Aktionszerfall der Arbeiterbewegung: Aufstieg des Faschismus
Noch heute gilt die von Max Horkheimer vor über 40 Jahren formulierte Einsicht, dass wer vom Kapitalismus nicht reden wolle, auch vom Faschismus schweigen sollte. Der Zusammenhang darf freilich nicht reduziert werden auf die häufig erwähnte Finanzierung der NSDAP durch Großindustrie und Finanzkapital; diese Unterstützung zeigt nur Symptome, noch keine Strukturzusammenhänge auf. Denn viele führende Vertreter des Großkapitals waren in ihrer politischen Option bis zuletzt gegen Hitler eingestellt, was wiederum nicht bedeutet, dass sie nicht nach seiner Ernennung zum Reichskanzler im Januar 1933 ihn voll unterstützt hätten. Auch darf der genannte Zusammenhang nicht als ein mechanischer verstanden werden: In vielen anderen bürgerlich-kapitalistischen Staaten hatten sich keine faschistischen Krisenlösungen durchsetzen können, obgleich es immerhin in den 30er Jahren 15 faschistische Staaten in Europa gab.
Ein erklärtes und auch nahezu erreichtes Ziel der faschistischen Bewegung war die völlige Vernichtung des Marxismus und der marxistisch orientierten Arbeiterbewegung. Das liberale, konservative, reaktionäre und republikfeindliche Bürgertum hatte in der Wirtschaftskrise Ende der 20er Jahre vollends die Fähigkeit verloren, sich auf politischer Ebene zu organisieren und eine parlamentarisch gesicherte Mehrheit zustande zu bringen, die ihre politische Herrschaft über die Arbeiterklasse garantiert hätte. Das Bürgertum war in seine heterogenen ökonomischen Interessengruppen zerfallen. Andererseits hatte auch die Arbeiterklasse nicht die Kraft, auf legalem oder revolutionärem Wege die politische Macht zu erobern, um dadurch
ihre drückenden, ihre Existenz selbst bedrohenden Probleme zu lösen. Klassenmäßig ergab sich dadurch die Konstellation, dass weder das Bürgertum noch das Proletariat die politische Herrschaft ausüben konnte und damit der faschistischen paramilitärischen Massenbewegung unter Führung Hitlers die bonapartistische Funktion zufiel, dem Bürgertum bei Verzicht auf politische Herrschaft die soziale Herrschaft durch Zerschlagung der Arbeiterbewegung zu garantieren. Darin besteht die eigentlich spezifische Funktion und neue Qualität der verselbständigten faschistischen Exekutive. Sie verweisen zugleich auf einen historischen Formwechsel der dialektischen Bewegung von bürgerlicher und proletarischer Revolution nach 1917, der letztlich entscheidend war für die Möglichkeit des Sieges des Faschismus in Deutschland: Die Weltkriegskrise 1914/18 war im Sinne einer proletarischen Emanzipation nur noch im weltrevolutionären Maßstab zu lösen. Die Energien des deutschen und internationalen Proletariats reichten jedoch nicht aus, den in Rußland begonnenen Prozess auszuweiten. Dadurch blieb in dieser veränderten historischen Situation die Russische Revolution auf die nationale Aufgabe der Kapitalakkumulation beschränkt, die in anderen Ländern durch die bürgerliche Revolution in Gang gekommen war. So trug der nationale Sieg der proletarisch intendierten und mit proletarischer Ideologie geführten Revolution, die weiterhin Vorbild für den revolutionär gesinnten Teil des Proletariats blieb, Momente der Konterrevolution in sich. Andererseits nahm aber die faschistische Konterrevolution selbst die Züge einer revolutionären Massenbewegung an. So ist meines Erachtens der Aktionszerfall der Arbeiterbewegung nicht nur die notwendige Voraussetzung, sondern ebenso auch nur die andere Seite des Aufstiegs und Siegs des Faschismus in Deutschland.
Schon vor dem ersten Weltkrieg hatte die deutsche Sozialdemokratie sich wesentlich auf Lohnkampf, Tarifverhandlungen und Sozialpolitik konzentriert und politisch zunehmend Funktionen des klassischen Liberalismus übernommen. Im November 1918 ging der Kampf wesentlich darum, welchen Charakter diese Revolution haben sollte, einen bürgerlich-demokratischen mit starken sozialen Implikaten oder einen mehr proletarisch-revolutionären, d.h. auf Selbstbestimmung beruhenden rätedemokratischen Charakter. Noskes berühmter
Satz: „Einer muss der Bluthund sein“ ist nicht nur zynisch, sondern er spricht auch die historische Wahrheit aus, dass in der deutschen Revolution die Vernichtung der über die bürgerlichen Elemente hinaustreibenden proletarischen Elemente bereits zu einem immanenten Problem der organisierten Arbeiterbewegung geworden war. Als 1920 die Arbeiterklasse mit dem ersten und bisher einzigen politischen Generalstreik in der deutschen Geschichte den Kapp-Putsch zum Scheitern brachte, war die Verschiebung des historischen
Koordinatensystems vollends sichtbar: es war nur noch das Proletariat, dass bei Risiko des Bürgerkriegs als einzige politische Kraft die Grundpfeiler der bürgerlichen Demokratie verteidigt hatte. Doch es hat sich die fundamentale Lehre des Kapp-Putsches in der Konsequenz nicht zu eigen gemacht, nämlich dass die Freiheitsrechte und die Republik nicht über das Parlament allein, sondern nur in Verbindung mit allen übrigen, auch außerparlamentarischen Mitteln ständig neu erobert und verteidigt werden müssen.
