Die Effizienz von Medien unterschiedlicher Gestaltung

Zur näheren Bestimmung des Themas

Manfred Bönsch (1991)

Da das Thema in der obigen Formulierung breit und breit und umfassend angelegt ist, ist zunächst einmal eine nähere Bestimmung oder Eingrenzung vorzunehmen. Im Folgenden ist die Rede von den Hardware-Varianten Videoband und 16mm-Streifen und ihrem Software-Äquivalent Film, das seinerseits durch unterschiedliche Nutzung der Ton-Bild-Sprache mannigfache Konstruktionen bzw. Kompositionen entwickelt hat, wie wir sie mit Begriffen wie Spielfilm, Filmdokumentation, Fernsehfeature und Unterrichtsfilm beispielsweise zu fassen versuchen, wenngleich eine erschöpfende Systematik nie so richtig gelungen ist. In die Überlegungen werden nicht einbezogen der Arbeitsstreifen (8-mm-Film) und die auditiven Medien, die wir über gesendete Beiträge (z.B. als Schulfunksendungen) oder auf Tonbändern, Schallplatten unterschiedlicher Art zur Verfügung haben.

Eingefügte Hinweise

Ich darf aber wenigstens darauf hinweisen, dass der Arbeitsstreifen, obwohl er in seiner Bedeutung stark verloren hat, in bestimmten Bereichen (z.B. Sport, Naturwissenschaften) recht sinnvolle Funktionen erfüllen könnte. Und ich möchte gern intensiv daran erinnern, dass die auditiven Medien gerade auch für das hier zur Rede stehende Thema „Zeitgeschichte“ große Bedeutung haben kann. Die medienspezifischen Chancen, die sich über das Hören, das Zuhören ergeben, scheinen mir in einer Zeit, in der das Bild dominiert, stärker zu sein, als wir das gemeinhin tun. Das Zuhören ist ja in sehr grundsätzlicher Weise eine zwischenmenschliche Kategorie, deren Kultivierung es ständig bedarf und die in verschiedener Hinsicht mehr aufschließen und vermitteln kann, als es das Zugucken, das Zusehen schafft. Die Antennen, die der Mensch zu seiner Umwelt hin hat, sind jedenfalls Auge und Ohr. Es wäre schon lohnend, sich auf einer künftigen Jahrestagung einmal den auditiven Medien gezielt zuzuwenden.

Der Problemrahmen       

Das Thema „Zeitgeschichte im Film,‘ ist in folgenden Problemrahmen zu stellen:

I Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen heute

Wenn man die Chancen von Bildungsprozessen heute richtig verstehen will, muss man sich wohl zu allererst einiger Gegebenheiten erinnern, die das Großwerden in gesellschaftlichen Verhältnissen heute bestimmen.

Kindheit und Jugend sind zunächst einmal Lebensphasen mit unerhörten Chancen. Das Versorgtsein, das Nicht-arbeiten-müssen, das Aufwachsen-können in gegenüber der Erwachsenenwelt quasi exterritorialen Lebensräumen kann man als unerhörte Chancen gegenüber dem Aufwachsen in anderen Ländern und Erdteilen verstehen. Freilich ergeben sich sofort die „Aber“. Die Erwachsenenwelt schließt auch von vielem aus, besonders, was die Arbeitswelt anbelangt. Der Handlungsspielraum und die Bewegungsvielfalt sind stark eingegrenzt. Was ergibt sich schon an existentiellen Erfahrungen in Bezug auf Natur etwa, an sinnvoller Mitarbeit, in der Gestaltung der Lebensverhältnisse, an Herausforderungen an Kreativität, Phantasie, Gestaltung. Konsum herrscht vor. Fertigprodukte bestimmen Kleidung, Spielzeug, Lernen, Unterhaltung, Ferien. Alles ist eigentlich geregelt. Bleibt die Ersatzwelt der Medien, die Spannung, Herausforderung, Lebensbewältigung, Geburt wie Tod, Arbeit wie Abenteuer professionell aufbereitet anbietet. Das Wort Postmans vom Verschwinden der Kindheit meint diesen Entwicklungstrend. Man braucht ein Fernsehgerät und einen Sessel, dann ist für das Wochenende das Wichtigste gelaufen. Und wenn viele Grundschulkinder heute über 20 Stunden pro Woche Fernsehen konsumieren, dann ist das Leben in einer Ersatzweit schon so weit fortgeschritten, dass man eigentlich langsam an eine Abschaffung der Medien denken müsste als an ihre weitere Nutzung,

Diese Entwicklung hat natürlich die Mediennutzung in der Schule und in der außerschulischen Bildungsarbeit stark beeinflusst. Ich werde darauf noch zurückkommen.

