Der Skandal um Veit Harlan

Hans Holt und Kristina Söderbaum in UNSTERBLICHE GELIEBTE

Im August 1952 startet Hans Domnick ein äußerst umstrittenes Projekt. Er holt Veit Harlan nach Göttingen. Erst vier Monate vorher ist der Regisseur des antisemitischen Hetzfilms JUD SÜSS (1940) vom Hamburger Landgericht, wo er sich „wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit“ verantworten mußte, freigesprochen worden. Für das gemeinsame Projekt, die Verfilmung der Storm-Novelle „Aquis submersus“ versucht Domnick sogar, eine Bürgschaft des Landes Niedersachsen zu bekommen. Das Kultusministerium hat daraufhin alle Hände voll zu tun, um in der Öffentlichkeit klarzustellen, daß eine Bürgschaft nicht gewährt wird. Noch in der Produktionsphase kommt es zu öffentlichen Protesten gegen Harlans Tätigkeit als Filmregisseur. Auch im Bundesministerium wird der Fall zum Politikum, doch meint die Behörde, daß „die allgemeine Rechtslage und das Grundgesetz eine rechtliche Handhabe nicht böten“. Am 3. Februar 1951 hat der Film UNSTERBLICHE GELIEBTE mit Harlans Frau Kristina Söderbaum in der Hauptrolle in Göttingen Premiere. Die Protestwelle gegen den Film reißt jedoch nicht ab. Der Presseleiter des Herzog-Verleihs ruft zum Boykott des Films auf, Studenten stören die Aufführungen.

Noch im gleichen Jahr kehrt Veit Harlan ins Göttinger Atelier zurück und dreht für die Münchner Willi-Zeyn Film HANNA AMON. Wieder kommt es zu Protesten im gesamten Bundesgebiet. Bei der Göttinger Erstaufführung entwickeln sich vor dem Central-Kino regelrechte Straßenschlachten. Der spätere Oberbürgermeister von Göttingen, Arthur Levi, veröffentlicht daraufhin im Februar einen „offenen Brief an Harlan“, in dem er ihm eine Mitverantwortung für die Ereignisse vorwirft und ihn zum „Abtreten von der kulturellen Bühne Deutschlands“ auffordert. Dennoch entsteht 1953 mit DIE BLAUE STUNDE ein weiterer Harlan-Film in den Göttinger Ateliers.

OFFENER BRIEF AN HARLAN

Sehr geehrter Herr Harlan! Ich wende mich hiermit als Jude an Sie, als einzelner, der weder im Namen des Judentums noch des Staates Israel spricht. (…) In Göttingen wurde der Inhalt des ‚Jud Süß’ von den für Sie demonstrierenden Horden in aller Öffentlichkeit gerechtfertigt und verteidigt. Auch die ganze Politik des Dritten Reiches gegenüber den Juden fand deren Beifall und Billigung. (…) Wie aus den Ereignissen in Göttingen deutlich spürbar war – ich habe sie von Anfang bis Ende miterlebt – sehen Ihre Gegner wie Ihre Befürworter in Ihnen ein Symbol des Antisemitismus. Sollte Ihnen das nicht zu denken geben, Herr Harlan? Selbst wenn Sie sich gerechtfertigt darüber fühlen sollten, daß Sie seinerzeit den ‚Jud Süß’ gedreht haben oder drehen mußten, dann müßte Sie die Tatsache, daß heute alle Nazis und Antisemiten als Ihre Bundesgenossen auftreten, zur Besinnung zwingen, – vorausgesetzt allerdings, daß Sie ein moralisches und politisches Fingerspitzengefühl besitzen. Sie geben zu, Herr Harlan, daß Sie damals, im Dritten Reich, nicht genügend getan haben. Sie behaupten, Sie seien kein Antisemit. Sie wurden seinerzeit vor eine schwere Wahl gestellt, das weiß ich, und Sie haben kapituliert – wie so viele andere. Als Jude, wohlgemerkt, ich spreche nur für mich allein, wäre ich bereit, ihre damalige Schwäche zu vergessen, wenn Sie nach 1945 die Konsequenzen Ihres Verfehlens gezogen hätten. Der Vorwurf, den ich Ihnen machen muß, liegt nicht so sehr in Ihrer Kapitulation von gestern, sondern in dem Mangel an Charakterstärke, den Sie heute zeigen. Wenn Sie unter Beweis stellen wollen, daß Sie tatsächlich kein Antisemit sind, dann, Herr Harlan, ziehen Sie die Folgen aus den Demonstrationen. (…) Belasten Sie nicht die Zukunft durch ein Wachhalten der unglücklichen Vergangenheit. Treten Sie ab von der kulturellen Bühne Deutschlands. Liefern Sie der Menschheit, vor allem dem deutschen Volk, das Beispiel einer sühnenden Einkehr.

Hochachtungsvoll

Arthur Levi, Göttingen


Dieser „Offene Brief an Harlan“ erschien Anfang 1952 in den beiden Göttinger Tageszeitungen [Göttinger Tageblatt, 29. 1. 1952 / Göttinger Presse, 1. 2. 1952]. Der Autor Arthur Levi (Jg. 1922) musste 1933 nach England emigrieren. 1946 kehrte er in seine Heimatstadt Göttingen zurück. Levi war von 1973-1981 und von 1986-1991 SPD-Oberbürgermeister der Stadt Göttingen.

Das könnte dich auch interessieren …