Geschichtsbewusstsein

Geschichtsbewusstsein ist der „Inbegriff all der Tätigkeiten des menschlichen Bewußtseins, in denen Vergangenheit gedeutet wird, um Gegenwart zu verstehen und Zukunft zu erwarten.“
Jörn Rüsen

Sinnbildung über Zeiterfahrung

Detlef Endeward (08/2025)

Geschichtsbewusstsein ist die Fähigkeit, gegenwärtige gesellschaftliche Zustände als zeitgebunden zu begreifen und aus der Deutung von Vergangenheit Orientierung für Gegenwart und Zukunft zu gewinnen. (Vgl. Lange, 2004)

Geschichtsbewusstsein verknüpft also Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftserwartung.

Durch Geschichtsbewusstsein wird Geschichte aus einer reinen Rückschau gelöst und als Denktätigkeit der Gegenwart verstanden. Vergangenheit ist nicht nur Rekonstruktion, sondern immer auch ein Bild, das sich Menschen von ihr machen.

Ziel ist eine Kompetenz, die hilft, zeitliche Veränderungen zu verstehen und daraus Handlungsperspektiven abzuleiten. Historisches Denken „macht aus Zeit Sinn“ und transformiert Zeitzusammenhänge in Sinnzusammenhänge.

Historisches Erzählen (nach J. Rüsen)

Im Konzept des Geschichtsbewusstseins ist das historische Erzählen die zentrale Denkoperation, die den eigentlichen Transformationsprozess leistet: Ausgangspunkt sind Erinnerungen und Deutungen der Vergangenheit. Historisches Erzählen ist also die Grundoperation, die Erfahrungen der Vergangenheit so zu deuten, dass daraus Zukunftsperspektiven entstehen.

Verzeitlichung bedeutet dann, diese nicht isoliert zu betrachten, sondern in Beziehung zu Gegenwart und Zukunft zu setzen.

Historisches Erzählen ordnet Ereignisse, Erfahrungen und Entwicklungen so, dass aus bloßen Zeitabfolgen Sinnzusammenhänge entstehen – also Deutungen, die Orientierung geben. Erst durch diese narrative Strukturierung wird Geschichte zu einem Werkzeug, mit dem Handlungsoptionen für die Zukunft abgeleitet werden können.

Kurz gesagt: Historisches Erzählen ist das „Bindemittel“, das Zeit in Bedeutung verwandelt – ohne diese erzählerische Leistung blieben Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unverbunden nebeneinanderstehen.

Historisches Lernen entwickelt Sinnbildungskompetenzen und eine mentale Struktur, die Vergangenheitserinnerung mit Lösungen für gegenwärtige Probleme verknüpft.

Die abgekürzte Rede vom „Geschichtsbewußtsein“ oder von der „Geschichtsvorstellung“ in der Gesellschaft könnte die Tatsache verdecken, daß es gewiß vorherrschende Ten­denzen der Erklärung und Wertung von Vergangenheit gibt, daß aber neben oder unter diesen sich ablösenden Tendenzen, die meist nur wenige, allerdings für das Selbstver­ständnis wichtige Züge der Geschichte in ihrer Weise deuten, eine Fülle unterschiedlicher, häufig kontroverser, unvollständiger, punktueller und rudimentärer Formen von Ge­schichtsbewußtsein vorhanden sind, Bewußtseinsfetzen, ein Flickenteppich gleichsam mit vielen Löchern. Dies alles wechselt nach Zeiten und Systemen.

