Wir Wunderkinder (1958)

Annotation

Satirische Filmchronik (1958) von Kurt Hoffmann nach Hugo Hartung: Zwei Jugendfreunde, der idealistische Hans und der karrierehungrige Bruno, durchqueren vier Jahrzehnte deutscher Geschichte. Kabarettistische Rahmung entlarvt Opportunismus und Selbstbetrug im Wirtschaftswunder‑Westdeutschland.

Regie: Kurt Hoffmann
Regie-Assistenz: Wolfgang Kühnlenz, Manfred Kercher
Buch: Heinz Pauck, Günter Neumann; nach dem Roman von Hugo Hartung
Kamera: Richard Angst.
Kamera-Assistenz: Alfred Westphal, Kurt Pfändler
Standfotos: Ferdinand Rotzinger
Bauten: Franz Bi, Max Seefelder
Requisite: Waldemar Hinrichs (Außen), Taute (Innen).
Kostüme: Elisabeth Urbancic; Assistenz: Vera Otto.
Maske: Georg Jauss, Gertrud Weinz(-Werner), Klara (Walzel)-Kraft.
Schnitt: Hilwa von Boro; Assistenz: Sophie Weber.
Ton: Walter Rühland.
Musik: Franz Grothe.

Darsteller:

Hansjorg Felmy (Hans Boeckel)
Robert Graf (Bruno Tiches)
Johanna von Koczian (Kirsten)
Wera Frydtberg (Vera)
Elisabeth Flickenschildt (Frau Meisegeier)
Ingrid Pan (Doddy Meisegeier)
Ingrid van Bergen (Evelyne Meisegeier/Tiches), Jürgen Goslar (Schally Meisegeier)
Tatjana Sais (Frau Hafling)
Liesl Karlstadt (Frau Roselieb)
Michl Lang (Herr Roselieb)
Wolfgang Neuss (Erklärer)
Wolfgang Müller (Hugo)
Peter Lühr (Chefredakteur Vogel)
Hans Leibelt (Her Lüttjensee)
Lina Carstens (Bäuerin Vette)
Pinkas Braun (Siegfried Stein)
Ernst Schlott (Dr. Sinsberg)
Ralf Wolter („letzter Mann“)
Horst Tappert (Lehrer Schindler)
Franz Fröhlich (Obsthändler)
Ludwig Schmid-Wildy (alter Herr)
Karl Lieffen (Obmann Wehackel)
Otto Brüggemann (Dr. Engler)
Michael Burk, Rainer Penkert, Fritz Korn (Studenten-Kabarettisten)

Produktion: Filmaufbau GmbH, Göttingen
Produzent: Hans Abich, Rolf Thiele
Gesamtleitung: Hans Abich
Produtionsleilung; Eberhard Krause
Aufnahmeleitung: Frank Roell, Kurt Zeimert
Drehzeit: ab 13.5. 1958.
Drehort: Atelier München-Geiselgasteig;
Außenauftahmen: München, Verona, Sizilien, Dänemark.
Länge: 107 min, 2934 m.
Format: 35mm, s/w, 1 : 1.33.
Uraufführung: 28.10. 1958, München (SendIinger Tor-Lichtspiele)

Auszeichnungen:

  • Deutscher FiImpreis 1959: Filmband in SiIber (Produktion), Filmband in Silber (Bester Nachwuchsdarsteller) an Robert Graf.
  • Preis der deutschen Filmkritik an Johanna von
    Koczian.
  • IFF Acapulco 1959: Großer Preis.
  • IFF Moskau 1959: Großer Preis.
  • Golden Globe 1960.

Der Film erzählt die Geschichte von Hans Boeckel und seinem Mitschüler Bruno Tiches über einen Zeitraum von vierzig Jahren, von der Ära Wilhelms II. bis in die Wirtschaftswunderzeit nach dem 2. Weltkrieg. Die verbindende Rahmenhandlung wird dabei von einem „Erklärer“ und einem ihn begleitenden Klavierspieler gestellt. Schon während der gemeinsamen Schulzeit beweist Bruno Talent, sich nach den Zeichen der Zeit zu richten. Während Hans studiert und sich in Vera verliebt, beginnt Bruno mit den Nationalsozialisten zu sympathisieren und tritt der NSDAP bei. Hans und Vera verloben sich, doch dann erkrankt Vera und muss in ein Sanatorium. Kurze Zeit später lernt Hans auf einer Faschingsfeier eine dänische Austauschstudentin namens Kirsten kennen. Hans ist Vera jedoch treu. Als Vera wieder gesund ist, machen sie und Hans Urlaub in Italien. Dabei stellen sie fest, dass nicht mehr zusammenpassen und trennen sich. Durch Bruno verliert Hans kurz darauf seine Arbeit bei einer Tageszeitung. So findet ihn Kirsten, die zwischenzeitlich nach Hause zurückgegangen war, bei ihrer Rückkehr in einer Buchhandlung, wo er Bücher in Kisten packt. Sie nimmt ihn nach Dänemark mit, wo sie heiraten. Kurz nach Kriegsende treffen sich Bruno und Hans wieder. Bruno, der sich als Schwarzmarkthändler betätigt, geht es wieder gut, Hans lebt mit Kirsten und ihren zwei Kindern zur Untermiete in einem kleinen Zimmer auf dem Land. Ein paar Jahre später, während des Wirtschaftswunders, schreibt Hans für die Zeitung, bei der er arbeitet, einen Artikel über die Vergangenheit von Bruno, der inzwischen unter anderem Namen wieder Karriere gemacht hat. Bruno beschwert sich daraufhin persönlich bei Hans‘ Vorgesetztem, der Hans hinzuruft. Hans lässt sich jedoch von Bruno nicht mehr einschüchtern und verweigert die verlangte Gegendarstellung. Vor lauter Wut übersieht Bruno nach seinem Abgang daraufhin ein Warnschild am Aufzug und stürzt in den Schacht.

Lied vom Wirtschaftswunder

Die Straßen haben Einsamkeitsgefühle
Und fährt ein Auto, ist es sehr antik
Nur ab und zu mal klappert eine Mühle
Ist ja kein Wunder nach dem verlorenen Krieg
 
Einst waren wir mal frei
Nun sind wir besetzt
Das Land ist entzwei
Was machen wir jetzt?
Jetzt kommt das Wirtschaftswunder
Jetzt kommt das Wirtschaftswunder
Jetzt gibt’s im Laden Karbonaden schon und Räucherflunder
Jetzt
 

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Nach einer selbstauferlegten einjährigen Produktionspause konnte die Filmaufbau GmbH Göttingen mit dem Gewinn aus der Verfilmung des Films „Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ ihre Produktionstätigkeit mit der Verfilmung des Romans „Wir Wunderkinder“ von Hugo Hartung wieder aufnehmen. An den Stoff wagt sich Kurt Hoffmann, der Filmregisseur mit dem „sechsten Sinn für das Heitere“ (FAZ), ein Jahr nach der Veröffentlichung des Romans. 40 Jahre deutsche Geschichte gilt es auf Kinofilmlänge zu bringen. Hoffmann löst das Problem, indem er in einer Rahmenhandlung das Geschehen durch zwei Bänkelsänger (Wolfgang Neuss und Wolfgang Müller) kommentieren lässt.

Der Film war eine Auftragsproduktion der Filmaufbau GmbH für den Constantin Filmverleih. Dadurch trug die Filmaufbau GmbH kein eigenes Risiko, da ihr die Handlungsunkosten erstattet wurden. Die Gewinnbeteiligung war allerdings dementsprechend gering. Nach der Uraufführung am 28.10.1958 entwickelte sich der Film zu einem grossen kommerziellen Erfolg im In- und Ausland. Er erhielt den Bundesfilmpreis 1959 und Auszeichnungen auf den Filmfestspielen in Moskau und Acapulco. Zudem wurde der Drehbuchautor Kurt Hoffman mit dem „Golden Globe“ ausgezeichnet. Von der damaligen Tages- und Fachpresse wurde der Film zumeist positiv kritisiert. Nur die allzu oberflächliche Darstellung der geschichtlichen Hintergründe wurde bemängelt, da sie z.B. den Nationalsozialismus als eine Art „Betriebsunfall“ erscheinen ließ.

1913 Neustadt an der Nitze ist keine berühmte Stadt. Weder war Goethe dort  zu Besuch, noch wurde in der Umgebung je eine Schlacht geschlagen, die in die Weltgeschichte eingegangen ist. Neustadt an der Nitze hat eine Garnison und ein Gymnasium, valerlandische Verbände, Gesangsvereine, kaisertreue Bürger, eine unbedeutende Anzahl von Sozialdemokraten und außerdem die Meisegeiers. Frau Meisegeier und ihre Kinder, unter ihnen Scholly, Evelyne und Doddy. Die Meisegeiers sind keine Familie, sondern eine Brut, die sich rätselhafterweise erstaunlich vermehrt, obgleich es keinen Herrn Meisegeier gibt. Beim Ballonaufstieg zur Jahrhundertfeier der Völkerschlacht bei Leipzig treten die Tertianer Hans Boeckel und Bruno Tiches erstmals ins Bild. Beim Versuch, sich in den Ballonkorb zu schmuggeln, wird Hans Boeckel erwischt und demgemäß bestraft, Bruno Tiches
hingegen erst hoch in den Lüften entdeckt und für seinen vaterländischen Eifer gelobt, nachdem er davon berichtet, dem Kaiser ins blaue Herrscherauge geblickt und ihm ewige Treue geschworen zu haben. Was für Bruno zu den schönsten Hoffnungen berechtigt.

