllosen Einzelwahrnehmungen allgemeine Erkenntnisse gegenüber dem Stück zu gewinnen. Und diese Methode, heute nicht überall mehr angewandt, führte zu jener schauspielerischen Sicherheit, jener Souveränität und Überzeugungskraft der Bühnenfiguren, welche Hilpert-Inszenierungen Jahrzehntelang im deutschsprachigen Raum berühmt gemacht haben: Sie zwangen auch die Zuschauer, neben allem sinnlichen Genuss, hinein in einen philosophischen Erkenntnisprozess.
Es rundet das Bild dieses ebenso souveränen wie mit Witz und Sprachgewalt begabten Regisseurs, wenn wir von jenem drohenden Zwischenruf berichten, mit dem er einem seiner Schauspieler das Unvermögen ankreidete, die nächste Szene zu beginnen:,,Erst g e h e n, dann sprechen!“ Und siehe, es half! Bloß Heinz Hilpert fügte mit der wirklich großen Persönlichkeiten eigenen Bescheidenheit sofort hinzu: ,,Det is nich von mir, det is von Maxe Reinhardt…“.
So ging das ein paar Jahre in Göttingen. Und dann kamen Hans Abich und Rolf Thiele, waren eigentlich schon eine Weite da, als wir Jungen unsere neugierigen Nasen raus zum ehemaligen Flugplatz wendeten. Dort nämlich waren Filmstudios entstanden, begann man, Filme zu produzieren. Und wir zogen nicht aus, das Fürchten zu lernen, als wir uns dort meldeten…
Filmleute bilden eine eigene Welt, sie zu erobern oder gar nur dort Eingang zu gewinnen, ist nicht leicht. Aber warum sollte mir nicht gelingen, was im Deutschen Theater funktioniert hatte? Die Sache endete zunächst auf der Komparsenbörse, im Reich der sogenannten Kleindarsteller. Und während ich nachts an meiner Dissertation schrieb, arbeitete ich mich am Tage heran an das, was mich tatsächlich interessierte, an den Kern filmischer Arbeit. Das bisschen Mitspielen hatte ich als Regieassistent am Theater längst gelernt, doch jetzt bekam man sogar noch Geld dafür.
Kleinere Rollen gab es in ES KOMMT EIN TAG (1950, Regie: Rudolf Jugert), UNSTERBLICHE GELIEBTE (1950, Regie: Veit Harlan), GELIEBTES LEBEN (1953, Regie: Rolf Thiele), KÖNIGLICHE H0HEIT (1953, Regie: Harald Braun) oder GESTÄNDNIS UNTER VIER AUGEN (1954/55, Regie: André Michel). Ich nenne sie nur der guten Ordnung halber, erwähnenswert sind sie – die Rollen – nicht.
Auch mit Hansjörg Felmy war ich schon in Göttingen befreundet, wo wir lernten und „übten“. In Wahrheit ist dies meine ,,Filmhochschule“ gewesen (solche Schulen gab es ja damals noch nicht). In den Pausen saß man da und wartete. Und schaute zu, hörte zu, wenn der Regisseur mit den Schauspielern, mit den Kameraleuten und allen anderen probte. Und kriegte plötzlich spitz, dass es auch schauspielerisch beim Film auf etwas ganz anderes ankam. Jedenfalls wiederholte sich, was Rolf Thiele einmal Mila Kopp zurief: “Es hilft hier nicht ‚Scheinen-wie-wenn‘ – es gilt nur das einfache ‚So-Sein‘ vor der Kamera…!“ Das Spiel der großen Darstellerin veränderte sich zusehends, es war faszinierend zuzuschauen. Denn es wurde nicht besser, es wurde einfach ganz anders, nachdem sie und Thiele noch eine Weite getuschelt hatten.