Man weiß, in welcher Weise herrschende Tendenzen des Geschichtsverständnisses kompri­miert, verallgemeinert und benutzt werden können, politisches Handeln und Denken, wenn nicht zu bestimmen, so doch zu legitimieren. Aber selbst in Zeiten und Gesell­schaften mit weitgehender Meinungslenkung durch offizielle Geschichtsdeutung, durch gesteuerten Unterricht, gesteuerte Kunst und Literatur kann eine Einheitlichkeit und Ge­schlossenheit der Geschichtsvorstellung allenfalls an der Oberfläche und für kurze Zeit erreicht werden. Es scheint vielmehr so, daß, je schärfer der Versuch der Vereinheit­lichung der Geschichtsvorstellung wird, um so extremer die Gegenbilder ausfallen: das Erscheinen des Buches von Solschenizyn „August 1914″ ist eins unter vielen Beispielen. Der Zustand des Geschichtsbewußtseins in der Gesellschaft ist in höchstem Maße be­zeichnend für die soziale, politische und geistige Verfassung, in der sich diese Gesellschaft befindet. Für die Didaktik des Geschichtsunterrichts ist dieser Hintergrund des gesell­schaftlichen Geschichtsbewußtseins deshalb wichtig, weil aus ihm heraus, bewußt oder unbewußt, die Entscheidungen über Inhalte und Ziele des Unterrichts tagtäglich fallen.


Auszug aus: Karl-Ernst Jeismann: Didaktik der Geschichte: Das spezifische Bedingungsfeld des Geschichtsunterrichts, in: Geschichte und Politik. Didaktische Grundlegung eines kooperativen Unterrichts. Geschichte – Politik, Studien zur Didaktik Band  1, Hrsg. Von Günter C. Behrmann I Karl-Ernst Jeismann /Hans Süssmuth, Paderborn 1978, S. 55

Für die Begründung einer Didaktik des Geschichtsunterrichts ist von Bedeutung, in welcher Weise sich im Geschichtsbewußtsein der Gesellschaft und also auch im eigenen Ansatz der Didaktik des Unterrichts die Deutung von Geschichte verbindet mit gegen­wärtigem Selbstverständnis und mit Zukunftserwartungen und -projektionen. Gegen die Behauptung dieses Zusammenhanges gibt es zwar unter den Historikern heftigen Widerstand. Geschichte, so heißt es, habe es zu tun mit der Vergangenheit und lediglich mit ihr. Diese Ansicht beruht indessen auf einer Einäugigkeit. Ihre partielle Richtig­keit liegt darin, daß sich die Aussagen der Geschichtswissenschaft und des Geschichts­unterrichts stützen müssen auf die methodische Aufarbeitung der Zeugnisse der Ver­gangenheit. Sobald in diese methodische Arbeit Parteilichkeit oder auch nur vorgefaßte Meinung unkontrolliert oder gar manipulierend hineinwirken, sobald Wünsche, Hoff­nungen, Absichten, die außerhalb des Interesses der Wahrheitsfindung liegen, den Prozeß der Suche nach Erkenntnissen unkontrolliert oder gar, als „erkenntnisleitende Interessen“ bewußt eingesetzt, bestimmen, das Ergebnis vorprogrammieren, beginnt nicht mehr ein wissenschaftlicher Prozeß, sondern ein Prozeß der Täuschung — sowohl der Selbst­täuschung wie der Täuschung anderer.

Gegenüber didaktischen Konzepten, die ihrerseits einäugig auf handelnde Eingriffe in Gegenwart und Zukunft abstellen, ist diese Abgrenzung notwendig; das ändert aber nichts daran, daß die Aufarbeitung der Vergangenheit in aller methodischen Rationalität dennoch immer verpflichtet bleibt der Frage nach dem Selbstverständnis jeder Gegenwart und den Möglichkeiten, die sie für die kommende Geschichte birgt.