1923 Zehn Jahre  später gibt es in Neustadt an der Nitze einige Sozialdemokraten mehr und einige vaterländischen Verbände weniger. Bruno Tiches hat
einen neuen Treueschwur geleistet. Diesmal der deutschen Republik. Als zielstrebiger Lehrling im Bankhaus Stein & Co. ist er dabei, mit Frau Meisegeier flotte Aktiengeschäfte zu tätigen, die etwas einbringen. Sehr viel mehr jedenfalls, als dem Werkstudenten Hans Boeckel in München der Verkaufvon Zeilunge inbringt. Bruno Tiches ist erfolgreich, Hans Boeckel verliebt in die schöne Vera von Lieven. Sie studiert Kunstgeschichte und ist außerdem mit Hans sehr glücklich, was beiden nicht schwerfällt, weil junge Menschen das Glück nicht zu lernen brauchen. Da indessen jede Jugendliebe einmal enden muß, weil sie ja sonst keine Jugendliebe mehr wäre, fällt auch die geplante Feier zum bestandenen Doktorexamen Hans Boeckels ins Wasser der Enttäuschung. Vera trifft keine Schuld. Wie so oft im Leben, ist auch hier das Schicksal stärker.

„Wir Wunderkinder“ (1958) – Satirische Geschichtslektion zwischen Opportunismus und Moral

WIR WUNDERKINDER (1958) ist einer dieser seltenen Filme, die ihre Zeit spiegeln, kommentieren und zugleich für spätere Generationen lesbar halten. Wenn man ihn mit den Augen einer historisch‑kritischen Filmanalyse betrachtet, öffnet sich sofort das, was als Raum‑Zeit‑Kontinuum eines Films zu verstehen ist: die dargelegte Zeit, in der die Geschichte spielt; die Produktionszeit, die den Blick, die Tonlage und die Auslassungen prägt; und die Rezeptionszeit, in der sich die Deutungen wandeln und verdichten. Die Funktionsfrage – wozu ein Film seine Bilder, Stimmen, Lieder, Übergänge wählt – tritt dabei neben die Quellenfrage – woraus er schöpft, welche gesellschaftlichen Interessen ihn tragen, welche Adressaten er sucht. Und immer wieder geht es um innere und äußere Quellenkritik: die innere, die die Montage, die Symbole, die Figurenführung und die impliziten Urteile im Text selbst aufschließt; die äußere, die Auftrag, Produktionsbedingungen, Marktlogiken, Zensuranfälligkeit und politische Großwetterlage in Anschlag bringt. In all diesen Ebenen ist Wir Wunderkinder eine Steilvorlage: eine satirische, kabarettistisch gerahmte, episodische Reise durch vierzig Jahre deutscher Geschichte, erzählt als Doppelbiographie von Hans Boeckel und Bruno Tiches – dem integren, aber oft überforderten Nonkonformisten und dem aalglatten Opportunisten, der mit jedem Regime steigt, solange es ihm Aufstieg verspricht.

Beginnen wir bei der dargestellten Zeit, die sich in WIR WUNDERKINDER über ein ganzes Menschenleben spannt: von einer anekdotischen Kaiserreich‑Eröffnung (der vermeintlichen Begegnung mit Wilhelm II.) über die Weimarer Jahre, die Weltwirtschaftskrise, die nationalsozialistische Machtübergabe, Krieg und Nachkrieg bis zur jungen Bundesrepublik und ihrem Wirtschaftswunder. Dieser Zeitfächer ist nicht bloß Kulisse. Er ist Struktur. Der Film nimmt die Form einer Revue an, nicht zufällig: Ein Conferencier (Wolfgang Neuss) und sein Pianist (Wolfgang Müller) kommentieren, reimen, moderieren, zeigen, wie sich Geschichte auf der Bühne des Alltags abspielt. Das ist kein reines Gimmick, sondern eine reflexive Geste, die man als verfremdenden Kommentar im Sinn Brechts lesen kann: Das Geschehen wird nicht naturalistisch behauptet, sondern als Erzählung gerahmt, der man misstrauen und der man zugleich folgen soll. Dieses Kabarett‑Gerüst ist die erste große Setzung der inneren Quellenkritik: Der Film beansprucht nicht, die Geschichte eins zu eins zu zeigen; er zeigt, wie man sie uns zeigt – und wie die Formen ihrer Präsentation bereits Bewertungen in sich tragen.

In dieser Bühne bewegen sich Hans Boeckel (Hansjörg Felmy) und Bruno Tiches (Robert Graf). Das Doppelporträt ist die zweite große Setzung. Es mobilisiert ein moralisches Diptychon: Hier einer, der versucht, integer zu bleiben und seiner Arbeit als Journalist so viel Wahrheit wie möglich abzugewinnen, auch wenn er scheitert oder beiseite gedrängt wird; dort einer, der das Ohr am Wind der Verhältnisse hat und seine Flagge stets nach der Seite hängt, die ihm Aufstieg, Macht, Vorteile verspricht – vom aggressiven Nationalisten zum pragmatischen Mitläufer im Wirtschaftswunder. In dieser Gegenüberstellung liegt das Konzept von WIR WUNDERKINDER: Nicht die Monstrosität einzelner Böser, sondern die Normalität der Anpassung, der Karriere, der Gewandtheit in der Unsitte. In Bruno Tiches bündelt der Film das, was in der Forschung später als „Täter aus der Mitte“ und „Mitläufer“ differenziert wurde: keine Psychopathologie, sondern soziale Technik, geübte Opportunität. Hans Boeckel dagegen ist kein Held, sondern ein Mensch mit Prinzipien, der nicht immer stark genug ist, sie durchzusetzen. Diese Ambivalenz ist wichtig: Es geht nicht um die bequeme Identifikation mit dem makellosen Widerständigen, sondern um die Mühe der Haltung in unhaltbaren Zeiten.

Wie erzählt der Film diese Leben? Mit episodischer Montage, die jeweils die Verbindung zwischen privater Entscheidung und politischer Konstellation markiert. Das ist die dritte Setzung der inneren Quellenkritik: Der Schnitt ist nicht nur Temporaltechnik, sondern Kausalitätsangebot. Eine Szene in der Redaktion, in der Hans einen Artikel schreibt, den Bruno im Rücken sabotiert – und bald darauf wird Hans entlassen, während Bruno in Uniform aufsteigt. Eine Liebesszene zwischen Hans und Vera von Lieven (Wera Frydtberg), die sich an der Theke über Bücher unterhalten, die sie lieben, und im nächsten Bild der Abschied, die Emigration Veras mit ihrem politisch verfolgten Vater – die frühe Öffnung des Films für die jüdische Perspektive über den Freund Siegfried Stein (Pinkas Braun) und für die Exilperspektive über Vera. Eine wiederum nüchterne, fast beiläufige Sequenz, in der Bruno nach 1945 längst wieder im Schwarzmarkt reüssiert, während Hans in Dänemark bei seiner Frau Kirsten (Johanna von Koczian) und ihren Eltern Sicherheit und Wärme erfährt. Jede dieser Sequenzen hält sich an die Regel der satirischen Pointe und der humanistischen Andeutung: Der Film greift nicht zum Pathos, er vertraut der Montage, die die Pointe schärft und die Figuren klein und groß zugleich zeigt.

Die Räume, die der Film schafft, sind ebenfalls semantisch geladen. Die fiktive Kleinstadt Neustadt an der Nitze ist das Chiffre der „beliebigen“ deutschen Provinz, die zugleich überall und nirgendwo ist und in der die Machtkämpfe der großen Zeitläufe als Alltagsentscheidungen erscheinen. München liefert urbane Farbe, den kulturellen Rahmen, das Studentenmilieu, die Presse, die Kabarettbühne. Das Dänemark der Kirsten‑Episoden ist ein Gegenraum: draußen, hell, anders, das Bild eines möglichen anderen Lebens, in dem Loyalität nicht angepasst, sondern empathisch ist. Der Krieg selbst erscheint wenig als Schlachtenbild, mehr als Folie für die Verschiebungen: Einberufung, Front, Heimkehr. Der Film der 1950er Jahre hat seine Medienästhetik: Er verzichtet auf Schockbilder, er setzt auf Chiffren, Musik, kostümierte Zeitmarken. Der Raum ist so inszeniert, dass er die Übergänge plausibel macht, nicht die Ausbrüche. Das ist nicht nur eine ästhetische, sondern auch eine ethische Entscheidung.

Kurt Hoffmanns Regie bedient sich des Mittels, das seiner Zeit das angemessene war, um Widerständigkeit zu erzeugen: die Satire. Satire ist das Messer, das in den weichen Stoff des Selbstbildes schneidet. In Wir Wunderkinder schneidet sie in die Menüs der Nachkriegs‑Selbstgerechtigkeit, in die Erzählung der reinigenden Stunde Null. Der Conférencier, der Witze auf Kosten von Karrieristen, Philistern und Ideologen macht, tut mehr, als die Stimmung zu heben: Er dreht die Figuren aus dem Blick des Publikums in eine mentale Schräglage. Man lacht – und merkt in der nächsten Einstellung, dass man über sich selbst gelacht haben könnte. Der Humor ist also nicht Linderung, er ist Erkenntnismaschine. Das Lied vom Wirtschaftswunder (Franz Grothe / Günter Neumann), das zum Ohrwurm wurde, ist nicht nur musikalisches Stichwort, sondern ein Kommentar über den Zusammenhang von Geld und Gedächtnis: Wer lacht über das Geld, das überall ist, ohne zu fragen, woher es kommt, lacht vielleicht über die eigene Blindheit. Ein kabarettistischer Refrain kann mehr tun als eine flammende Rede; er setzt sich fest, er wird mitgesummt, er bleibt.

In der inneren Quellenkritik ist die Figurenökonomie der Frauen wichtig. Vera von Lieven ist nicht nur Hans’ erste große Liebe; sie ist die Figur, die das deutsche Milieu mit der europäischen Exilerfahrung verknüpft. Ihre Entscheidung, zu gehen, ist nicht fatalistisch, sondern aktiv. Sie markiert damit die Grenze der Anpassbarkeit: Es gibt Momente, in denen das Bleiben kein moralischer Ort mehr ist. Kirsten hingegen ist das Gegenbild: die Rettende, die Hans nach Dänemark holt, die einen anderen Ethos anbietet, der pragmatisch ist, freundlich, aber nicht naiv. Evelyn Meisegeier (Ingrid van Bergen), Tochter aus einer kleinbürgerlich‑autoritären Familie (Elisabeth Flickenschildt als Frau Meisegeier), bringt das Motiv der sozialen Kletterei und der moralischen Unschärfe ins Spiel – ein Blick auf die Heirats‑ und Familienpolitik, in der opportunistische Bündnisse die Lebensläufe prägen. Diese Frauenfiguren sind nicht triumphal emanzipiert; sie sind an ihre Zeit gebunden. Aber sie haben Handlungsmacht, und der Film nutzt sie, um Hans’ Weg nicht als allein männliche Selbstprüfung, sondern als soziale Verflechtung zu zeigen. In der RÜCKSCHAU erscheinen sie zuweilen als kleines Korrektiv gegenüber jenem Männerblick, der die Nachkriegskunst oft prägte.

