Die Kamera als Interpret

Der folgende Beitrag ist den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Landesmedienstellen-Fortbildungsveranstaltung „Technische Entwicklung und Filmästehtik. Ein filmgeschichtlicher Rückblick“ als Begleitmaterial zum Vortrag und den dabei gezeigten Filmausschnitten mitgegeben worden. Er sollte – und soll auch heute, nach 30 Jahren – Denkanstöße für die eigenen Praxis vermitteln.

Detlef Endeward (2024)

Technische Entwicklung und Filmästhetik

Hans Hattop (1993)

Das Medium Fotografie, ebenso wie der auf fotografischen Reihenbildbelichtungen basierende Film und ihm folgend das Fernsehen, hat seinen technisch-gestalterischen Ursprung in der Abbildung von Realität. Gegenstände, die man „begreifen“ kann, werden mit Hilfe optischer Systeme, der Beleuchtung und lichtempfindlicher Materialien in einer zweidimensionalen Abbildung reproduziert. Die Abbilder zeigen demzufolge Ausschnitte der gegenständlichen Welt. Der Betrachter ist in der Lage, auf der Grundlage der Informationen, die das fotografische Abbild liefert, Rückschlüsse zu ziehen, bezüglich des Umfeldes, in dem sich der abgebildete Gegenstand befindet. Diese Eigenschaft fotooptisch hergestellter Bilder unterscheidet sie auf gravierende Weise von Bildern, die beispielsweise ein Maler geschaffen hat, denn diese Bilder sind vorrangig Produkte der Imagination des Künstlers und besitzen somit weit mehr Autonomie von jener Wirklichkeit, die sichtbar existiert. So käme wohl kaum jemand auf die Idee, die Bilder eines Salvador Dali über ihren Rahmen hinaus gedanklich-gegenständlich zu ergänzen. Diese Bilder sind in ihrer sichtbaren Realität ein geschlossenes Ganzes. Anders verhält es sich dagegen mit fotografischen Abbildern. Ein Erlebnis im Kino kann das in heiterer Weise belegen:

In den 60er Jahren saß ich im Kino neben einer älteren Dame, die in ihrer Jugend als Kindermädchen in Straßbourg gearbeitet hatte. Gezeigt wurde der Film DIE REISE IM BALLO. Aus dem Hubschrauber aufgenommen, war unter anderem eine Stadttotale von Straßbourg zu sehen. Erfreut erkannte die alte Frau die Stätte ihrer Jugend wieder. Auch ein Teil der Straße, in der sie gewohnt hatte, kam ins Bild. Die Frau beugte sich spontan vor, damit sie wie durch ein Fenster um die Ecke blicken könnte, in der Erwartung ihr Wohnhaus zu sehen. Sie musste über sich selbst lachen, als sie sich wieder der Realität des Kinos erinnerte.

Es führt hier zu weit, und möglicherweise ist das auch mehr die Aufgabe eines Psychologen, alle Bedingungen abzuwägen, die hier im Zusammenspiel zu dieser Reaktion der alten Dame führten. Eines jedoch erscheint mir sicher: Die gedankliche Verbindung des Abbildes mit einer sichtbaren Wirklichkeit, die zum Zeitpunkt der Aufnahme objektiv existiert haben muss, ist eine der wesentlichen Voraussetzungen für das Rezeptionsverhalten der Zuschauer bis zum heutigen Tage.

Die ästhetische Eroberung des Mediums Fotografie begann also mit der Abbildung von 0bjekten. Daraus ergab sich für das Verständnis der Bilder zunächst ein dokumentarer Ansatz. Das genügte jedoch den mit bildnerischen Ambitionen wirkenden Fotografen und Kameraleuten sehr bald nicht mehr, und sie begannen die 0bjekte vor der Kamera, ihrem gestalterischen Wollen entsprechend zu beeinflussen, oder das Aufnahmegerät entsprechend ihrer Idee zu manipulieren. Die Bezeichnung 0bjektiv für das zur Aufnahme benutzte Linsensystem ließ in seiner Mehrdeutigkeit die Übereinkunft wachsen, dass das so erzeugte Abbild objektive Realität wiederspiegele.