Man darf sich nicht täuschen lassen von einem hoch entwickelten Forschungsbetrieb, der auf den ersten Blick den Eindruck erwecken könnte, daß er lediglich nach seinem eigenen System der Wahrheitssuche Fragestellungen provoziere und Antworten erarbeite. Die Geschichte der Geschichtswissenschaft zeigt, daß die großen Impulse der Forschung bis­weilen sehr unmittelbar, häufig aber vermittelt aus Erkenntnisinteressen der jeweiligen Gegenwart kamen. Bis heute kennzeichnen die großen Auseinandersetzungen in der Geschichtswissenschaft zugleich auch unterschiedliche Positionen der Selbstvergewisserung, der Standortbestimmung der Gegenwart. Um so bedeutsamer, wichtiger und erhellender ist dieser Zusammenhang von Geschichtswissenschaft und Gegenwartsproblematik gerade dann, wenn er nicht in einer kurzschlüssigen Aktualisierung, sondern durch die metho­dische Disziplin der Forschung hergestellt wird, die im Rahmen „relevanter“ Fragestel­lungen ihrer eigenen „Logik“ folgt11.

Sehr viel deutlicher und greller ist der Gegenwartsbezug historischer Aussagen im vor-oder außerwissenschaftlichen Bereich. Hier ist das Grundmuster des Zusammenhangs von Vergangenheitsdeutung, Selbstverständnis der Gegenwart und Zukunftserwartung am deutlichsten zu fassen, in uralten Geschichtsmythen und -Visionen ebenso wie in zeitge­nössischen Berufungen auf die Geschichte. Geschichte wird aktualisiert, wo es gilt, poli­tische Entscheidungen zu begründen oder zu bekämpfen, Zukunft zu gestalten. Dichtung, politische Literatur, politische Rhetorik sind voll von diesen Bezügen. Herodots Ge­schichtsschreibung, das Alte Testament, Vergils Aeneis, die großen Weltchroniken des Mittelalters, Geschichtslegenden wie die vom Kaiser Friedrich im späten Mittelalter — säkularisierte Eschatologien — sind ältere Beispiele, die den Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als konstitutiv für umfassende Geschichtsvorstellungen zeigen. Er herrscht auch in engeren, pragmatischen Bereichen. Die berühmte „Konstan­tinische Schenkung“ — die Geschichte der Urkundenfälschungen überhaupt — gehört hierher, die „Entdeckung“ des deutschen Mittelalters im 19. Jahrhundert im Zeichen des gewünschten neuen Reiches nicht minder. Ist man erst einmal auf diesen Zusammenhang aufmerksam geworden, entdeckt man ihn fast überall im Umgang mit der Geschichte12. Wie die Vergangenheit ist die Zukunft uns nur als Horizont der Vorstellung zugänglich, allerdings ohne die Möglichkeit der methodischen Kontrolle — als Wunsch oder Furcht, als Erwartung, Berechnung, Planung, Voraussage. Die Vorstellung davon, was jetzt oder in Zukunft sein wird oder sein solle, bestimmt häufig das Bild der Vergangenheit; das eigene Gegenwartsverständnis schafft sich seinen historischen Wertungshorizont als Be­gründung für Entscheidungen und Handlungen. Das läßt sich nicht nur an politisch so bedeutsamen Beispielen zeigen wie der Weiterentwicklung der Marxschen Lehre durch Lenin in eine Richtung, die seinem politischen Wollen innerhalb der Gegebenheiten ent­sprach, in einem industriell schwach entwickelten Land ohne bedeutendes Industrieprole­tariat eine Revolution in Gang zu setzen: der These, daß die Kette des Imperialismus an ihrem schwächsten Glied reißen müsse; das gilt auch für weitab von unmittelbarer Politik liegende, scheinbar mit der Gegenwart nicht zusammenhängende historische Erinnerung. Man braucht nur die modernen historischen Ausstellungen zu betrachten; gegenwärtiges Verständnis von politischen und sozialen Strukturen zeigt sich überall in der Akzent­setzung solcher Darbietungen. Hier läßt sich unmittelbar der Prozeß fassen, der jede Didaktik der Geschichte aufs höchste interessieren muß: Vergewisserung über die Ver­gangenheit erfolgt im Horizont des Interesses an der Gegenwart und im Hinblick auf die Zukunft.