Die Sprache, die der Film spricht, ist ein integrierter Bestandteil seiner Kritik. Wenn Bruno Begriffe adaptiert, die mit dem Klang der Zeit gehen – zuerst NS‑Jargon, später das Vokabular des Marktes und der Manager – dann demonstriert der Film, wie Wortwahl Wirklichkeit gestaltet. Hans spricht zögerlicher, oft naiv, manchmal moralisch; er gewinnt selten Debatten, aber der Film gibt ihm das letzte Wort im Tatenfeld: den Artikel über Brunos Vergangenheit, den er nicht widerruft. Sprache und Handlung kippen ineinander: Es zählt, was geschrieben steht, es zählt, was nicht zurückgenommen wird. In diesem Schlussakt kondensiert die Behauptung des Films, der Wahrheit noch einen Ort zuzugestehen, selbst im Lärm des Wirtschaftswunders. Dass Brunos Tod im Aufzugsschacht dann wie ein böses Märchen wirkt – eine Art poetischer Gerechtigkeit, die den Rechtsstaat nicht ersetzt, aber das moralische Konto ausgleicht –, ist doppeldeutig. Einerseits ist es Erleichterung: Der Opportunist, der Täter im Anzug, der Drohende, ist weg. Andererseits ist es eine Auslassung: Eine gerichtliche, öffentliche, institutionelle Abrechnung findet nicht statt; die Gerechtigkeit fällt vom Himmel und in den Schacht. Man kann das als Schwäche sehen – der Film entpolitisiert den Konflikt im letzten Moment – oder als Kommentar: Dass die Bundesrepublik selten wirklich abgerechnet hat, sondern die Dinge fallen ließ, wenn sie fielen.

Die äußere Quellenkritik verschiebt den Blick. 1958 ist die BRD im Wohlstandstaumel, aber auch in einer Phase des Anlaufens kritischerer Formen der Vergangenheitsarbeit. Der wirtschaftliche Aufschwung verschafft Spielräume – für Konsum, aber auch für Kultur. Zugleich bleibt der politische Rahmen konservativ, die Institutionen sind mit alten Eliten besetzt, die Gerichte verurteilen nur einen winzigen Teil der Täter, die Verwaltung sorgt für Kontinuitäten. In diesem Kontext ist die Wahl der Satire hochpolitisch. Ein frontal anklagender Film hätte womöglich keine ausreichende Reichweite erhalten; eine Komödie mit Biss kann in die Kinos, kann an die Leute, kann im Fernsehen später wiederholt werden. Filmaufbau Göttingen, die Produktionsfirma, steht für ein traditionsbewusstes, aber nicht opportunistisches Filmschaffen, das in der Nachkriegszeit künstlerische und kommerzielle Interessen zu balancieren versucht. Kurt Hoffmann, ein Regisseur zwischen Unterhaltung und Anspruch, findet hier den Ton, der beides erlaubt. Dieser Kompromiss ist nicht bloß markttechnisch; er ist dramaturgisch klug: Er trägt die Kritik in den Mainstream.

Die äußere Quellenkritik betrifft auch die literarische Vorlage: Hugo Hartungs Roman (1957), eine satirische Abfolge, ist nur ein Jahr älter als der Film und damit Teil desselben Kulturimpulses. Die Nähe von Buch und Film ist ein Glücksfall: Sie erlaubt es, zu sehen, wie ein Stoff, der bereits auf satirische Verdichtung setzt, im Medium Film seine eigene Rhythmik, sein eigenes Repertoire ausbildet – Musik, Bühne, Schnitt, Kostüm. Die Mitarbeit von Autoren wie Heinz Pauck und Günter Neumann, die die Kabarett‑Erfahrung in die Filmstruktur überführen, macht die Brücke zwischen den Formen tragfähig. Man begreift so, dass Derivate, Adaptionen, Übertragungen nicht nur die Stoffe, sondern die Sinnregime erweitern: Ein Satz im Buch ist eine Szene im Film; eine Pointe im Kabarett wird eine Refrainzeile, die die Sequenzen zusammenhält.

Rezeptionsgeschichtlich ist Wir Wunderkinder ein bewegliches Werk. Zeitgenössisch wurde er als kluge, zum Teil gewagte Satire wahrgenommen, aber er fügte sich zugleich in den breiten Unterhaltungskanon ein. Seine Lieder wurden bekannt; seine Figuren hatten Wiedererkennungswert. Spätere Kritiken differenzieren: Manche werfen dem Film vor, die Härten der Verfolgung – insbesondere die Vernichtung der Juden Europas – zu stark in Andeutungen aufgelöst zu haben und den Opportunisten über karikierte Züge zu entlarven, wodurch die Strukturdimension möglicherweise unterschätzt werde. Andere würdigen gerade die Wahl der Satire als damalige Möglichkeit, überhaupt eine breite Öffentlichkeit an die Frage heranzuführen, wie sehr Opportunismus und Anpassung die deutschen Biographien geprägt hatten. In der neueren Erinnerungskultur wird der Film häufig als Lehrstück für die Bundesrepublik der 1950er Jahre herangezogen – nicht als Spiegel der NS‑Zeit, sondern als Spiegel der Rede über die NS‑Zeit im Wirtschaftswunder. In diesem Sinne ist der Film weniger Quelle über 1933–1945 als über 1958, und genau darin liegt sein Wert.

Die innere Quellenkritik lässt sich an einzelnen Sequenzen verdichten. Nehmen wir die frühe Szene der Zeitung, in der Hans versucht, Journalismus als Berufung zu leben. Sein Chefredakteur, die Kollegen, die Atmosphäre – hier wird Presse nicht idealisiert, sondern als Bürokratie und als Milieu gezeigt. Der Unterschied, den Hans markiert, ist klein: eine Weigerung, eine Linie zu überschreiten, ein Missfallen über die sprachliche Gleichschaltung, die heraufzieht. Der Film macht diese Kleinigkeiten groß, indem er zeigt, wie sie Konsequenzen haben: Der Rauswurf, die Arbeitslosigkeit, die Abhängigkeit. Eine spätere Szene mit Siegfried, dem jüdischen Freund, der aus dem Exil zurückkehrt, markiert eine mögliche, aber fragile Reparatur sozialer Netze: Siegfried hilft Hans wieder in den Beruf. Diese Szene ist ambivalent: Sie würdigt Siegfrieds Loyalität und Großzügigkeit; sie riskiert jedoch, das jüdische Subjekt erneut auf eine Funktion zu reduzieren – der helfende Freund. In der didaktischen Diskussion kann man das aufgreifen: Welche Bilder von jüdischer Existenz transportiert die Nachkriegskunst? Wo sind ihre Grenzen, wo ihre Stärken? Hier ist WIR WUNDERKINDER exemplarisch für eine Zeit, in der Empathie und Stereotyp nebeneinander liegen.

Ein anderer wichtiger Komplex ist das Motiv des „Sturzes“. Brunos Ende im Aufzugsschacht ist filmisch als Pointe gesetzt – die Hybris des Aufgestiegenen fällt in ihren eigenen Schacht. Man kann das als allegorische Gerechtigkeit lesen. Man kann aber auch fragen: Verstellt diese Pointe den Blick auf die Notwendigkeit institutioneller Auseinandersetzung? Der Film zeigt, dass der moralische Journalismus (Hans’ Artikel) die Gegenwehr des Opportunisten (Brunos Drohung) aushält. Aber er endet, bevor sichtbar wird, was eine Gesellschaft mit solchen Konflikten tut: Gerichte, Parlamente, Öffentlichkeit, Kommissionen. Das verweist wieder auf die Produktionszeit: 1958 war die Bühne der institutionellen Abrechnung eng; der Weg über die Allegorie war gangbarer. Und es verweist auf die didaktische Nutzung des Films heute: Er kann als Einstieg dienen, nicht als Abschluss. Man zeigt den Film, diskutiert das Ende – und stellt dann Dokumente daneben, die institutionelle Verläufe sichtbar machen.

Das musica‑cabarettistische Gerüst ist überdies nicht nur Ästhetik; es ist Politik. Der Conférencier bricht Illusionen, indem er die Mechanik zeigt: Wie Routine entsteht, wie Parolen wirken, wie Modeworte in Köpfe wandern. Seine Sprüche sind Pfeile ins Dickicht der Selbstrechtfertigungen. Und seine Präsenz macht sichtbar, dass jede Erzählung einen Erzähler hat – eine banale, aber zentrale Lektion der Quellenkritik: Es gibt nie die Geschichte, es gibt nur Geschichten mit Stimme, Stil, Interesse. In der Schule lässt sich genau hier ansetzen: Wer spricht? Was tut der Sprecher mit dem, was er sagt? Welche Funktion hat der Pianist? Was bedeutet es, Geschichte als Nummernprogramm zu erzählen? Wie unterscheidet sich das vom Nachrichtenfilm, vom Gerichtsbericht, von der wissenschaftlichen Darstellung? So wird Filmanalyse zur Medienbildung und Medienbildung zur historisch-politischen Bildung.