Die Ausprägung verschiedener Genres der Fotografie und Filmkunst änderte an dieser Bewertung durch den Zuschauer nichts Grundsätzliches, wenn auch die vermeintliche Authentizität des Mediums, im Sinne von Glaubwürdigkeit und Realitätsnähe in unterschiedlichem Maße für die gestalterischen Absichten bemüht wurde. Der Authentieeffekt journalistischer Bildberichterstattung, oft verbunden mit einer, aus der 0perativität gewachsenen Bildstilistik wurde für die Filmkunst entlehnt. Entwicklungen, wie der italienische Neorealismus, die „Nouvelle Vague“ und der neue deutsche Film befinden sich in ihrer bildnerischen Gestaltung in der Nähe eines „Pseudodokumentarismus“. Natürlich hat die Nutzung dieses dokumentaren Stils zur Erhöhung der Glaubwürdigkeit, neben seiner positiven Wirkung auf den Rezeptionsvorgang, auch zum Verschleiß dieser Gestaltungsmittel geführt.

„Wenn die Kamera wackelt, sind die Bilder wahr.“ Diese These wurde bald fragwürdig.

Zudem gingen mit dem „dokumentaren Ansatz“ auch gestalterische Selbstbeschränkungen einher, die mitunter als Verarmung der bildnerischen Präsenz deutlich wurden. Wen wundert es also, wenn nach einer Epoche der optischen Selbstbeschneidung, ganz besonders aber der Vernachlässigung der Lichtgestaltung, wieder das Bedürfnis erstarkt, Film zu dem zu machen , was er schon bald nach seiner Erfindung sein wollte und wurde – ein visuelles Ereignis.

Dabei treten an der 0berfläche der Erscheinung orientierte Authentiebestrebungen in den Hintergrund, und es entsteht ein neues Selbstbewusstsein für eine subjektiv geprägte Interpretation der Wirklichkeit. Subjektive Interpretation der Wirklichkeit bedeutet im Idealfall die Visualisierung von Ideen – ähnlich der Arbeit eines Malers, die Vergegenständlichung von Imagination. Diesem Ideal stehen in der Medienpraxis einige Schwierigkeiten im Wege.

Arbeit in den audiovisuellen Medien ist Teamarbeit. Gestalterische Individualitäten müssen miteinander kommunizieren, müssen sich ergänzen und im Idealfall – sich gegenseitig steigern. Mit welchen Mitteln findet aber diese konzeptionelle Vereinigung statt? “Am Anfang war das Wort“.  Jede andere Form der Verständigung ist schon aus ökonomischen Gründen stark erschwert oder unmöglich. Wie aber verständigt man sich verbal über Visionen? Wären Bilder mit Worten eindeutig zu definieren, so wären die Bilder überflüssig. Vielleicht gerade deshalb, weil die Verständigung über die künstlerischen Absichten mit Hilfe des Wortes stattfindet, haben die Worte in den audiovisuellen Medien eine unangemessen große Bedeutung erlangt.

Mit der Entwicklung filmbildnerischer Ausdrucksmittel musste sich die Bildsprache Regeln und Gesetze schaffen, die – das liegt im Wesen einer Sprache – den Zeichenvorrat ordnen und Konventionen ermöglichen.

„Blau war die Nacht“ heißt es beispielsweise im Lied wie im Film gleichermaßen. Die Ästhetisierung eines technischen Fehlers als gestalterische Nutzung desselben, hat mit dem Zuschauer eine derartige Konvention ermöglicht.

Die produktive Qualität der Entwicklung der Bildsprache wird jedoch auch von einer Erstarrung in Stereotypen begleitet. Erfolgsmuster, in der Kadrierung der Bilder beispielsweise, werden gleichsam nach dem „Baukastenprinzip“ neuen Inhalten übergestülpt.