Die konterrevolutionären Teile des Bürgertums und Militärs hingegen hatten diese Lehre im umgekehrten Sinne aufgenommen: nämlich, dass die Beseitigung der Demokratie nur dann erfolgversprechend sein könne, wenn die Konterrevolution nicht die Form eines reaktionären Operettenputsches annehme, sondern wenn sie selbst ins Gewand der Revolution steige und eine Massenbewegung hinter sich bringe. Dies ist eine der wesentlichen Erkenntnisse, die publizistisch von jenen jungen rechtsradikalen konterrevolutionären Intellektuellen ausgesprochen wurde, von denen ihr eifrigster in hohem Alter jüngst in Frankfurt mit dem Goethepreis ausgezeichnet wurde. Man wird nicht fehlgehen, hier mehr als nur eine Kontinuität in den Personen zu vermuten.
Die erste Entscheidungsschlacht zwischen den neu formierten Kräften bahnte sich im Jahre 1923 an. In ihrem Ausgang spiegelt sich verdeckt wider, was dann bittere Realität wird. Denn die Sozialdemokratie lässt in der revolutionären Krise von 1923 durch den Einmarsch der Reichswehr in Sachsen und Thüringen parlamentarisch zustande gekommene Koalitionsregierungen aus SPD und KPD auflösen, die sich als Abwehrfront gegen den drohenden faschistischen Marsch aus Bayern auf die Reichshauptstadt Berlin und zugleich als Einleitung einer Einheitsfront auch auf Reichsebene gebildet hatten. Im gleichen Zuge verfügte Reichspräsident Ebert aber nicht die Rechtsexekution gegen den Hitlerputsch in München. Diesen Schluss aber kehrt von Papen im Juli 1932 um, als er die sozialdemokratisch geführte Koalitionsregierung in Preußen willkürlich ihres Amtes enthob, quasi als Test dafür, ob die Arbeiterbewegung für eine parlamentarische Regierungsform und die verfassungsmäßig garantierten Freiheitsrechte den Bürgerkrieg riskieren würde. Hier wird sofort deutlich, wie verheerend sich die parlamentarisch-staatliche Fixierung großer Teile der Arbeiterbewegung für die immer bedrohlicher werdende Situation auswirken musste: die gespaltene Arbeiterbewegung hatte nicht nur eine der schwersten Niederlagen erlitten, sondern kampflos kapituliert. Diese Kapitulation hatte auch für die Arbeiterbewegung nach 1945 tiefgreifende Folgen für die Schwierigkeit bei der Herausbildung neuer Kampfidentitäten sowie für die Verarbeitung der Niederlage vor dem Faschismus.
Dass sowohl die parlamentarisch fixierte SPD wie die in revolutionärer Phraseologie sich ergehende KPD am Ende der Weimarer Republik die 1920 noch vorhandene lebensnotwendige Verbindung von parlamentarischer und außerparlamentarischer, bis zum Bürgerkrieg reichenden, Kampfform um die Aufrechterhaltung der bürgerlichen Freiheitsrechte als Vorposten für den Ausbau und die Sicherung ihrer sozialen Existenz als Klasse verloren hat, gehört zu den fundamentalen Fehlern der Arbeiterbewegung, die zur Möglichkeit des Sieges des Faschismus in Deutschland beigetragen haben. Darin ist auch die Ursache zu suchen für das Scheitern einer immer wieder geforderten, ja beschworenen Einheitsfront.
Stand 1933 die Alternative „Sozialismus oder Untergang in die faschistische Barbarei“ – so hat sich durch das immense Anwachsen von Vernichtungswaffen diese Alternative heute zugespitzt in „Sozialismus oder Untergang“: beide Alternativen hatten und haben größere Handlungsspielräume als manch ein Enttäuschter sich eingestehen wollte und eingestehen will, Auch das ist eine der Lehren des 30. Januar 1933.
Michael Buckmiller: Kurzreferat während einer Veranstaltung des Instituts für Politische Wissenschaft in der Universität Hannover am 31.01.1983 zum Thema „30. Januar 1933: Komtinuität, Bruch und Folgen“ (Manuskript)