In der Logik des Raum‑Zeit‑Kontinuums ist WIR WUNDERKINDER auch ein Lehrstück über die Elastizität der deutschen Selbstbilder. In der dargestellten Zeit zeigt er, wie leicht ein Bruno die Fahnen wechselt, ohne sein inneres Register zu ändern: im Kaiserreich ehrgeizig, in Weimar windig, im NS‑Staat uniformiert, in der BRD konzerntauglich. Die Produktionszeit verleiht dieser Figur ihre Plausibilität, ja ihre Nähe: Man kann einen Bruno 1958 im Publikum sitzen sehen, man kann ihn im Bekanntenkreis finden. Diese Unheimlichkeit – dass der Böse gleich nebenan sitzt und nicht nur im vergangenen Land – ist eine Leistung der Satire, die ins Heute zielt. In der Rezeptionszeit verschiebt sich die Lesbarkeit. Heute, nach Jahrzehnten der Forschung über Kontinuitäten in Ämtern, Ministerien, Gerichtssälen und Geheimdiensten, liest man Bruno als Typus jener, die die Systeme überlebten und besetzten. Man liest Hans als Typus jener, die mit moralischer Arbeit versuchten, in diesen Systemen eine andere Stimme zu behaupten. In dieser Verschiebung ist der Film nicht alt geworden; er gewinnt Mehrdeutigkeit.

Einen besonderen Reiz hat die Art, wie der Film das Verhältnis von Individuum und Struktur komponiert. Er examiniert nicht abstrakte Systeme, sondern Alltagshandlungen: Bewerbungen, Redaktionskonferenzen, Familienessen, Tanzabende, Schwarzmarktgeschäfte. In diesen Mikro‑Szenen wird wahrnehmbar, was Struktur ist: Erwartung, Ton, Duktus, Blick. Bruno beherrscht diese Codes; Hans stolpert über sie. Daraus entwickelt der Film seine soziologische Pointe, ohne sie auszusprechen: Strukturen belohnen bestimmte Habitusformen, und wer in diesen Strukturen vorankommen will, lernt diese Formen. Damit rückt WIR WUNDERKINDER in die Nähe von späteren Dokutexten, die „ganz normale Männer“ zeigen, die nicht „Monster“ sind, sondern trainierte Rollen spielen. Der Film bestätigt so – aus dem Medium der Fiktion – eine Einsicht, die die Täterforschung in den folgenden Jahrzehnten empirisch unterfüttert.

Der Blick auf die ökonomische Erzählung des Films öffnet ein weiteres Feld. Das „Wirtschaftswunder“ ist nicht nur eine Parole; es ist die große Entlastungsfantasie der 1950er Jahre. Geld, Waren, Wachstum, Autos, Häuser – all das verkleidet die Frage, wie man es zu diesem Wunder gebracht hat, und mit wem. Das Lied vom Wirtschaftswunder wird so zur ironischen Begleitmusik des moralischen Vergessens. Hans’ Rückkehr in den Journalismus, vermittelt durch den aus den USA heimgekehrten Siegfried Stein, bringt die ökonomische und die moralische Geschichte zusammen: Kapital und Presse, Exil und Remigration, Freundschaft und Kredit. Auch hier liegt Ambivalenz: Der Film gönnt Hans den Erfolg; er zeigt aber auch, dass die moralische Ökonomie nicht jenseits der materiellen existiert. Das kann man kritisieren – die Figur des „wohlmeinenden jüdischen Förderers“ ist ein Klischee –, man kann es aber auch als Versprechen lesen: dass Solidarität über Brüche hinweg möglich ist, dass sich Netzwerke der Gemeinsamkeit rekonstruieren lassen, selbst nach der Katastrophe.

An dieser Stelle lohnt sich ein Seitenblick auf die Ethik der Erinnerung, die der Film praktiziert. Er zeigt keine Lager, keine Massenerschießungen, keine Leichen. Er zeigt Abschiede, Verkleinerungen, Verarmungen. Die Opferperspektive erscheint in Andeutung – Exil, Verlust, Schweigen. Das kann als Zurückhaltung gewertet werden, als Respekt vor dem Unsagbaren – oder als Ausweichbewegung, die die Last dem Publikum überlässt, die Konsequenzen zu denken. Im didaktischen Gebrauch bedeutet das: Man wird den Film nicht allein stehen lassen. Man wird ihn einbetten – mit Dokumentarfilmen, Textquellen, Zeitzeugenberichten. Aber man wird ihn auch nicht abtun, denn genau diese Andeutungsästhetik war 1958 eine menschenwürdige Art, das Unsagbare in einen Unterhaltungsfilm zu holen, ohne es zu trivialisieren. Satire ist kein Gelächter über Opfer; sie ist ein Gelächter gegen die Selbstzufriedenheit derjenigen, die über Opfer hinweggehen.

Die Frage, wie der Film Verantwortung rahmt, lässt sich präzisieren. Explizit ist der Film in seinen Offenbarungen: Brunos Parteikarriere wird gezeigt; seine Nachkriegsmaske wird abgenommen; Hans’ Artikel benennt ihn, und seine Drohung dokumentiert sein ungebrochenes Gewaltkapital. Implizit ist der Film in seinen Wertungen: Er verurteilt nicht in der Anklage, sondern in der Konstellation. Wenn Bruno glatter spricht, wenn seine Mimik kontrollierter ist, wenn die Kamera ihn im Halbtotalen zeigt – in Räumen der Macht –, während Hans in Nahen ringt, dann spricht der Film Bildsätze, die Urteile tragen. Diese Bildgrammatik zu lesen, ist Teil der inneren Quellenkritik. Sie ist auch die Brücke zur Medienkompetenz: Schüler lernen, dass Bilder nicht neutral sind, dass Perspektive, Licht, Ton Spuren des Urteils sind. Und sie lernen, dass man diese Spuren zurückverfolgen kann, bis zu den Absichten, den Produktionsbedingungen, den Publikumserwartungen.

Damit wären wir bei der Didaktik. Das Analyse-Modell ist praxisnah: Man zerlegt einen Film entlang seiner Raum‑Zeit‑Achsen und seiner Quellenkritik. Bei WIR WUNDERKINDER heißt das konkret: Man arbeitet den historischen Bogen auf (1913–1957), man kontextualisiert die Produktionszeit (1958, BRD, Wirtschaftswunder, Vergangenheitsdebatte), man verfolgt Rezeptionsschübe (satirische Bildungsware, später erinnerungskultureller Referenzpunkt). Man analysiert Szenen – die Redaktion, die Emigration, den Schwarzmarkt, den Aufzug – und fragt, wie die Montage Bedeutungen stiftet. Man untersucht die Kabarett‑Rahmung als Verfremdung: Welche Sätze des Conférenciers sind Schlüssel? Welche Musiknummern binden Episoden? Man reflektiert die Geschlechterrollen: Welche Handlungsmacht haben Vera, Kirsten, Evelyn? Welche Bilder von Jüdinnen und Juden zeichnet der Film? Man vergleicht – mit Dokumentationen, die Täterschaft strukturell aufarbeiten, und mit Spielfilmen der Nachkriegsepoche, die ähnliche Themen anders inszenieren (etwa Wolfgang Staudtes Werke, später Volker Schlöndorffs Der junge Törless als Internatsparabel über Macht und Anpassung). Und man schließt nicht mit einer Moral, sondern mit einer offenen Frage: Was bleibt, wenn der Aufzug fällt? Welche Arbeit steht noch aus?

Die große Qualität von WIR WUNDERKINDER liegt in seiner Fähigkeit, zwei widersprüchliche Dinge gleichzeitig zu leisten: Er ist eine unterhaltsame, witzige, rhythmische Revue; und er ist eine ernste, scharfe, unversöhnliche Kritik des Opportunismus. Diese Doppeladressierung – an das Lachen und an das Gewissen – macht seinen didaktischen Wert aus. Wer nur das eine sieht, verfehlt den Film. Wer nur lacht, verpasst die Klinge. Wer nur die Klinge sieht, verpasst die List, mit der der Film in die breite Öffentlichkeit rutschte. In diesem Sinne ist der Film auch eine Quelle über die Möglichkeiten politischer Kunst im Westdeutschland der 1950er Jahre: Was konnte man sagen, und wie musste man es sagen, damit es gehört wurde? Kurt Hoffmanns Antwort ist nicht die einzige; es gab die harte Anklage, die dokumentarische Nüchternheit, die poetische Elegie. Aber seine Antwort ist eine, die in ihre Zeit passte und darüber hinausragt.

Bleibt der Blick auf den Titel. „Wir Wunderkinder“ – das „wir“ ist nicht unschuldig. Es ist ein Einbezug, eine Selbstbeschreibung, die leicht zur Selbstbeweihräucherung wird: Wir, die wir allen Katastrophen entkommen sind und nun im Wohlstand leben, wir, die alles können, alles wollen, alles rechtfertigen. Der Film dreht das „wir“ gegen seine Träger. Er macht deutlich, dass dieses „wir“ eine Lüge sein kann, wenn es nicht unterscheidet zwischen jenen, die sich durchmogeln, und jenen, die versuchen, anständig zu bleiben. Der ironische Kollektivsingular entlarvt sich. Und das „Wunder“ verliert seinen Heiligenschein. Es wird, wie es ist: das Ergebnis von Arbeit, Glück, Hilfe, aber auch von Verdrängung, von Kontinuität, von Schuld, die nicht bezahlt, sondern verschoben wurde. Das „wir“ kann, wenn man den Film ernst nimmt, nur ein „wir, die wir Verantwortung tragen“ sein, nicht ein „wir, die wir gefeiert werden dürfen“.

Gerade in der Gegenwart, in der Erinnerungskultur gern in ritualisierten Bahnen läuft, in Jahrestagen, in offiziellen Reden, in musealen Rundgängen, ist Wir Wunderkinder ein wertvoller Störenfried. Er ruft dazu auf, über die Mechanismen nachzudenken, nicht nur über die Ereignisse. Er lehrt, dass Lachen ein Werkzeug der Kritik sein kann, dass Musik Punkte setzen kann, dass Montage moralische Arbeit leistet. Er zeigt, wie leicht die Sprache der Macht den Ton wechselt, ohne den Inhalt zu ändern, und er zeigt, wie schwer es ist, sich dem zu entziehen. Er macht Mut, weil Hans nicht ganz untergeht, weil ein Artikel etwas bewirkt, weil ein „Nein“ an der richtigen Stelle Gewicht hat. Und er warnt, weil Bruno zu lange durchkommt und erst durch Zufall – oder Fatum – fällt. Zwischen Mut und Warnung ist Platz für Bildung: nicht Indoktrination, sondern Ermächtigung, nicht Erinnerung als Pflicht, sondern als Praxis der Wahrnehmung.

