Modernität ohne Herrschaft? Zur aktuellen Neubewertung des Kaiserreichs

Die moderne Fassade des Kaiserreichs: Geschichtswissenschaft zwischen Differenzierung und Verharmlosung

Detlef Endeward (10/2025)

In Teilen der deutschen Geschichtswissenschaft wird das Kaiserreich (1871–1918) seit einigen Jahren neu betrachtet. Im Zentrum dieser Debatten steht die Frage, welche Aspekte des Kaiserreichs als „modern“ gelten können. Dabei wird häufig betont, man müsse diese Epoche differenzierter analysieren und sich von älteren, stark struktur- und herrschaftskritischen Deutungen – insbesondere der Bielefelder Schule um Hans-Ulrich Wehler – lösen. Es handelt sich hierbei jedoch nicht um eine geschlossene historiographische Schule, sondern um eine lose Strömung jüngerer Historiker:innen, die neue Akzente setzen wollen.

Als zentrale Figur dieser Debatte gilt Hedwig Richter. In ihren Arbeiten zur Demokratie- und Partizipationsgeschichte, zum Wahlrecht und zur politischen Kultur des 19. Jahrhunderts rückt sie vor allem Prozesse der Verwaltungsmodernisierung, Wahlpraktiken sowie Formen politischer Inklusion, etwa im Kontext der Massenpolitik, in den Fokus. Diese Perspektive betont Modernisierung als eine Frage von Verfahren, Praktiken und Diskursen. Kritisch daran ist jedoch, dass ökonomische und soziale Herrschaftsverhältnisse weitgehend ausgeblendet bleiben. Autoritäre, koloniale und militaristische Strukturen erscheinen in dieser Lesart häufig lediglich als Begleitphänomene der Moderne, nicht jedoch als konstitutive Bestandteile des Kaiserreichs selbst.

Problematisch ist vor allem die damit einhergehende Entpolitisierung von Machtverhältnissen. Gesellschaftliche, politische und insbesondere ökonomische Herrschaftsstrukturen werden nicht systematisch analysiert, sondern implizit relativiert oder ganz ausgeblendet. Modernität erscheint so als weitgehend neutraler, funktionaler Prozess, losgelöst von Klassenverhältnissen, Kapitalinteressen, imperialer Gewalt und militärischer Macht.

Diese Tendenz findet sich auch bei anderen neueren Arbeiten, die die moderne Leistungsfähigkeit des Kaiserreichs hervorheben – etwa in Industrie, Wissenschaft, Verwaltung oder Sozialpolitik. Dabei wird jedoch häufig unterschlagen, dass genau diese Formen von Modernität eng mit autoritären politischen Strukturen, kolonialer Expansion und Militarisierung verflochten waren. In einer solchen Form der oberflächlichen Differenzierung geraten nicht nur die „Schattenseiten“ der Modernisierung aus dem Blick. Vielmehr besteht die Gefahr, dass grundlegende Macht- und Herrschaftsverhältnisse systematisch verharmlost werden und das Kaiserreich implizit normativ aufgewertet wird, ohne seine strukturellen Grundlagen kritisch zu reflektieren.

Warum ist es bedeutsam, sich hier mit dieser Diskussion zu befassen?

Es ist bedeutsam, sich mit dieser historiographischen Diskussion auseinanderzusetzen, weil die Vertreter:innen dieser Richtung – insbesondere Hedwig Richter – in den vergangenen Jahren eine außerordentlich hohe mediale Sichtbarkeit erlangt haben. Ihre Deutungen des Kaiserreichs werden nicht nur innerhalb der Fachwissenschaft rezipiert, sondern zunehmend auch in populären Medien, Dokumentationen, Podcasts und Zeitungsbeiträgen verbreitet. Dort treten sie häufig als „Top-Historiker:innen“ oder maßgebliche Expert:innen auf und prägen damit maßgeblich die öffentliche Wahrnehmung des Kaiserreichs.

Diese mediale Präsenz verleiht ihren Interpretationen eine normative Autorität, die weit über den wissenschaftlichen Diskurs hinausreicht. Gerade weil komplexe historiographische Kontroversen in den Medien zwangsläufig verkürzt dargestellt werden, besteht die Gefahr, dass eine auf Modernisierung, Verwaltungsrationalität und Inklusionspraktiken fokussierte Lesart des Kaiserreichs zur dominanten Erzählung wird. Macht-, Herrschafts- und insbesondere ökonomische Strukturen, ebenso wie autoritäre, koloniale und militaristische Grundlagen dieser Modernität, treten dabei in den Hintergrund oder werden implizit relativiert.

Die Auseinandersetzung mit dieser Debatte ist daher nicht nur eine innerwissenschaftliche Frage, sondern auch eine politische und gesellschaftliche. Geschichtsbilder strukturieren das historische Bewusstsein der Gegenwart, beeinflussen Vorstellungen von Demokratie, Staatlichkeit und Modernisierung und wirken damit auf gegenwärtige politische Selbstverständnisse zurück. Eine unkritische Rezeption der „differenzierten“ Neubewertung des Kaiserreichs läuft Gefahr, historische Herrschaftsverhältnisse zu entpolitisieren und strukturelle Gewalt als bloßes Randphänomen moderner Entwicklung erscheinen zu lassen.

Gerade angesichts der medialen Aufwertung bestimmter Deutungen ist es daher notwendig, diese kritisch zu kontextualisieren, ihre blinden Flecken offenzulegen und an die untrennbare Verflechtung von Modernisierung, Macht und Herrschaft im Kaiserreich zu erinnern.


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