Was die Jugendlichen anbelangt – und sie sind für das Thema ‚Zeitgeschichte‘, interessanter -, möchte ich in Anlehnung an Fend die Metapher von den Generationsgestalten nutzen, um auf den Sachverhalt wechselnder Einstellungsmuster aufmerksam zu machen. So könnte man ganz grob die Generation der 50er Jahre, der 60/70er Jahre und der heutigen Generation unterscheiden.

Während in den 50er Jahren eher konservative – Disziplin, Einstellungsmuster vorherrschten Gehorsam, Leistung, Pflichterfüllung waren verbunden mit einer ungebrochenen Autoritätsorientierung entsprechend der allgemeinen Aufbaumentalität vorherrschend -, haben wir in den 60er/70er Jahren die Protestgeneration erlebt oder selbst repräsentiert – Zivilisationskritik, Autoritätsabrechnung, der Wille zur Veränderung der Welt, Selbst- und Mitbestimmung, steigende Autonomiewerte, alternative Lebensweisen, Bedürfnisexplikation waren vermehrt zu beobachten -, sind heute unter der Überschrift Postmoderne wieder andere Einstellungsmuster zu konstatieren: Ambivalenzen wie mehr Selbständigkeit, aber auch mehr Unterordnung, Aufklärungsverdruss einerseits und Individualisierung moralischer Entscheidungen andererseits, Einordnung in die Welt eher als Gestaltungswille, Orientierung am Heute mehr als am Gestern oder Morgen, Theorieekel stärker als Hoffnung auf Rationalität, hoher Erwartungsdruck der Erwachsenen und weniger Gegenwehr, Anpassung und Gleichgültigkeit gegenüber der Schule und Rückzug ins Private. Globale Machbarkeit kollidiert mit individueller 0hnmacht, die anspruchsvolle Realität wird mitunter als kränkend erfahren und nicht als Herausforderung.

Und so kann man als Hochschullehrer z. B. heute wieder so gut wie alles von den Studenten/innen verlangen, ohne dass groß nachgefragt wird. Das ist alles in allem ja auch viel bequemer! Die Frage aber ist: wird etwa mit dem gewissermaßen endlosen Medienkonsum eine unkritische Konsumhaltung als Lebenshaltung mit verursacht, die auch eine kritisch-aufklärerische Arbeit mit Medien erstickt? An die Produzenten gewendet: Hat Medienproduktion eher konsumtiven als kritisch-aufklärerischen Charakter?

II Geschichte/Zeitgeschichte als Lebensdimension

Anthropologisch und gesellschaftlich gesehen ist die Geschichte des Menschen und seiner Lebensverhältnisse eine Lebensdimension, die dem Hier und Heute und dem Morgen erst ihren Sinn gibt. Der geschichtslose Mensch lebt in massiv verkürzten Lebenshorizonten. Sowie das Individuum seinen Lebenssinn in seiner Biographie findet, wenn es ihn dann überhaupt sucht, so findet ein Staat, ein Volk, ein Gemeinwesen seine Begründung in Traditionen, Gegentraditionen, Kodifikationen (Grundgesetz z. B.), dies aber immer in bewusster Erinnerung an sein Woher und in dauernder Reflexion des Wohin (so weiter oder so in Zukunft auf keinen Fall). Da aber Geschichte individuell oder im zeitgeschichtlichen Bezug an sich nicht verfügbar ist – Was wissen wir genauer über den Mauerbau? – Was wissen 15jährige über das Zustandekommen der EG z. B.? – ist Wissen über Geschichte immer eine Konstruktion, deren ebenfalls historisch bedingtes Zustandekommen ausdrücklich mit bedacht werden muss. Beschäftigung mit der Geschichte kann sich nicht als schlichte Weitergabe verstehen, sie ist eigenständige Auseinandersetzung mit dem „historischen Stoff“.

Sinnvolle Beschäftigung mit Geschichte kann sich sicher nicht einseitig auf den Aufbau kognitiver Strukturen, also den Aufbau von Einsichten und Wissen richten. Sie muss den emotionalen Bereich von Lernenden ernst nehmen. Dies aber ist leicht gesagt und schwer getan. Trockenes Wissen rührt nicht stark an. Betroffenheiten sind wichtig, aber Emotionen geraten schnell in die Nähe von Vorurteilen und tief liegenden Grundbefindlichkeiten, wie wir es bei aktuellen Problemen (Vereinigung in Deutschland, Asylrecht, Frauenfragen, Migration, auch Drittes Reich) erleben. So scheint mir das Problem, seine Identität als Deutscher zu finden, ungelöst zu sein im Vergleich etwa zu dem nationalen Bewusstsein in Frankreich. Und solange diese nicht gefunden ist, etwa mit der Einstellung eines 16jährigen zu dokumentieren, der sagt: „Was geht mich das Dritte Reich an?“, sind Didaktik und Methodik der Geschichte noch im Vorhof ihrer Bemühungen.