Aber die Wirkungsrichtung verläuft auch umgekehrt. Geschichtliche Vorstellungen be­einflussen politisches Entscheiden oder soziales Verhalten. Es gibt Vorstellungsmuster, die sich unterhalb des bewußten Reflexionsprozesses „vererben“, sich durch sozial-psychologische Mechanismen aufladen und virulent werden, wenn die Verhältnisse es ermöglichen. Als historisches wie sozialpsychologisches Syndrom ist der Judenhaß in der europäischen Geschichte ein deutliches Beispiel; alle „Erbfeindthesen“ zeigen formal die gleiche Figur. Es gibt aber auch die durch bewußte Reflexion und Deutung gehenden Auseinandersetzungen mit der Geschichte, welche rationale politische Entscheidungen begründen. So galt für den Diplomaten des 19. Jahrhunderts es als selbstverständlich, die politische Geschichte seit dem Westfälischen Frieden in ihrem diplomatischen Aspekt genau zu kennen; das Vorstellungsmuster des europäischen Gleichgewichts als des histo­risch überlieferten und bewährten Systems prägte weithin ihre Interessenkombinationen. Ein letztes Beispiel sei erwähnt, das zeigt, wie scheinbar längst vergangene und die heutige Welt nicht mehr bestimmende Ereignisse aus politischem Gegenwartsinteresse plötzlich wieder wichtig werden. Augsteins Buch über Friedrich II. stellt die geschicht­liche Betrachtung bewußt in den Dienst der gegenwärtigen Selbstverständigung: „Ist die Zukunft machbar, solange die Vergangenheit nicht denkbar wird?“ Er will einer zäh sich haltenden Legende,  einem Bewußtseinsstand in  der  Gegenwart  entgegenwirken.

„Daß der Erste Weltkrieg von Thomas Mann mit Friedrich-Glocken eingeläutet, der Zweite von Josef Goebbels mit Friedrich-Parallelen abgeklopft wurde, ist das wohl Zufall?“ Augstein weiß um den Unterschied zwischen der Wirklichkeit und der Legende („was die Deutschen aus Friedrich gemacht haben, war sicherlich schlimmer als alles, was Friedrich aus den Deutschen gemacht hat“) und will Legenden zerstören, deren Wirkung in der Gegenwart er hoch einschätzt: „gern hätte er das Buch ein Jahr später erscheinen lassen — aber das tolle Jahr 1968 hat ihn verleitet, das Mitbringsel seines Abstiegs zu den Vätern auf beiden Seiten der nur physisch weggeräumten Barrikaden bekanntzu­machen“13.

In diesem Zusammenhang stehen auch, solange es einen staatlich geförderten, gelenkten und beaufsichtigten Geschichtsunterricht gibt, die unterschiedlichen Inhalte und Ziel­setzungen dieses Unterrichts. Dieser Grundzusammenhang ist das häufig unerkannte Muster, in dem die verschiedensten Formen der Rezeption der Vergangenheit stehen und in dem didaktische Grundentscheidungen fallen.

Aufgabe einer Didaktik der Geschichte ist es, diesen Zusammenhang, hier vorerst hypo­thetisch als Grundfigur aller Bemühungen um Geschichtsverständnis behauptet, genauer zu untersuchen — auf den verschiedensten Ebenen, in seinen verschiedenen Inhalten und Argumentationsfiguren.

Anmerkungen
11
Th. Nipperdey, (Anm. 10) a. a. O., S. 589, „Die Soziologie der Wissenschaft und der For­schung ersetzt nicht deren Logik“. Vgl. als jüngste wissenschaftliche Kontroversen dieser Art die Diskussion um H. U. Wehler, Das deutsche Kaiserreich 1871—1918, Göttingen, 2. Auflage 1975 in „Geschichte und Gesellschaft. Jahresschrift für Historische Sozialwissenschaft“. 1 (1975) S. 539 ff. und 2 (1976) S. 125 ff. sowie E. Nolte, Deutschland und der kalte Krieg, München 1974 in HZ 221 (1975) S. 377 ff. und 222 (1976) S. 375 ff.