Die Massenmedien mit ihrer industriellen Produktionscharakteristik begünstigen diesen Vorgang. Insbesondere mit den seriellen Produktionsformen haben sich bildsprachliche Stereotype ausgeprägt, die ihren Ursprung in ökonomischen Zwängen haben. Soll dieser Absicht entsprochen werden, muss die handwerklich-künstlerische Arbeitsweise auf die Anwendung von Mitteln gerichtet sein, die Inhalte transportieren, ohne dafür eine Vielzahl komplizierter Arbeitsmittel und -schritte zu benötigen. „Es ist einfacher, den Hergang einer Schlacht in Worte zu fassen, als ihn in Bildern vorzuführen.“

Diese Erkenntnis hat dazu geführt, sich von dem ursprünglich mit dem Stummfilm entstandenen Ehrgeiz, Ideen zu visualisieren, abzuwenden und sich wieder stärker auf die verbale Artikulation von Ideen zu besinnen. Was ist nun in dieser Konstellation aus dem Gebrauch visueller Gestaltungsmittel geworden? Anstatt, dass die Bilder zum Träger der Inhalte bestimmt sind, werden sie illustrativ eingesetzt; an Stelle der visuellen Übertragung von Handlungsabläufen und der damit zu beobachtenden Entwicklung von Haltungen bei den handelnden Figuren, bekommt man gezeigt, wer etwas wie beschreibt und damit seine Haltungen artikuliert, ohne sie in Handlungen zu beweisen. Das entspricht allerdings auch einer weitest gegebenen Alltagserfahrung. Im täglichen Leben ist ja das Missverhältnis zwischen Reden und Taten etwas Normales.                                                                                

Der Fernsehzuschauer wird deshalb diese Darbietungsform von Inhalten, die in ihrer Konstruktion nicht allzu weit von seinen Alltagserfahrungen entfernt sind, als natürlich empfinden. Es klingt polemisch, doch die Vermutung ist naheliegend, dass die Medien mit dazu beitragen, dass das Missverhältnis zwischen Reden und Tun in der Gesellschaft wächst. Die Art, wie Politik in den AV-Medien sich präsentiert, bestärkt diesen Verdacht.

Doch zurück zum Gebrauch der Bilder in den AV-Medien. Wer an der Tendenz der Verbalisierung in den AV-Medien zweifelt, dem empfehle ich beim Ansehen einer ihm vertrauten Fernsehsendung den Ton abzuschalten und zu überprüfen, inwieweit sich ihm der Inhalt aus den Bildern erschließt.

Nun wäre es sicher ungerecht, die Verbalisierung der Inhalte grundsätzlich zu verdammen. Der Fernsehjournalismus, die Talkshow und viele Spielarten der Unterhaltung leben im starken Maße vom gesprochenen (oder auch gesungenen) Wort; als Ausdruck der Entstehung von Gedanken oder als Bekenntnisse zur persönlichen Haltung.

Zunehmenden Einfluss auf Programmgestaltung und Rezeption gewinnen Gestaltungsweisen der Werbung. Der Umgang mit Attraktionen sowie die Reduktion der bildnerischen Zeichen auf das scheinbar wesentliche, führen bei Übernahme dieser Gestaltung in andere Programmformen zu fragwürdiger Simplifizierung.

Nicht übersehen werden sollte, dass in diesem Genre der Medienkunst Authentizität im Sinne von Wirklichkeitswiderspiegelung kaum gegeben ist. Glücklicherweise stellt sich das Verhalten des Rezipienten zunehmend darauf ein, dass er es bei Werbung mit modernen Formen des Märchen s zu tun hat, dass hier Wirklichkeit zu einem bis in seine Substanz hinein virtuell manipulierten und ästhetisch modellierten Angebot gemacht wird.

Je offensiver und erfolgreicher werbeästhetische Gestaltungsraster werden, desto stärker ist ihr Einfluss auf andere Genres der audiovisuellen Medien.