Wenn man zuletzt das Raum‑Zeit‑Kontinuum bündelt, ergibt sich ein klarer Satz. In der dargestellten Zeit seziert WIR WUNDERKINDER die Alltagsmechanik deutscher Geschichte: Opportunismus, Anpassung, Karriere, aber auch Integrität, Loyalität, Freundschaft. In der Produktionszeit übersetzt der Film die heikle Selbstprüfung der jungen Bundesrepublik in eine Form, die verdaulich, aber nicht zahnlos ist: das Kabarett des Gewissens. In der Rezeptionszeit wird der Film zum Dokument über die Erzählbarkeiten der 1950er Jahre und – wenn man ihn mit späteren, strengeren, dokumentarisch gesättigten Arbeiten zusammensieht – zur Einladung, die damals eingeschlagene Perspektive zu vertiefen und zu korrigieren. Das „Wunder“ ist dann vielleicht nicht das Geld, sondern die Möglichkeit, sich zu ändern – als Individuum, als Öffentlichkeit, als Institution. Der Film behauptet diese Möglichkeit leise, aber beharrlich. Und genau das macht ihn zu einer historischen Quelle von bleibender Kraft: Er konserviert nicht bloß Bilder der Vergangenheit; er konserviert eine Haltung zur Vergangenheit, die auch in der Gegenwart Arbeit verlangt.


Regie: Kurt Hoffmann
Regie-Assistenz: Wolfgang Kühnlenz, Manfred Kercher
Buch: Heinz Pauck, Günter Neumann; nach dem Roman von Hugo Hartung
Kamera: Richard Angst.
Kamera-Assistenz: Alfred Westphal, Kurt Pfändler
Standfotos: Ferdinand Rotzinger
Bauten: Franz Bi, Max Seefelder
Requisite: Waldemar Hinrichs (Außen), Taute (Innen).
Kostüme: Elisabeth Urbancic; Assistenz: Vera Otto.
Maske: Georg Jauss, Gertrud Weinz(-Werner), Klara (Walzel)-Kraft.
Schnitt: Hilwa von Boro; Assistenz: Sophie Weber.
Ton: Walter Rühland.
Musik: Franz Grothe.

Darsteller:

Hansjorg Felmy (Hans Boeckel)
Robert Graf (Bruno Tiches)
Johanna von Koczian (Kirsten)
Wera Frydtberg (Vera)
Elisabeth Flickenschildt (Frau Meisegeier)
Ingrid Pan (Doddy Meisegeier)
Ingrid van Bergen (Evelyne Meisegeier/Tiches), Jürgen Goslar (Schally Meisegeier)
Tatjana Sais (Frau Hafling)
Liesl Karlstadt (Frau Roselieb)
Michl Lang (Herr Roselieb)
Wolfgang Neuss (Erklärer)
Wolfgang Müller (Hugo)
Peter Lühr (Chefredakteur Vogel)
Hans Leibelt (Her Lüttjensee)
Lina Carstens (Bäuerin Vette)
Pinkas Braun (Siegfried Stein)
Ernst Schlott (Dr. Sinsberg)
Ralf Wolter („letzter Mann“)
Horst Tappert (Lehrer Schindler)
Franz Fröhlich (Obsthändler)
Ludwig Schmid-Wildy (alter Herr)
Karl Lieffen (Obmann Wehackel)
Otto Brüggemann (Dr. Engler)
Michael Burk, Rainer Penkert, Fritz Korn (Studenten-Kabarettisten)

Produktion: Filmaufbau GmbH, Göttingen
Produzent: Hans Abich, Rolf Thiele
Gesamtleitung: Hans Abich
Produtionsleilung; Eberhard Krause
Aufnahmeleitung: Frank Roell, Kurt Zeimert
Drehzeit: ab 13.5. 1958.
Drehort: Atelier München-Geiselgasteig;
Außenauftahmen: München, Verona, Sizilien, Dänemark.
Länge: 107 min, 2934 m.
Format: 35mm, s/w, 1 : 1.33.
Uraufführung: 28.10. 1958, München (SendIinger Tor-Lichtspiele)

Auszeichnungen:

  • Deutscher FiImpreis 1959: Filmband in SiIber (Produktion), Filmband in Silber (Bester Nachwuchsdarsteller) an Robert Graf.
  • Preis der deutschen Filmkritik an Johanna von
    Koczian.
  • IFF Acapulco 1959: Großer Preis.
  • IFF Moskau 1959: Großer Preis.
  • Golden Globe 1960.

Fotografien in der Galerie: Filminstitut Hannover

Lied vom Wirtschaftswunder

Die Straßen haben Einsamkeitsgefühle
Und fährt ein Auto, ist es sehr antik
Nur ab und zu mal klappert eine Mühle
Ist ja kein Wunder nach dem verlorenen Krieg
 
Einst waren wir mal frei
Nun sind wir besetzt
Das Land ist entzwei
Was machen wir jetzt?
Jetzt kommt das Wirtschaftswunder
Jetzt kommt das Wirtschaftswunder
Jetzt gibt’s im Laden Karbonaden schon und Räucherflunder
Jetzt
 

https://lyricstranslate.com/de/wolfgang-neuss-lied-vom-wirtschaftswunder-lyrics.html

 

Nach einer selbstauferlegten einjährigen Produktionspause konnte die Filmaufbau GmbH Göttingen mit dem Gewinn aus der Verfilmung des Films „Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ ihre Produktionstätigkeit mit der Verfilmung des Romans „Wir Wunderkinder“ von Hugo Hartung wieder aufnehmen. An den Stoff wagt sich Kurt Hoffmann, der Filmregisseur mit dem „sechsten Sinn für das Heitere“ (FAZ), ein Jahr nach der Veröffentlichung des Romans. 40 Jahre deutsche Geschichte gilt es auf Kinofilmlänge zu bringen. Hoffmann löst das Problem, indem er in einer Rahmenhandlung das Geschehen durch zwei Bänkelsänger (Wolfgang Neuss und Wolfgang Müller) kommentieren lässt.

Der Film war eine Auftragsproduktion der Filmaufbau GmbH für den Constantin Filmverleih. Dadurch trug die Filmaufbau GmbH kein eigenes Risiko, da ihr die Handlungsunkosten erstattet wurden. Die Gewinnbeteiligung war allerdings dementsprechend gering. Nach der Uraufführung am 28.10.1958 entwickelte sich der Film zu einem grossen kommerziellen Erfolg im In- und Ausland. Er erhielt den Bundesfilmpreis 1959 und Auszeichnungen auf den Filmfestspielen in Moskau und Acapulco. Zudem wurde der Drehbuchautor Kurt Hoffman mit dem „Golden Globe“ ausgezeichnet. Von der damaligen Tages- und Fachpresse wurde der Film zumeist positiv kritisiert. Nur die allzu oberflächliche Darstellung der geschichtlichen Hintergründe wurde bemängelt, da sie z.B. den Nationalsozialismus als eine Art „Betriebsunfall“ erscheinen ließ.

1913 Neustadt an der Nitze ist keine berühmte Stadt. Weder war Goethe dort  zu Besuch, noch wurde in der Umgebung je eine Schlacht geschlagen, die in die Weltgeschichte eingegangen ist. Neustadt an der Nitze hat eine Garnison und ein Gymnasium, valerlandische Verbände, Gesangsvereine, kaisertreue Bürger, eine unbedeutende Anzahl von Sozialdemokraten und außerdem die Meisegeiers. Frau Meisegeier und ihre Kinder, unter ihnen Scholly, Evelyne und Doddy. Die Meisegeiers sind keine Familie, sondern eine Brut, die sich rätselhafterweise erstaunlich vermehrt, obgleich es keinen Herrn Meisegeier gibt. Beim Ballonaufstieg zur Jahrhundertfeier der Völkerschlacht bei Leipzig treten die Tertianer Hans Boeckel und Bruno Tiches erstmals ins Bild. Beim Versuch, sich in den Ballonkorb zu schmuggeln, wird Hans Boeckel erwischt und demgemäß bestraft, Bruno Tiches
hingegen erst hoch in den Lüften entdeckt und für seinen vaterländischen Eifer gelobt, nachdem er davon berichtet, dem Kaiser ins blaue Herrscherauge geblickt und ihm ewige Treue geschworen zu haben. Was für Bruno zu den schönsten Hoffnungen berechtigt.

1923 Zehn Jahre  später gibt es in Neustadt an der Nitze einige Sozialdemokraten mehr und einige vaterländischen Verbände weniger. Bruno Tiches hat
einen neuen Treueschwur geleistet. Diesmal der deutschen Republik. Als zielstrebiger Lehrling im Bankhaus Stein & Co. ist er dabei, mit Frau Meisegeier flotte Aktiengeschäfte zu tätigen, die etwas einbringen. Sehr viel mehr jedenfalls, als dem Werkstudenten Hans Boeckel in München der Verkaufvon Zeilunge inbringt. Bruno Tiches ist erfolgreich, Hans Boeckel verliebt in die schöne Vera von Lieven. Sie studiert Kunstgeschichte und ist außerdem mit Hans sehr glücklich, was beiden nicht schwerfällt, weil junge Menschen das Glück nicht zu lernen brauchen. Da indessen jede Jugendliebe einmal enden muß, weil sie ja sonst keine Jugendliebe mehr wäre, fällt auch die geplante Feier zum bestandenen Doktorexamen Hans Boeckels ins Wasser der Enttäuschung. Vera trifft keine Schuld. Wie so oft im Leben, ist auch hier das Schicksal stärker.

