Klassengesellschaft im Übergang

Politisch-ökonomische Rahmenbedingungen und gesellschaftliche Formationen

Das Deutsche Kaiserreich (1871–1918) war ein Staat, der aus der Reichsgründung unter preußischer Hegemonie hervorging und von Beginn an durch tiefgreifende gesellschaftliche Widersprüche gekennzeichnet war. Während die politische Oberfläche von monarchischen und militärischen Strukturen, vom Obrigkeitsstaat und von feudalen Resten geprägt blieb, entwickelte sich in den Tiefenschichten der Ökonomie eine dynamische kapitalistische Gesellschaft. Die industrielle Revolution, die rasante Urbanisierung und die Herausbildung neuer sozialer Klassen erzeugten Spannungen, die sich in politischen Kämpfen, im Aufstieg der Arbeiterbewegung und letztlich in den Krisen und Brüchen der frühen 20. Jahrhunderts niederschlugen.

Diese Gesellschaftsordnung des Kaiserreichs ist nicht als statische Hierarchie, sondern als historisch-konkrete Formation zu begreifen, die von den Widersprüchen zwischen Kapital und Arbeit, zwischen feudaler Restauration und bürgerlicher Entwicklung geprägt war. Diese Dialektik bestimmte die ökonomische Basis wie auch den politischen Überbau.

Ökonomische Grundlagen: Industrialisierung und Kapitalismus

Die zweite industrielle Revolution

Das Kaiserreich war im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Schauplatz einer beschleunigten Industrialisierung. Der Übergang von der agrarisch dominierten Gesellschaft zur industriellen Moderne erfolgte besonders stark in Branchen wie Stahl, Chemie und Elektrotechnik. Deutschland entwickelte sich innerhalb weniger Jahrzehnte von einem eher rückständigen Staat zu einer der führenden Industriemächte der Welt.

Die ökonomische Basis der Gesellschaft verschob sich damit entscheidend: Kapitalakkumulation, Fabriksystem und Großindustrie verdrängten die kleingewerbliche und handwerkliche Produktion. Nach marxistischer Terminologie führte dies zur verstärkten Polarisierung der Klassen, da einerseits die Bourgeoisie als Trägerin des Kapitals und andererseits das Proletariat als lohnabhängige Klasse in wachsendem Gegensatz zueinanderstanden.

Landwirtschaft und Junkertum

Gleichzeitig blieb der Agrarsektor bedeutend. Besonders die ostelbischen Junker – Großgrundbesitzer mit feudalen Traditionen – hielten an ihrer ökonomischen und politischen Macht fest. Durch Schutzzölle (etwa das „Schutzzollsystem“ von 1879) sicherten sie ihre ökonomischen Interessen und banden den Staat eng an ihre Klasse. Dies bedeutete, dass die kapitalistische Entwicklung im Kaiserreich nicht zur vollständigen politischen Hegemonie des Bürgertums führte, sondern von einem Bündnis zwischen Bourgeoisie und feudalem Adel geprägt war.

Das Kaiserreich war so geprägt durch eine ungleiche und kombinierte Entwicklung: Fortschrittlichste Industrialisierung traf auf reaktionäre Großgrundbesitzstrukturen.

Klassenstruktur im Kaiserreich

Die Bourgeoisie

Die kapitalistische Klasse bestand aus Großindustriellen, Bankiers und Unternehmern, die die Produktionsmittel kontrollierten. Sie profitierte massiv vom Aufschwung der Industrie und von der imperialistischen Expansion nach außen. Politisch blieb sie jedoch in einer ambivalenten Position: Sie war zwar ökonomisch dominierend, aber nicht in der Lage, die politische Herrschaft vollständig an sich zu reißen. Stattdessen arrangierte sie sich mit den feudalen Kräften, die weiterhin Staat, Militär und Verwaltung prägten.

Dieses Arrangement spiegelt die relative Schwäche der deutschen Bourgeoisie wider, die es vorzog, ihre Profite im Bündnis mit den Junkern und unter dem Schutz des Obrigkeitsstaates zu sichern, statt eine offene bürgerlich-demokratische Revolution wie in Frankreich durchzusetzen.

Das Kleinbürgertum

Neben der Großbourgeoisie existierte ein breites Kleinbürgertum: Handwerker, kleine Händler, Beamte, kleine Angestellte und akademische Berufe. Diese Gruppe befand sich im Spannungsfeld zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Marxistisch betrachtet fungierte das Kleinbürgertum oft als sozialer Puffer, dessen Schwanken zwischen Reaktion und Fortschritt die Stabilität des Kaiserreichs mitbestimmte.

Das Kleinbürgertum litt zunehmend unter der Konkurrenz der Großindustrie und entwickelte oft ressentimentgeladene Haltungen – ein Element, das später auch den Nährboden für nationalistische und antisozialistische Tendenzen bildete.

Das Proletariat

Die am schnellsten wachsende Klasse war das industrielle Proletariat. Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter strömten in die Fabriken der Großstädte, wo sie unter harten Arbeitsbedingungen, niedrigen Löhnen und fehlender sozialer Absicherung lebten.

Nach Marx war das Proletariat die historische Trägerklasse des Fortschritts, da es durch seine Stellung im Produktionsprozess die Möglichkeit zur revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft besaß. Im Kaiserreich entwickelte sich die Arbeiterklasse zu einer zunehmend bewussten Kraft, organisiert in Gewerkschaften und in der Sozialdemokratie (SPD).