Ich sah es immer wieder in den Jahren damals im Atelier, und heute weiß ich natürlich, wo der Unterschied zur Bühnenarbeit und auch zur anderen Art des schauspielerischen Stils liegt. Wir Älteren schauen manchmal melancholisch auf unsere nachwachsenden Kollegen, deren Schuld es zweifellos nicht ist, wenn sie mit eigenhändigem Einlegen von 35mm-FilmmateriaI in die Arriflex besser vertraut sind als mit der Arbeit an den Schauspielern. Ich gehöre nicht zu denen, welche die häufige Wirkungslosigkeit jüngerer deutscher Filme dem Unvermögen ihrer Macher zuschreiben, mit ihren Darstellern – immerhin potentiellen Stars! – umzugehen. Tatsächlich aber gibt es in Deutschland immer noch keine Stars…
Nicht vergessen sind die Wochen und Monate zu Füßen eines Regisseurs wie Heinz Hilpert am Deutschen Theater Göttingen, nicht vergessen die Stunden nachts im Schneideraum, in denen wir uns an der Gestaltung eines Trailers versuchten, dabei Fehler machten, von der Cutterin liebevoll über deren Ursachen aufgeklärt wurden und dadurch später a priori wussten, welche Arten von Takes niemals gedreht werden durften, weil sie im Filmschnitt einfach nicht zueinander passen. Learning by doing…
Hans Abich von der Filmaufbau hat meinem Drängen damals, in Rolf Thieles Erstling PRIMANERINNEN (1951) zu assistieren, nicht nachgegeben. Rolf Thiele brauchte naturgemäß keinen Debütanten, er war selbst einer. Es hat dann für mich ganz anders geklappt, und 1957, als mich Falk Harnack holte, ihm zu assistieren, hatte ich schon an einigen Filmen als Assistent mitgearbeitet.
Erich Waschneck, der mich noch als Junge aus Berlin kannte, engagierte mich zum ersten Mal. Der Film hieß DREI TAGE ANGST (1952). Cornelia Froboess, heute renommiertes Mitglied der Münchener Kammerspiele, saß, achtjährig, in den Drehpausen auf dem Schoß des Regieassistenten „Itz“. Und wenig später landete ich bei Carl Boese und seiner SPANISCHEN FLIEGE (1954/55). Die handwerkliche Bewährungsprobe hatte ich bestanden.
UNRUHIGE NACHT (1958) hieß der Film der Filmaufbau, bei dem ich nun Falk Harnack assistieren sollte. Politische Gesinnung, gleiche familiengeschichtliche Fixpunkte, ausgeprägte antifaschistische Energien und das große liberale Wohlwollen eines Mannes wie Hans Abich brachten uns zusammen. UNRUHIGE NACHT nach der Novelle von Albrecht Goes sollte einer der wichtigsten Filme der Filmaufbau von Hans Abich und Rolf Thiele werden, aber auch jener, die in Niedersachsen entstanden sind. Zuerst aber fehlte das Geld.
Die Co-Produktion der Filmaufbau mit der Carlton-Film, München, und der Real-Film, Hamburg, ist bekannt. lm Frühjahr 1958 sollte schon gedreht werden, aber noch einmal verschob sich alles. Es wurde Sommer, Spätsommer. Und es wurde ein verregneter Sommer, wie ich immer wieder in meinem seit 1950 geführten Journal notieren musste.
Wir trafen uns in Hamburg dort, wo heute das „Studio Hamburg“ produziert: der Produktionsleiter, die Szenenbildner, Kostümbildner, die Aufnahmeleitung, wenig später Regisseur Harnack, Drehbuchautor Horst Budjuhn und der Dramaturg Wulf vom Verleih. Die Suche nach geeigneten Schauplätzen hatte, wie von Niedersachsen erwartet, Erfolg: Dem nördlichen Rußland ähnliche Motive zu finden, sollte nur ein paar Wochen dauern. Auch mit der Besetzung kamen wir klar, holten Gesichter aus Finnland und Schweden dazu. Bloß das vorliegende Drehbuch bereitete immer wieder Kopfzerbrechen.
Man bedenke: Die Bundesrepublik stand vor der Wiederbewaffnung, es gab bereits die Pariser Verträge, die Änderung des Grundgesetzes wurde diskutiert, die atomare Bewaffnung ernsthaft beredet. Und alles unter der Rubrik ,,Europäische Verteidigungsgemeinschaft“. Uns Jüngeren – zum größten Teil Kriegsteilnehmer, wie ich vor wenigen Jahren verwundet und in Gefangenschaft in der UdSSR gewesen – schien es unfassbar. Deshalb wohl auch unsere nächtelangen Gespräche über die Filmhandlung, welche zwar beklemmend genug, aber eher wie ein weit zurückliegendes Ereignis erschien, statt jenen Appellcharakter zu haben, den die Gegenwart, also auch unser Kinopublikum, nach unserer Meinung benötigte.
Falk Harnack zögerte, er hatte ohnehin dramaturgische Probleme mit dem Drehbuch. Jede Erweiterung hätte das bekannte Längenproblem nach sich gezogen. Wir saßen oft im Hotel Bellevue bis in die Nacht, wir saßen bald aber auch zusammen mit unseren Produzenten. Die Runde bestand aus Abich, Koppel und Trebitsch, dazu Harnack, Budjuhn, Wulf und mir im kleinen Konferenzzimmer des heutigen Studio Hamburg, damals Real-Film-Studio.