1933 Das deutsche Schicksalsjahr meint es anfänglich noch gut mit Hans Boeckel und beschert ihm das Mädchen Kirsten, das sich auf den Schoß setzt und behauptet: „Isch bin eine Dänemärkerin.“ Da dies im Münchener Fasching geschieht, darf sie es. Damit aber sind die Wohltaten des Jahres 1933 für Hans Boeckel auch schon zu Ende während die Zukunft für Bruno Tiches erst beginnt. Da er die richtige Uniform trägt und wieder einmal bereit ist, ewige Treue zu schwören – diesmal dem Führer -, steht seiner Korriere nichts mehr im Wege, Mit ihm kommen die Meisegeiers hoch, denn Bruno hat Evelyne geheiratet, was ihn nicht hindert, Doddy recht appetiltlich zu finden. Scholly Meisegeier ist bei der SS, Frau Meisegeier in der Frauenschaft, wo sie ledige Mütter betreut, ein Gebiet, auf dem sie Erfahrung hat. Hons Boeckel hingegen ist gar nichts, höchstens ein lntellektueller, weshalb er auch recht bald seine Stellung bei der Zeitung verliert. Eines
Tages liest ihn Kirsten auf und nimmt ihn mit nach Dänemark. Dorl heiratet sie ihn kurzerhand. Womit wieder einmal bewiesen wäre, daß Männer zu ihrem Glück gezwungen werden müssen.

1945 Als der Krieg vorüber ist, gibt es in Neustadt an der Nitze einige Trümmer, recht wenig Kalorien, sehr viel Demokratie und überhaupt keine vaterländischen Verbände mehr. Hans Boeckel trägt einen umgearbeiteten Soldatenrock und ist mit einem Handwägelchen unterwegs, für Kirsten und seine beiden Kinder den letzten Teppich gegen Eier zu tauschen. Derweilen ist Bruno Tiches mit einem Auto schon wieder ,,Unternehmer“. Diesmal hat er nicht nur die Weltanschauung, sondern auch den Namen gewechselt. Er handelt mit Töpfen, Amizigaretten und Kaffee. Es geht ihm gut.

1955 Zehn Jahre später geht es ihm noch besser. Bruno Tiche fährt jetzt einen Mercedes 300, hat die Managerkrankheit und nebenbei Doddy, außerdem Beziehungen und politischen Einfluß, und gilt als einer der Erfinder des deutschen Wirtschaftswunders. Hans Boeckel geht es ebenfalls besser, wenn auch nicht so gut wie Bruno. Er ist schließlich Journalist und kein Generaldirektor. Eines Tages schreibt er in seiner Zeitung, was er von Bruno Tiches hält. Er hält nicht viel von ihm. Weshalb Bruno Tiches sofortige Wiedergutmachung verlangt. Aber Hans Boekkel
hat es immer noch nicht gelernt, strammzustehen. Er weiß nur, daß man dazu nicht schweigen, sondern solchen Typen kräftig auf die Finger klopfen soll, damit ihnen alle Lust vergeht, jemals wieder ins Spiel zu kommen, und er klopft ihm zum erslenmal auf die Finger. Wütend verläßt Bruno Tiches die Redaktion, wütend reißt er die Tür zum Fahrstuhl auf und steigt ein. Der Fahrstuhl ist außer Betrieb. So geht es mit
Bruno Tiches abwärts. Diesmal für immer. Dafür hat er eine große Beerdigung mit vielen Herren im schwarzen Zylinder und feierlichen Trauermienen und die Ansprache eines , diein dem Bekenntnis gipfelt: ,,ln seinem Sinne wollen wir weiterleben !“


Die Helden unserer Geschichte haben eines gemeinsam:
sie sind keine Helden

HANS BÖECKEL ist ein Mensch von anständiger Gesinnung und heiterem Gemüt. BRUNO TICHES hat die Gesinnung, die gerade gefragt ist, und Gemüt nur, wenn es ihm nutzt.
Als Schuljunge macht  Hans ebenso brav seine Aufgaben wie Dummheiten. Für die Dummheiten wird er natürlich bestraft Als Schuljunge sah es Bruno als seine Aufgabe an, Dummheiten zu machen. Für die Dummheiten wurde er obendrein belohnt.
In der Inflation verkaufte Hans Zeitungen, um recht und schlecht studieren zu können. Er wute nicht einmal, ob die Zeitungen zur Rechten oder zur Linken gehörten. In der Inflation verkaufte Bruno Aktien und Devisen, um gut und teuer leben zu können. Er verdiente viel, weil seine Rechte nie wußte, was die Linke tat.
Wenn Hans sich verliebte, hatte er es nicht leicht. Denn er verliebte sich nur in Mädchen, die es ernst meinten. Wenn Bruno sich verliebte, meinte er es nicht ernst. Denn er verliebte sich nur in leichte Mädchen.
Hans war Zivilist. Sein Lieblingslied war „Freude, schöner Götterfunken“. Brunos Uniform wurde immer prächtiger. Sein Lieblingslied war „O du schöner Westerwald“.
Hans verlor seine Stellung, weil er nicht richtig strammstehen konnte. Bruno stand so lange stramm, bis alle Stellungen verloren waren.
Nach dem Krieg konnte es Hans wieder zu etwas bringen. Das ist das deutsche Wunder. Nach dem Krieg konnte es Bruno wieder zu etwas bringen. Das ist auch ein deutsches Wunder.
Hans ist das, was man einen typischen Deutschen nennt. Bruno ist das, was man einen typischen Deutschen nennt.
   

Erinnerungen von Hansjörg Felmy

Wir vier: Johannavon Koczian, Wera Frydberg, Robert Garf und ich trafen uns vier Wochen vor Drehbeginn beim Regisseur Kurt Hoffmann zum Kaffe und sprachen über das Drehbuch. Pauck, Neumann und Hoffmann hatten ein so kongeniales Buch zum Roman von Hugo Hartung geschrieben, daß es nicht ein Komma zu verändern galt. Ich habe das später nur noch einma bei den BUDDENBROOKS erlebt. Es war eine pure Freude.

Nächsten Tags ging’s ins Atelier zu den Vorproben. Alle großen wichtigen Szenen wurden vorprobiert nur in Anwesenheit vom Regisseur, Kameramann, Oberbeleuchter, Tonmeister und Maskenbildner. Und dann erst, nachdem alles gründlich vorgearbeitet war, ging es an die eigentliche Dreharbeit in der dann fertigen Dekoaration. Diese Sorgfalt ist leider heute aus Geldmangel und Dilettantismus nicht mehr möglich. Schade! Aber schön, daß ich es erleben durfte! Die Außenaufnahmen bedurften natürlich entsprechenden Wetters, aber wir hatten in diesem Sommer Glück und es gab keine Verzögerungen.

Heute noch möchte ich mich ausdrücklich bei allen Mitarbeitern, nicht nur bei meinen wunderbaren Schauspielkollegen, ganz herzlich bedanken für diese so sehr gelungene Filmarbeit.

Bei einigen kann ich es nicht mehr.


aus: Erinnerungen an die „Wunderkinder“. Hansjörg Felmy denkt an die Dreharbeiten zurück. In: Wir Wunderkinder. 100 Jahre Filmproduktion in N iedersachsenHrsg. v. d. Gesellschaft für Filmstudien. Redaktion: Susanne Höbermann, Pamela Müller, Hannover 1998, S. 79

Wera Frydberg, Hansjoerg Felmy und Kurt Hoffmann (Filminstitut Hannover)
Hansjoerg Felmy und Robert Graf (Filminstitut Hannover)

Erinnerungen des Produzenten Hans Abich

Zur Zeit der Herstellung dieses Spielfilms besteht beträchtliche Distanz. 1958 hatte ich den letzten von vier Filmen für die Bavaria in München-Geiselgasteig als Gastproduzent zustandegebracht, da „absolvierte die Filmaufbau GmbH eines der aktivsten Produktionsjahre ihrer Firmengeschichte“, wie Susanne Fuhrmann in ihrer Chronik „Zur Geschichte der Filmaufbau GmbH Göttingen“ feststellte, welche sie im Auftrage der Gesellschaft für Filmstudien e.V. Hannover, 1993 abschloß.


aus: Unsere Produktion „Wir Wunderkinder“. Hans Abich, Produzent der Filmaufbau GmbH Göttingen, erinnert sich. In:Wir Wunderkinder. 100 Jahre Filmproduktion in N iedersachsenHrsg. v. d. Gesellschaft für Filmstudien. Redaktion: Susanne Höbermann, Pamela Müller, Hannover 1998, S. 81-83

Der Bewertungsausschuss würdigt damit den Versuch, ein halbes Jahrhundert deutscher Geschichte in kabarettistisch -glossierender Form darzustellen. Die locker gefügte Szenenfolge lässt zwei Komponenten erkennen: einmal die „Montage“ zeitgeschichtlicher Vorgänge und zum anderen die Abhandlung eines privaten Schicksals. Diese zwei Wirklichkeitsebenen werden einander in Bänkelsängermanier gegenübergestellt. Daraus ergibt sich eine Bilderbogengeschichte im Kostüm der Moritat. Die kabarettistische Ironie vermag der geschichtlichen Realität zwar manchen witzigen Effekt abzugewinnen, doch gleitet sie bisweilen allzu deutlich in die überzeichnete Karikatur ab.

(…)

Wenn der film trotz der hier aufgezeigten stilistischen und formalen Mängel das Prädikat wertvoll erhält, so deshalb, weil er in formaler Hinsicht eine geschlossene Leistung darstellt, wie sie historisierende Filme dieser Art selten erreichen. Der Film besitzt Witz und manche Treffsicherheit bei der Glossierung zeitgeschichtlicher Erscheinungen, und er bringt diesen Witz auch in der Fotografie zum Ausdruck. Die Fäden der Handlung sind präzis geknüpft, und die Regie stellt ein gediegenes Ensemblespiel auf die Beine, das eine Fülle beachtlicher schauspielerischer Einzelleistungen enthält. Hier verdienen vor allem die Leistungen von Robert Graf, Johanna von Koczian, Elisabeth Flickenschildt und Hansjörg Felmy hervorgehoben zu werden. Die Besetzung ist bis in die Nebenrollen hinein durchdacht und gut getroffen. Auch vom Schnitt her beweist der Film seinen kabarettistischen Pfiff und eine gediegene dramaturgische Durchformung.