12Vgl.dazu die noch unübertroffenen Reflexionen R. Wittrams, Das Interesse an der Geschichte, Rötungen (1958) 2. Auflage 1963, S. 6 ff.; s. S. 119 den Hinweis auf S. A. Kaehler, der 1955 auf en „optativischen“ Grundzug des vorwissenschaftlichen Geschichtsinteresses aufmerksam gemacht hat. S. auch ders., Zukunft in der Geschichte, Göttingen 1966.

13 R. Augstein,  Preußens  Friedrich und  die  Deutschen,  Frankfurt   1971   (Fischer  Taschenbuch 1212), S. 7 ff.


Auszug aus: Karl-Ernst Jeismann: Didaktik der Geschichte: Das spezifische Bedingungsfeld des Geschichtsunterrichts, in: Geschichte und Politik. Didaktische Grundlegung eines kooperativen Unterrichts. Geschichte – Politik, Studien zur Didaktik Band  1, Hrsg. Von Günter C. Behrmann I Karl-Ernst Jeismann /Hans Süssmuth, Paderborn 1978, S. 55-58

Geschichtsbewusstsein

Materialistisches Geschichtsverständnis

Utopiefähigkeit

Einbindung in das Gessamt modell

Die Bedeutung historisch-politischer Filmbildung 

Die abgekürzte Rede vom „Geschichtsbewußtsein“ oder von der „Geschichtsvorstellung“ in der Gesellschaft könnte die Tatsache verdecken, daß es gewiß vorherrschende Ten­denzen der Erklärung und Wertung von Vergangenheit gibt, daß aber neben oder unter diesen sich ablösenden Tendenzen, die meist nur wenige, allerdings für das Selbstver­ständnis wichtige Züge der Geschichte in ihrer Weise deuten, eine Fülle unterschiedlicher, häufig kontroverser, unvollständiger, punktueller und rudimentärer Formen von Ge­schichtsbewußtsein vorhanden sind, Bewußtseinsfetzen, ein Flickenteppich gleichsam mit vielen Löchern. Dies alles wechselt nach Zeiten und Systemen.

Man weiß, in welcher Weise herrschende Tendenzen des Geschichtsverständnisses kompri­miert, verallgemeinert und benutzt werden können, politisches Handeln und Denken, wenn nicht zu bestimmen, so doch zu legitimieren. Aber selbst in Zeiten und Gesell­schaften mit weitgehender Meinungslenkung durch offizielle Geschichtsdeutung, durch gesteuerten Unterricht, gesteuerte Kunst und Literatur kann eine Einheitlichkeit und Ge­schlossenheit der Geschichtsvorstellung allenfalls an der Oberfläche und für kurze Zeit erreicht werden. Es scheint vielmehr so, daß, je schärfer der Versuch der Vereinheit­lichung der Geschichtsvorstellung wird, um so extremer die Gegenbilder ausfallen: das Erscheinen des Buches von Solschenizyn „August 1914″ ist eins unter vielen Beispielen. Der Zustand des Geschichtsbewußtseins in der Gesellschaft ist in höchstem Maße be­zeichnend für die soziale, politische und geistige Verfassung, in der sich diese Gesellschaft befindet. Für die Didaktik des Geschichtsunterrichts ist dieser Hintergrund des gesell­schaftlichen Geschichtsbewußtseins deshalb wichtig, weil aus ihm heraus, bewußt oder unbewußt, die Entscheidungen über Inhalte und Ziele des Unterrichts tagtäglich fallen.