Die Lebensrealität des Proletariats war von Entfremdung, Unsicherheit und Repression geprägt – zugleich aber auch von wachsendem Klassenbewusstsein, das sich in Streiks, Demonstrationen und der Kulturbewegung der Arbeiter ausdrückte.

Das Landproletariat

Neben den Industriearbeitern existierte ein bedeutendes Landproletariat, bestehend aus Tagelöhnern und abhängigen Kleinbauern. Diese Gruppe war ökonomisch schwach und politisch wenig organisiert. Ihr Schicksal verdeutlicht die ungleiche Modernisierung des Reiches, da im Osten Deutschlands feudale Verhältnisse weiterbestanden.

Politisch-ökonomische Rahmenbedingungen

Verfassung und Staat

Das Kaiserreich war formal ein Bundesstaat, tatsächlich aber ein von Preußen dominierter Obrigkeitsstaat. Der Reichstag wurde zwar gewählt, besaß aber nur begrenzte Kompetenzen. Die eigentliche Macht lag bei Kaiser, Reichskanzler und Militär.

Im Staat wurden die klassenmäßigen Interessen der herrschenden Klassen – des Bündnisses von Bourgeoisie und Junkertum – repräsentiert. Das allgemeine Wahlrecht für Männer (ab 25 Jahren) war insofern ein Paradox: Es ermöglichte den Aufstieg der SPD zur Massenpartei, ohne dass diese real an der Regierung beteiligt werden konnte. Der Staat neutralisierte den Druck der Arbeiterklasse durch Repression (z. B. Sozialistengesetze 1878–1890) und durch Zugeständnisse wie Bismarcks Sozialgesetzgebung.

Militarismus und Imperialismus

Militär und Bürokratie waren tragende Säulen des Staates. Der Militarismus diente nicht nur der äußeren Expansion, sondern auch der inneren Disziplinierung. Marxistisch analysiert war der Imperialismus die höchste Stufe des Kapitalismus, in der Monopole, Banken und Industrie verschmolzen und aggressive Außenpolitik notwendig machten.

Das Kaiserreich war ein Paradebeispiel dieser Entwicklung: Kolonialexpansion, Flottenbau und aggressive Außenpolitik standen im Dienst der Bourgeoisie, die neue Märkte und Rohstoffe benötigte.

Repression und Integration der Arbeiterbewegung

Die Sozialdemokratie entwickelte sich trotz Unterdrückung zur stärksten Partei im Reichstag. Marxistisch gesehen spiegelte dies den wachsenden Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit wider. Gleichzeitig jedoch wurde die SPD durch den Parlamentarismus und durch revisionistische Strömungen in ihrer revolutionären Stoßkraft abgeschwächt.

Die Bourgeoisie und der Staat betrieben eine Doppelstrategie: Einerseits Unterdrückung, andererseits Integration durch Sozialgesetze. Dies entsprach einer hegemonialen Strategie, um die Klassengegensätze zu entschärfen, ohne sie aufzulösen.

Widersprüche und Dynamik der Klassenverhältnisse

Die Klassengesellschaft des Kaiserreichs war von strukturellen Widersprüchen geprägt:

  1. Industrialisierung vs. Feudalismus – die hochentwickelte Industrie stieß auf einen Staat, der von feudalen Traditionen dominiert blieb.
  2. Bourgeoisie vs. Proletariat – der grundlegende Antagonismus der kapitalistischen Produktionsweise verschärfte sich durch die soziale Not der Arbeiterklasse.
  3. Demokratisches Wahlrecht vs. obrigkeitsstaatliche Verfassung – die politische Form verhinderte eine tatsächliche demokratische Machtübernahme durch die Mehrheit.

Diese Widersprüche erzeugten Spannungen, die sich in sozialen Konflikten, Streiks, politischen Krisen und letztlich im Ersten Weltkrieg entluden.

Zusammmenfassung

Die Klassengesellschaft des Kaiserreichs lässt sich aus marxistischer Perspektive als hybride Formation begreifen: Einerseits hochentwickelter Kapitalismus, andererseits feudale Rückständigkeit. Diese Kombination führte zu einer spezifischen politischen Konstellation, in der die Bourgeoisie ökonomisch dominierte, aber politisch im Bündnis mit dem Junkertum agierte.

Die zentrale Dynamik war der wachsende Antagonismus zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Trotz Repression und Integration gelang es der Arbeiterbewegung, zu einer mächtigen Kraft zu werden. Der Staat diente als Instrument zur Stabilisierung der herrschenden Klassen, konnte die strukturellen Widersprüche jedoch nicht dauerhaft auflösen.

Die ökonomische Expansion, der Militarismus und der Imperialismus waren Versuche, diese Widersprüche hinauszuschieben – sie führten jedoch letztlich in die Katastrophe des Ersten Weltkriegs und zur revolutionären Krise 1918/19.

In marxistischer Terminologie war das Kaiserreich daher eine Gesellschaft, deren Basis und Überbau in scharfem Widerspruch zueinander standen: eine kapitalistische Produktionsweise, eingezwängt in monarchisch-feudale Strukturen, die durch den Klassenkampf in ständiger Spannung gehalten wurde.

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