> vollständiger Text

EIR WUNDERKINDER ist der erste deutsche Film, der nach 1945 in Israel aufgeführt wird. Er gewinnt mehrere Preise im In- und Ausland. Einige zeitgenössische Pressestimmen bemängeln zwar die zu „schwarz-weiß gezeichneten Charaktere“ und den „für eine Satire zu versöhnlichen Grundtenor“. Doch gerade für die Leichtigkeit, mit der Hoffmann das ernste Thema inszeniert, erntet er auch viel Lob: „Der Rückblick, den Hoffmann tut, ist ein schmunzelnder Rückblick, wenngleich niemals so unverbindlich heiter, dass er verniedlichen würde. Hinter Scherz, Satire und Ironie steht auch hier – die tiefere Bedeutung.“ (Neue Berliner Woche vom 14.11.58)

Kurt Hoffmann, der Filmregisseur mit dem sechsten Sinn für das Heitere, hat seinen besonderen Stil: den der fröhlichen Bänkelsängerei. Aber er ist intelligent genug, um genau zu wissen, daß nichts so schwer ist wie das leichte Genre. Um die Leute im Parkett das Lächelnzu lehren, muß man über eines verfügen: über eine große Portion Ernst. Beides wirft er wieder in die Waagschale: seinen Leinwandstil der komischen Moritat und seinen hartnäckigen, intelligenten Ernst, wenn er das Leichte produziert. Das eine ist in diesem seinem neuen Werk wieder brillant: ein Filmkabarett mit Kapriolen und Purzelbäumen in Regie und Kamera: nie sahen wir Hoffrnanns heitere Jacht so munter über die Untiefen der Zeit vorübersegeln wie hier. Das andere aber stimmt nachdenklich. Der Ernst, mit dem das Heitere behandelt wird, stimmt nicht froh. Woran liegt es, was ist bei dieser Satire aufdie letzten vierzig
Jahre unseres deutschen Daseins so befreiend, was so schief?

Es liegt an der Zeit, an der vergangenen und an der gegenwärtigen. Und es liegt am Stoff. Der stammt von Hugo Hartung, dem geistigen Vater des ungarischen Mädchens Piroschka. „Wir Wunderkinder“ heißt sein jüngster Roman, der im Vorjahr erschienen ist und hier auf die Leinwand übertragen wurde.

Hartung hat ihn die „dennoch heitere Geschichte unseres Lebens“ genannt: ein Stück Selbstbiographie, ein paar Blätter der Chronik einer Generation, die vom Kaiserreich ins Wirtschaftswunderland gelangte. Nichts sei dagegen gesagt, daß einer versucht, den bitteren Knödel im Hals unseres Volkes mit einem prickelnden literarischen oder filmischen Trunk hinwegzuspülen. Wir schlucken und sind fröhlich, daß wir wieder schlucken können. Aber, weiß der Kukkuck,
er will nicht rutschen, der Knödel, er ist zu dick. Und die Zeit, die aus den Fugen war, ist wohl nicht wieder einzurenken, wenn wir bloß über den Mann aus Braunau und seinen schwarzen Schnurrbart einen Moritatensong von der
Leinwand hören. So einfach geht das nicht. Bei der Zeitsatire tut’s die Liebenswürdigkeit allein nicht.

Das soll uns freilich nicht hindem zu sagen, daß hier in der Form einer der amüsantesten Filme unserer deutschen Produktion vorliegt. Es wird im Bänkelsänger- und Schauerballadenton die Geschichte zweier „typischer“ Deutscher erzählt. Der eine, Zivilist und Herr von verträumtem Idealismus, wandelt als ein Parzival durch die Erdrutsche unserer Tage. Der andere ist ein
zackiger Karrieremacher der braunen Front, ein Stehaufmännchen zwischen Politik und Krieg. Es geht leider nicht ohne Schwarz und Weiß ab. Der Anständige wurschtelt sich so fatal anständig durch. Und der Marschierer trampelt stramm in die Karikatur.

Friedrich A. Wagner, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. 1 I I 958

Diese Helden sind keine Helden

Kurt Hoffmann und sein neues Spiel „Wir Wunderkinder“ finden starke Beachtung

Neu in Deutschland

Die Verbildlichung des Romans von Hugo Hartung unter der Obhut des deutschen Lustspielspezialisten Kurt Hoffmann („Wirtshaus im Spessart“) soll als löbliche Aufforderung an politisch frommes Bürgertum verstanden sein, fürwitzigen Nazis und emsigen Karrieremachern endlich Einhalt zu gebieten. Die Mitarbeit des Kabarettisten Günter Neumann („Berliner Ballade“) an dieser beschaulichen Lebens- und Liebesgeschichte zweier Deutscher wird zwar in einigen Songs und Dialogen spürbar, konnte aber offenbar krasse Verniedlichungen nicht vermeiden. Der Berliner Bühnen-Schwarm Johanna von Koczian nutzt – publikumswirksam radebrechend – die Possierlichkeit der weiblichen Hauptrolle.

Der Spiegel Nr. 45, 5.11.1958

Wunderkinder und Seelsorge

Kein schmeichelhaftes Spiegelbild – „Wir Wunderkinder“ und „Unruhige Nacht“

 

Das Fazit der Filmbewertung bei cinema.de lautet: „Entlarvende und amüsante Wirtschafswunder-Karikatur.“ Die Redaktion verleiht die volle Punktzahl.

„Die Karriere eines gesinnungslosen Kleinstädters, der sich nahtlos vom schneidigen Nazi-Führer zum unangefochtenen Geschäftsmann der westdeutschen Nachkriegszeit wandelt. Ein kabarettistisch-satirischer Querschnitt durch vier Jahrzehnte deutscher Geschichte, der am Beispiel zweier Menschen, deren Leben völlig gegensätzlich verläuft, Opportunismus und Vorteilshascherei beleuchtet. Ausgezeichnet gespielt, einfallsreich und treffsicher inszeniert, auch wenn es dem moritatenhaften Erzählton mitunter an Tiefe mangelt.“ (Filmdienst.de)

„Dieser Teil [die eigentliche Filmgeschichte] des Films bedient (eher charmant als routiniert) alle Elemente des gehobenen bundesdeutschen Kino-Lustspiels und die Zeitgeschichte ist dabei eher Kulisse. (…)

Doch zum Glück gibt es noch eine zweite Ebene, die Wir Wunderkinder zur einzig wirklich gelungenen Verknüpfung aus Kino und Kabarett macht. Jemand hatte die geniale Idee Wolfgang Neuss und Wolfgang Müller (die bereits Hoffmanns Das Wirtshaus am Spessart zu einem großen Vergnügen machten) als Conférenciers einzusetzen. Das eingespielte Duo unterbricht die Handlung und schmettert Songs wie “Stimmung, es lebe die Nachkriegszeit, denn bald haben wir schon wieder Vorkriegszeit!“ Da bleibt kein Auge trocken und die eher biedere Geschichte wird satirisch zugespitzt.“ So beurteilt highlightzone am

„Der Film von Kurt Hoffmann besticht durch ein hohes Tempo und eine enorme Vielfalt humoristischer Einfälle: Das Drehbuch bietet amüsante Wortspiele, bissige Dialoge und eine Meta-Ebene, auf der zwei Erzähler das Geschehen kommentieren. Das spielfreudige Ensemble und der heitere Tonfall sorgen für einen hohen Unterhaltungswert, der das Sujet umso bitterer wirken lässt.“ (filmsucht.org)

Nachdem über ein Nachkriegs-Jahrzehnt lang die vorherrschende Empfindung des deutschen Films angesichts des deutschen „Schicksals“ das Selbstmitleid gewesen war, wirkte ein selbstironischer Film wie WIR WUNDERKINDER wie ein wahres Wunder. Noch verwunderlicher war, daß man diese von der Welt beruhigt und beifällig aufgenommene Satire auf die Kinder des Nazireiches und des Wirtschaftswunders einem Mann verdankt, der in seinem qualitativ wie quantitativ ganz ansehnlichem Oeuvre bislang keinerlei Interesse für Politik und als eher bürgerlich-konservative Figur auch keine Neigung zur Satire hatte erkennen lassen. Es muß einmal gesagt werden, daß die ausgewiesenen politischen Satiriker Helmut Käutner und Wolfgang Staudte diesen Film nicht besser gemacht hätten, eher im Gegenteil. Seine bürgerliche Bravheit hat Hoffmann freilich dazu verführt, viel zu lieb mit seinem „guten Deutschen“, der Felmy-Figur Hans Boeckel umzugehen; hier liegt die große Schwäche des Films, die es auch dem alten Selbstmitleid gestattet, sich wieder Bahn zu brechen. (…)

aus: Christa Bandmann/Joe Hembus: Klassiker des deutschen Tonfilms, München 1980, S. 185

Notiz zum Film [1982]

In der teilweise phantasievollen Satire mit Ansätzen zur Zeitkritik wird der Nationalsozialismus zu einer Angelegenheit des indi­viduellen Charakters: Bruno ist von Anfang an „schlecht“, ein Opportu­nist, der deshalb zum Nationalsozialismus tendiert – Hans hingegen ein empfindsamer Mensch und deshalb als Nicht-Nazi definiert. Gleichwohl wurde der kabarettistische Film der erste in Ost und West gleich aner­kannte Film der bundesrepublikanischen Produktion (er war der erste bundesdeutsche Film, der in Israels Kinos kam).