Auszug aus: Karl-Ernst Jeismann: Didaktik der Geschichte: Das spezifische Bedingungsfeld des Geschichtsunterrichts, in: Geschichte und Politik. Didaktische Grundlegung eines kooperativen Unterrichts. Geschichte – Politik, Studien zur Didaktik Band  1, Hrsg. Von Günter C. Behrmann I Karl-Ernst Jeismann /Hans Süssmuth, Paderborn 1978, S. 55

Für die Begründung einer Didaktik des Geschichtsunterrichts ist von Bedeutung, in welcher Weise sich im Geschichtsbewußtsein der Gesellschaft und also auch im eigenen Ansatz der Didaktik des Unterrichts die Deutung von Geschichte verbindet mit gegen­wärtigem Selbstverständnis und mit Zukunftserwartungen und -projektionen. Gegen die Behauptung dieses Zusammenhanges gibt es zwar unter den Historikern heftigen Widerstand. Geschichte, so heißt es, habe es zu tun mit der Vergangenheit und lediglich mit ihr. Diese Ansicht beruht indessen auf einer Einäugigkeit. Ihre partielle Richtig­keit liegt darin, daß sich die Aussagen der Geschichtswissenschaft und des Geschichts­unterrichts stützen müssen auf die methodische Aufarbeitung der Zeugnisse der Ver­gangenheit. Sobald in diese methodische Arbeit Parteilichkeit oder auch nur vorgefaßte Meinung unkontrolliert oder gar manipulierend hineinwirken, sobald Wünsche, Hoff­nungen, Absichten, die außerhalb des Interesses der Wahrheitsfindung liegen, den Prozeß der Suche nach Erkenntnissen unkontrolliert oder gar, als „erkenntnisleitende Interessen“ bewußt eingesetzt, bestimmen, das Ergebnis vorprogrammieren, beginnt nicht mehr ein wissenschaftlicher Prozeß, sondern ein Prozeß der Täuschung — sowohl der Selbst­täuschung wie der Täuschung anderer.

Gegenüber didaktischen Konzepten, die ihrerseits einäugig auf handelnde Eingriffe in Gegenwart und Zukunft abstellen, ist diese Abgrenzung notwendig; das ändert aber nichts daran, daß die Aufarbeitung der Vergangenheit in aller methodischen Rationalität dennoch immer verpflichtet bleibt der Frage nach dem Selbstverständnis jeder Gegenwart und den Möglichkeiten, die sie für die kommende Geschichte birgt.

Man darf sich nicht täuschen lassen von einem hoch entwickelten Forschungsbetrieb, der auf den ersten Blick den Eindruck erwecken könnte, daß er lediglich nach seinem eigenen System der Wahrheitssuche Fragestellungen provoziere und Antworten erarbeite. Die Geschichte der Geschichtswissenschaft zeigt, daß die großen Impulse der Forschung bis­weilen sehr unmittelbar, häufig aber vermittelt aus Erkenntnisinteressen der jeweiligen Gegenwart kamen. Bis heute kennzeichnen die großen Auseinandersetzungen in der Geschichtswissenschaft zugleich auch unterschiedliche Positionen der Selbstvergewisserung, der Standortbestimmung der Gegenwart. Um so bedeutsamer, wichtiger und erhellender ist dieser Zusammenhang von Geschichtswissenschaft und Gegenwartsproblematik gerade dann, wenn er nicht in einer kurzschlüssigen Aktualisierung, sondern durch die metho­dische Disziplin der Forschung hergestellt wird, die im Rahmen „relevanter“ Fragestel­lungen ihrer eigenen „Logik“ folgt11.