Es gibt in meinem Journal keine Bemerkung darüber, wer den Einfall hatte, dem entstehenden Film eine Rahmenhandlung zu geben. Unbestritten jedoch ist, dass sich auch Bernhard Wicki, der die Hauptrolle spielen sollte, sehr ernsthaft mit unserem Problem beschäftigte und direkt oder auch über mich – wir waren befreundet – seine Argumente mit einfließen ließ.
Dazu muss man wissen, dass Wicki damals gerade die Schnittarbeiten an seinem ersten (halbdokumentarischen) Film WARUM SIND SIE GEGEN UNS? (19S8) durchführte. Oft saßen er und ich abends nach den Dreharbeiten an UNRUHIGE NACHT am Schneidetisch und probierten die wirkungsvollsten Schnittsequenzen für seinen Kurzfilm aus. Und redeten auch über den Film, den er dann wenig später machen sollte, DIE BRÜCKE (1959).
Eine Rahmenhandlung musste her, auch wenn der Autor der zugrundeliegenden Novelle das nicht richtig fand, eine Handlung nämlich, die in der Gegenwart spielen und diese mit den Geschehnissen in Rußland 1942 verknüpfen sollte.
Am Dienstag, dem 16. September 1958 (die Dreharbeiten waren schon seit Wochen im Gang), habe ich notiert: „Heute geht es weiter in der ‚Gemeinschaftszelle‘ (…) Zum Mittagessen sind Harnack, Abich, Krause und ich bei Koppel eingeladen. Wir sprechen über den Prolog, den ich schreiben soll (…)“. Und am 19. September heißt es: „(…) weiter in den Wald, wo wir die ‚Waldhütte Ljuba‘ drehen, auch – welch ein Glück – bei strahlender Sonne (…). Ich habe inzwischen auch den Prolog geschrieben (…).“ Wir haben ihn schließlich gedreht, wenn auch vierzehn Tage später (Wicki hatte einen Unfall und eine Wunde im Gesicht).
Der Film wurde noch im gleichen Jahr uraufgeführt, er war ein Erfolg. Umstritten blieb sein politischer Standort angesichts der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik. Ein Großteil der Öffentlichkeit erregte sich wegen seines Prologs, der andere Teil billigte ihn.
Die Presse schrieb: „(…) zeigt den Kriegsgerichtsrat fünfzehn Jahre später als korrekt gescheitelten, schmissetragenden Ministerialrat, der an der Seite eines Oberkirchenrates den Pfarrer in der Sakristei aufsucht: ‚Sie wissen, wir werden in Kürze wieder Garnisonstadt. Die Truppe braucht einen Seelsorger. Und da Ihnen ja, lieber Herr Pfarrer, die Probleme eines Soldaten nicht unbekannt sind, dachten wir uns, Sie wären bereit, dieses Amt zu übernehmen.“‚
Der Pfarrer (Bernhard Wicki) lehnt ab, und der Film beginnt, erzählt von seinen Erlebnissen in Rußland und von der Hinrichtung des jungen Deutschen.
Und weiter im ,,Spiegel“ vom 22.10.1958: „Autor Goes, der den Prolog vorerst nur aus den Schilderungen der Filmleute kennt, bekräftigte sein Einverständnis: ‚Der Prolog ist in dieser Form gewiß nicht künstlerisch, aber sachlich und politisch richtig. Ich habe keine inneren Einwände dagegen zu machen, daß das polemische Nein (…) auf diese Weise verbindlich zum Ausdruck kommt.‘ Dennoch sind die Filmleute sich klar darüber, daß ihr Prolog – der zumindest indirekt die Wiederbewaffnung kommentiert – mancherlei Mißhelligkeiten heraufbeschwören kann…“
So viel zu UNRUHIGE NACHT damals in Göttingen, im nördlichen Niedersachsen, zwischen den Kriegsgräbern in Holland. Vielleicht nur eine Anekdote, eine von vielen, die man zu erzählen vermag, wenn man älter wird.
Learning bei doing oder von einem, der auszog…. Eberhard Itzenplitz erinnert sich an seine Göttinger Zeit. In: Wir Wunderkinder. 100 Jahre Filmproduktion in Niedersachsen. Hrsg. von der Gesellschaft für Filmstudien. Red.: Susanne Höbermann/Pamela Müller, Hannover 1996, S. 85-89