Ebenso wie für Kurt Hoffmanns Puszta-Romanze „Ich denke oft an Piroschka“ (1955) lieferte auch für diesen Film Hugo Härtung mit einem Ich-Roman die literarische Vorlage. Um im Drehbuch die Zeitbrücke von 1913 über die Weimarer Republik und die Nazijahre bis zum Wirtschaftswunder in den 50er Jahren zu schlagen, wurden zwei kabarettistische Kommenta­toren (Wolfgang Neuß und Wolfgang Müller) eingeführt, die im Stile und in der Aufmachung alter Stummfilmerklärer die Handlung von Ort zu Ort, von Jahr zu Jahr und von Schicksal zu Schicksal führen. (Dieses Stil­mittel erlaubte es sogar, eine neue französische Version mit zwei Pa­riser Kabarettisten, anstelle von Neuß und Müller, herzustellen.

Hugo Härtung: „Auch ist das Zwielichtige jener bitteren Satire erhal­ten geblieben, die mich mein Buch ‚den dennoch heiteren Roman unseres Lebens‘ nennen ließ, und welche 1956 die Juroren mit bestimmt haben mag, ihm den ‚Heinrich-Droste-Literaturpreis für den besten zeitge­schichtlichen humoristischen Roman1 zu verleihen.“


Zentrale Filmografie Politische Bildung. Hrsg. vom Institut Jugend Film Fernsehen, München, Band II: 1982, S. 242

„(…)Hoffman war kein Poltergeist und Bilderstürmer, kein Spruchbandträger, seine Filme waren nicht in Kupfervitriol getaucht, sondern eher in die Milch der braven Denkungsart. Diejenigen seiner Kritiker aber, die meinten, seine Filme seien gesinnungslos, weil sie so hingetupft und mühelos wirkten, saßen dem urdeutschen Irrtum auf, der alles, was leicht ist, für seicht hält. Daß dem nicht so ist, beweist er in seinem  besten Film, der wahrscheinlich einer der besten deutschen Nachkriegsfilme überhaupt ist: WIR WUNDERKINDER (1958). Dieser Film verfolgte und kommentierte die Lebenswege eines Opportunisten und eines ‚guten Deutschen‘ von Kaiser Wilhelm II. bis in die Nachkriegszeit. Er erhielt in Hollywood wie in Moskau Auszeichnungen, er war der erste bundesdeutsche Spielfilm, der in Israel gezeigt wurde, die DDR-Presse bescheinigte ihm ‚einen gewissn Erkenntniswert‘, die Filmbewertungsstelle jedoch konnte sich lediglich ein ‚wertvoll‘ abringen.

WIR WUNDERKINDER war ein Familienfilm besonderer Art. Mit ihm konnte sich eine ganze Generation identifizieren, in ihn schickten Eltern ihre Kinder, wenn ihnen auf die Frage ‚was habt ihr unter Hitlerr gemacht?‘ Atem und Argumente ausgingen.

In WIR WUNDERKINDER zeigte Hoffman Flagge. Dieser Film kniff nicht, drückte sich nicht vor Unangenehmen, wie dies zwei Jahre später Wolfgang Libeneiner tat, als er in dem Ruth-Leuwerik-Film EINE FRAU FÜRS GANZE LEBEN mit keckem Schwung den ersten und zweiten weltkrieg samt Nazizeit übersprang.“


aus: Wolfgang Barthel: So war es wirklich. Der deutsch Nachkriegsfilm. München/Berlin 1986, S.284/85

Wir Wunderkinder [2007]

Der kleine Steppke will gerade den Bogen an seine Dreiviertelgeige setzen, da wird er von Wolfgang Neuss rüde aus dem Kinosaal gewiesen: Kurt Hoffmanns Deutschland-Revue, für die dieser Trailer warb, war nichts für Wunderkinder. Und die kamen im Film auch gar nicht vor. „Wir Wunderkinder“, nach dem Roman von Hugo Hartung, nahm Durchschnittsfiguren aufs Korn. „Es ist ein Wunder, dass wir Kinder des 20. Jahrhunderts noch leben“, erläutern die „Conférenciers“ dieser Deutschland-Revue den Titel – es sind die Kabarettisten Wolfgang Müller und Wolfgang Neuss, die mit ihren Zwischenrufen und Couplets dem Rückblick auf 30 Jahre deutscher Geschichte seine besondere Würze geben. Der Filmsatire „Wir Wunderkinder“, (…) kommt nicht nur künstlerische, sondern auch besondere historische Bedeutung zu: Derart unverblümt wie hier wurde selten im Nachkriegskino über Hitler und seine Gefolgschaft gelästert – und darüber, wie die alten Nazis sich in neuen Positionen breit machten.

„Was mir vorschwebte, war die ausgewogene Mischung von Scherz, Satire, Ironie und tieferer Bedeutung“, erklärte Regisseur Kurt Hoffmann (1910-2001), der mit Wolfgang Staudte und Helmut Käutner zu den bedeutendsten Regisseuren der unmittelbaren Nachkriegszeit gehörte. Für heutige Ansprüche mögen die Anspielungen auf den Holocaust (den eine jüdische Nebenfigur überlebt), auf Naziterror und Bombenkrieg allzu verhalten ausfallen. Für die ambitionierten Macher der „Wunderkinder“ war diese Art, historische Ungeheuerlichkeiten und politische Kommentare in eine private Liebes- und Rivalengeschichte einzubauen, der einzig gangbare Weg, um überhaupt ein großes Publikum zu erreichen.

Das aus Jungstars und alten Komödianten wie Liesl Karlstadt oder Elisabeth Flickenschildt gemischte Ensemble kann sich heute noch sehen lassen. Und der junge Hansjörg Felmy durfte als sympathischer Feuilletonist Boeckel endlich die schneidigen Militär-Rollen abstreifen, auf die er zuvor abonniert war. Boeckel ist ein von der braunen Politik angewiderter Schöngeist und Literaturkritiker, der die Zeichen der Zeit dennoch übersieht und ohnehin von der Liebe zu zwei schönen Frauen (Wera Frydtberg und Johanna von Koczian) vollkommen absorbiert ist. „Innere Emigration“ wird hier als edelmütiges Verhalten präsentiert, während die stille Mehrheit der Mitläufer im Film nicht vorkommt.

Dafür tritt natürlich der aalglatte Nazi auf, trefflich gespielt von Hans Graf (dem 1966 früh verstorbenen Vater von Dominik Graf). Dieser Bruno Tiches ist Boeckels gerissener Schulfreund, der zum NS-Hauptstellenleiter und später zum „unpolitischen“ Kriegsgewinnler mutiert. Dass Tiches kurz nach dem Krieg flugs wieder obenauf und hoch angesehen ist, entsprach der weithin verdrängten Wirklichkeit: viele Altnazis wechselten einfach Namen und Identität. Schwamm drüber. Auf ins Wirtschaftswunder! „Jetzt gibt´s im Laden / Karbonaden schon / und Räucherflunder“, reimen „Die zwei Wolfgangs“ mit aufgesetzter Fröhlichkeit. Und auch das faule „Happy End“ dient ihnen als Anlass einer gesellschaftskritischen Bestandsaufnahme der späten 50er Jahre: Bevor der einflussreiche Tiches nämlich den kritischen Journalisten Boeckeler mundtot machen kann, stürzt er in einen Fahrstuhlschacht. Wolfgang Neuss’ Nekrolog lautet folgendermaßen: „Bruno Tiches ist verschieden. Aber Verschiedene seines Schlages leben weiter. So viele Fahrstühle können ja auch gar nicht repariert werden.“

Jens Hinrichsen in: film-dienst 10/2007

(…) Wie gewohnt von Kurt Hoffmann schwungvoll und unterhaltsam inszeniert, käme „Wir Wunderkinder“ über einen nur latent kritischen Film nicht hinaus, gäbe es nicht die beiden Kabarettisten Wolfgang Neuss und Wolfgang Müller, mit denen er erstmals in „Das Wirtshaus im Spessart“ zusammen gearbeitet hatte. Sie zeigen „Wir Wunderkinder“ als „Film im Film“, den sie von einer Bühne aus mit Kommentaren und Klaviermusik begleiten. Die Konzessionen, zu denen der Film in den 50ern noch gezwungen war, werden von ihnen deftig und unmissverständlich unterlaufen – wenn Bruno Tiches am Ende in einen Fahrstuhlschacht fällt und stirbt, dann enthebt Wolfgang Müller dieses scheinbare „Happy-End“ gleich wieder. Während der Film die Bilder einer Beerdigung zeigt, zu der alle einflussreichen Persönlichkeiten aufmarschiert sind, um dem „verdienten Deutschen“ Tiches die letzte Ehre zu erweisen, erwähnt er, dass es so viele kaputte Fahrstühle nicht gibt, die angesichts der anderen „Tiches“ repariert werden müssten – Kurt Hoffmann war nie kritischer als in „Wir Wunderkinder“, aber trotz des Gewinns eines „Golden Globes“ als bester fremdsprachiger Film gehört er bis heute zu seinen weniger bekannten Werken. (…)

Auszug aus: Udo Rotenberg: Wir Wunderkinder (1958) Kurt Hoffmann – 19.07.2013 [15.11.2022]

 

Ein Wunder von Satire
Wir Wunderkinder von Kurt Hoffmann

„An Filmen, die den Zweiten Weltkrieg zum Thema haben, mangelt es im zeitgenössischen deutschen Kino wahrlich nicht. Doch allzu oft handelt es sich dabei um Betroffenheitskitsch, bei dem die guten Absichten umgekehrt proportional zur filmischen Qualität stehen. Überraschende oder gar witzige Filme über das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte sind rar, und die wenigen Beispiele, die das Thema auf satirische Weise angehen – etwa Dani Levys Mein Führer – Die wirklich wahrste Wahrheit über Adolf Hitler oder Wolfgang Murnbergers Mein bester Feind –, erweisen sich nicht selten als besonders verkrampft und unlustig. Dass es anders geht, führte Kurt Hoffmann bereits vor sechzig Jahren mit Wir Wunderkinder vor.“ (…)

Erschienen im Filmbulletin1/2019

> vollständiger Text

Wir Wunderkinder bei filmportal.de (u. a. Uraufführungsplakat, Fotos)

Wir Wunderkinder bei wikipedia

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