Sehr viel deutlicher und greller ist der Gegenwartsbezug historischer Aussagen im vor-oder außerwissenschaftlichen Bereich. Hier ist das Grundmuster des Zusammenhangs von Vergangenheitsdeutung, Selbstverständnis der Gegenwart und Zukunftserwartung am deutlichsten zu fassen, in uralten Geschichtsmythen und -Visionen ebenso wie in zeitge­nössischen Berufungen auf die Geschichte. Geschichte wird aktualisiert, wo es gilt, poli­tische Entscheidungen zu begründen oder zu bekämpfen, Zukunft zu gestalten. Dichtung, politische Literatur, politische Rhetorik sind voll von diesen Bezügen. Herodots Ge­schichtsschreibung, das Alte Testament, Vergils Aeneis, die großen Weltchroniken des Mittelalters, Geschichtslegenden wie die vom Kaiser Friedrich im späten Mittelalter — säkularisierte Eschatologien — sind ältere Beispiele, die den Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als konstitutiv für umfassende Geschichtsvorstellungen zeigen. Er herrscht auch in engeren, pragmatischen Bereichen. Die berühmte „Konstan­tinische Schenkung“ — die Geschichte der Urkundenfälschungen überhaupt — gehört hierher, die „Entdeckung“ des deutschen Mittelalters im 19. Jahrhundert im Zeichen des gewünschten neuen Reiches nicht minder. Ist man erst einmal auf diesen Zusammenhang aufmerksam geworden, entdeckt man ihn fast überall im Umgang mit der Geschichte12. Wie die Vergangenheit ist die Zukunft uns nur als Horizont der Vorstellung zugänglich, allerdings ohne die Möglichkeit der methodischen Kontrolle — als Wunsch oder Furcht, als Erwartung, Berechnung, Planung, Voraussage. Die Vorstellung davon, was jetzt oder in Zukunft sein wird oder sein solle, bestimmt häufig das Bild der Vergangenheit; das eigene Gegenwartsverständnis schafft sich seinen historischen Wertungshorizont als Be­gründung für Entscheidungen und Handlungen. Das läßt sich nicht nur an politisch so bedeutsamen Beispielen zeigen wie der Weiterentwicklung der Marxschen Lehre durch Lenin in eine Richtung, die seinem politischen Wollen innerhalb der Gegebenheiten ent­sprach, in einem industriell schwach entwickelten Land ohne bedeutendes Industrieprole­tariat eine Revolution in Gang zu setzen: der These, daß die Kette des Imperialismus an ihrem schwächsten Glied reißen müsse; das gilt auch für weitab von unmittelbarer Politik liegende, scheinbar mit der Gegenwart nicht zusammenhängende historische Erinnerung. Man braucht nur die modernen historischen Ausstellungen zu betrachten; gegenwärtiges Verständnis von politischen und sozialen Strukturen zeigt sich überall in der Akzent­setzung solcher Darbietungen. Hier läßt sich unmittelbar der Prozeß fassen, der jede Didaktik der Geschichte aufs höchste interessieren muß: Vergewisserung über die Ver­gangenheit erfolgt im Horizont des Interesses an der Gegenwart und im Hinblick auf die Zukunft.

Aber die Wirkungsrichtung verläuft auch umgekehrt. Geschichtliche Vorstellungen be­einflussen politisches Entscheiden oder soziales Verhalten. Es gibt Vorstellungsmuster, die sich unterhalb des bewußten Reflexionsprozesses „vererben“, sich durch sozial-psychologische Mechanismen aufladen und virulent werden, wenn die Verhältnisse es ermöglichen. Als historisches wie sozialpsychologisches Syndrom ist der Judenhaß in der europäischen Geschichte ein deutliches Beispiel; alle „Erbfeindthesen“ zeigen formal die gleiche Figur. Es gibt aber auch die durch bewußte Reflexion und Deutung gehenden Auseinandersetzungen mit der Geschichte, welche rationale politische Entscheidungen begründen. So galt für den Diplomaten des 19. Jahrhunderts es als selbstverständlich, die politische Geschichte seit dem Westfälischen Frieden in ihrem diplomatischen Aspekt genau zu kennen; das Vorstellungsmuster des europäischen Gleichgewichts als des histo­risch überlieferten und bewährten Systems prägte weithin ihre Interessenkombinationen. Ein letztes Beispiel sei erwähnt, das zeigt, wie scheinbar längst vergangene und die heutige Welt nicht mehr bestimmende Ereignisse aus politischem Gegenwartsinteresse plötzlich wieder wichtig werden. Augsteins Buch über Friedrich II. stellt die geschicht­liche Betrachtung bewußt in den Dienst der gegenwärtigen Selbstverständigung: „Ist die Zukunft machbar, solange die Vergangenheit nicht denkbar wird?“ Er will einer zäh sich haltenden Legende,  einem Bewußtseinsstand in  der  Gegenwart  entgegenwirken.