So kann der dokumentare Programmbeitrag, will er in der Programmeinheit mit Werbespots, Musikvideos und anderen Programmformen, die zunehmend auf Animation statt auf Information basieren, bestehen, kaum noch die Gestalt tiefgründiger Erörterungen annehmen. Er wird sich rhythmisieren, wird mit seinem Szenenwechsel, seinem Wechsel von optischen und akustischen Schwerpunktsetzungen eine Annäherung an den Werbespot suchen. Im fiktionalen Bereich ist seit längerem eine durch ökonomische Zwänge ausgelöste Entwicklung zu beobachten. Komplizierte szenische Arrangements können nicht mehr die Masse der Bilder prägen. Vielmehr werden sie nur dann geschaffen, wenn ihre „Kostbarkeit“ auch für den Zuschauer offensichtlich und spektakulär ist. Die Verfolgungsjagden, die Stunts, die Crashs und die erlesenen Schauplätze werden in das Programm eingelagert, um die Aufmerksamkeitskurve ansteigen zu lassen. Begleitet wird dieser Gebrauch der Bilder von einer Verknappung des Informationsangebotes als „erzähltechnisches Prinzip“. Sachverhalte werden vereinfacht beschrieben und ästhetisch dergestalt modelliert, dass der Zuschauer (ohne allzu große Mühe) die Zusammenhänge im eigenen Kopf herstellen kann. Das gibt ihm das Gefüh1 „Mitspieler“ zu sein – sich produktiv in die Kommunikation einzubringen.

Problematisch an diesem Vorgang ist, dass er von den Rezipienten zu selten als das begriffen wird, was er ist: Ein Spiel. Meist basiert die Rezeption auf der unzutreffenden Annahme (die ihren Ursprung zu nicht geringem Anteil aus dem Charakter des fotografischen Abbildvorganges bezieht) eines starken Bezuges zur Wirklichkeit. Mit der Möglichkeit der computergenerierten Bildgestaltung, dem Mediamix, der erheblichen Erleichterung optischer Kombinationen durch den Einsatz elektronischer Bildmischer und der damit zunehmend einfacher werdenden Kombination unterschiedlichster Bildquellen scheint es unabdingbar, ein neues Medienverständnis zu entwickeln. Positiv ausgedrückt, geht es um die Umbewertung eines Informationssystems in ein Kommunikationssystem. Der Authentieeffekt, der das bisherige Medienverständnis prägte, wird auf den Bereich eingegrenzt werden, in dem er auch weiterhin Geltung behalten sollte: In der Bildberichterstattung.

Es wird bei der starken Neigung, dieses Genre attraktiv zu machen, schwer genug sein, Glaubwürdigkeit zu erhalten. Beispiele, wie jüngst in Rostock, wo, wie man hörte, ein News-Team für seine Kamera Jugendliche animierte, Nazi-Parolen zu schreien, sind nicht nur dem Authentieeffekt abträglich, sie stellen auch die ethisch-moralische Kompetenz des Mediums in Frage.

Die technische Revolution auf dem Gebiet der Generierung von Bildern schafft andererseits die Voraussetzungen für eine bildnerische Freiheit, die der mit konventionellen Techniken arbeitende Kameramann bisher nicht haben konnte. Konsequenter als je zuvor können bewegte Bilder Ausdruck der Imagination ihrer Schöpfer werden analog der gestalterischen Freiheit eines Malers.

Die Rolle des Subjekts bei der Interpretation der Wirklichkeit wird in ihrer Bedeutung gestärkt. Die AV-Medien können in ihrem Wirklichkeitsbezug (mit Ausnahme des journalistischen Arbeitsfeldes bei konsequenter Verfolgung dieses Gedankens) nur noch als Vermittler einer subjektiven Wahrheit, der Wahrheit des Autoren oder Autorenteams, Geltung besitzen.

Das muss nicht nur als Verlust verstanden werden, denn der Autor (oder auch das Team) tritt damit aus der Scheinobjektivität heraus und bekennt sich zu seiner Weltsicht.


Hans Hattop: Die Kamera als Interpret. Materialien zur Fortbildungsveranstaltung der Landesmedienstelle Niedersachsen „Technische Entwicklung und Filmästhetik. Ein filmgeschichtlicher Rückblick“ am 09.08.1993, Hannover 1993

Zur Entstehung der Mediengesellschaft

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