„Daß der Erste Weltkrieg von Thomas Mann mit Friedrich-Glocken eingeläutet, der Zweite von Josef Goebbels mit Friedrich-Parallelen abgeklopft wurde, ist das wohl Zufall?“ Augstein weiß um den Unterschied zwischen der Wirklichkeit und der Legende („was die Deutschen aus Friedrich gemacht haben, war sicherlich schlimmer als alles, was Friedrich aus den Deutschen gemacht hat“) und will Legenden zerstören, deren Wirkung in der Gegenwart er hoch einschätzt: „gern hätte er das Buch ein Jahr später erscheinen lassen — aber das tolle Jahr 1968 hat ihn verleitet, das Mitbringsel seines Abstiegs zu den Vätern auf beiden Seiten der nur physisch weggeräumten Barrikaden bekanntzu­machen“13.

In diesem Zusammenhang stehen auch, solange es einen staatlich geförderten, gelenkten und beaufsichtigten Geschichtsunterricht gibt, die unterschiedlichen Inhalte und Ziel­setzungen dieses Unterrichts. Dieser Grundzusammenhang ist das häufig unerkannte Muster, in dem die verschiedensten Formen der Rezeption der Vergangenheit stehen und in dem didaktische Grundentscheidungen fallen.

Aufgabe einer Didaktik der Geschichte ist es, diesen Zusammenhang, hier vorerst hypo­thetisch als Grundfigur aller Bemühungen um Geschichtsverständnis behauptet, genauer zu untersuchen — auf den verschiedensten Ebenen, in seinen verschiedenen Inhalten und Argumentationsfiguren.

Anmerkungen
11
Th. Nipperdey, (Anm. 10) a. a. O., S. 589, „Die Soziologie der Wissenschaft und der For­schung ersetzt nicht deren Logik“. Vgl. als jüngste wissenschaftliche Kontroversen dieser Art die Diskussion um H. U. Wehler, Das deutsche Kaiserreich 1871—1918, Göttingen, 2. Auflage 1975 in „Geschichte und Gesellschaft. Jahresschrift für Historische Sozialwissenschaft“. 1 (1975) S. 539 ff. und 2 (1976) S. 125 ff. sowie E. Nolte, Deutschland und der kalte Krieg, München 1974 in HZ 221 (1975) S. 377 ff. und 222 (1976) S. 375 ff.

12Vgl.dazu die noch unübertroffenen Reflexionen R. Wittrams, Das Interesse an der Geschichte, Rötungen (1958) 2. Auflage 1963, S. 6 ff.; s. S. 119 den Hinweis auf S. A. Kaehler, der 1955 auf en „optativischen“ Grundzug des vorwissenschaftlichen Geschichtsinteresses aufmerksam gemacht hat. S. auch ders., Zukunft in der Geschichte, Göttingen 1966.

13 R. Augstein,  Preußens  Friedrich und  die  Deutschen,  Frankfurt   1971   (Fischer  Taschenbuch 1212), S. 7 ff.


Auszug aus: Karl-Ernst Jeismann: Didaktik der Geschichte: Das spezifische Bedingungsfeld des Geschichtsunterrichts, in: Geschichte und Politik. Didaktische Grundlegung eines kooperativen Unterrichts. Geschichte – Politik, Studien zur Didaktik Band  1, Hrsg. Von Günter C. Behrmann I Karl-Ernst Jeismann /Hans Süssmuth, Paderborn 1978, S. 55-58

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