Hier stellt sich ebenfalls wieder die Frage nach den Chancen und Grenzen der Medien. Wenn ich beim Anschauen der Holocaust-Sendereihe Abscheu empfinde, habe ich dann schon historisch denken gelernt? Und versteht der Zuschauer die Erpressung zu Liebesdiensten historisch oder einfach als eine Geschichte dieser Menschen? Andererseits: Verstehe ich Geschichte im Grunde nicht nur über Menschen und ihre Schicksale? Die Odyssee der Sinti und Roma bleibt ein Abstraktum, evtl. sogar emotional kontraproduktiv besetzt durch das Urteil, dass sie ja doch nur alle stehlen, wenn ich nicht intensiver von konkreten Menschen höre oder sie sogar erlebe.

Und da sind ja auch noch die Medienproduzenten und die „Botschaft“, die sie vermitteln wollen. Wenn sie ihre Botschaft für wichtiger halten als den gedachten Adressaten, kommt es schnell zu Brüchen. Um es konkret zu machen: So sehr ich im Prinzip den Moderationstexten und Kommentaren von Klaus Bednarz zustimme, da bleibt in der Regel ein Rest: Ich möchte mich von dem Eiferer Bednarz nicht ganz vereinnahmen lassen. Und so beobachte ich an mir immer wieder eine emotionale Sperre für kognitiv gesehen Richtiges. Manchmal ist die Sperre mächtiger als das Argument, ein Sachverhalt, der sich leicht verallgemeinern lässt.

 

III Der Begriff von aufklärerischem Lernen

DieseÜberlegungen führen strikt zu dem Lernbegriff, den wir verwenden wollen und an dem sich auch Medien, hier Filme, orientieren müssen.

Wollte man Lernen verstehen als Rezeption von ich-gleichgültigem Wissen in Gestalt von Sachverhalten, die in vielen Büchern und Texten abgelagert sind, wären wir schnell bei der Art von Schulwissen, das man sich nur zum Zweck, einigermaßen annehmbare Zensuren und Abschlüsse zu erwerben, aneignet und dann möglichst schnell wieder vergisst.

Ich plädiere für einen Lernbegriff (Bildungsbegriff), der Individuen hilft, zu sich selbst, zu anderen, zur eigenen Lebenswelt, zur eigenen Geschichte und zur Zukunft ein Verhältnis zu finden, der aufklärerischen Charakter trägt und Mitverantwortung und Mitgestaltung ermöglicht. Das heißt, dass Lernen ermöglichen muss, individuelle und soziale Identität aufzubauen, die Spannungen positiv auszuhalten, die durch sichere Orientierung und immer wieder auftretende Desorientierung verursacht werden. Weltverstehen und Weltbemächtigung sind die beiden Grundkategorien, die Lernen für ein Individuum leisten muss. Ich muss meine Welt in ihren Grundstrukturen verstehen können – dies erfolgt durch Mitleben, viel Wissen erwerben, viel fragen und im glücklichen Fall durch vorgelebtes Leben, das 0rientierung gibt, mir aber den Aufbau meines eigenen Verhältnisses zu dieser Welt lässt. Geschichtliches Denken und Wissen haben dabei die Aufgabe, das Alltagsbewusstsein, das aus der Alltagspraxis erwächst, zu erweitern. Sie sind dann bedeutsam, wenn sie eine größere Erklärungskraft und Erklärungsreichweite haben als das Alltagsbewusstsein. Andererseits dürfen sie nicht zur Entfremdung von den eigenen Erfahrungen und Problemen führen, bzw. müssen sie im kritischen Fall mindestens Brücken bauen zwischen dumpfem Alltagsbewusstsein und als fremd, befremdend empfundener historischer Aufklärung. Wenn eine erste Identität nur beschädigt würde, würde sich wohl die Unfähigkeit verstärken, sich mit der Geschichte der Deutschen zu identifizieren, über sie sprechen zu können – ein Sachverhalt, der unter uns sehr verbreitet zu sein scheint.

Auch Weltbemächtigung im Sinne des verantwortlichen In-der-Welt-seins, des Stellungnehmens, des Aktivwerdens, des sich letztlich Engagierens, des Mitgestaltens – ich könnte einen Bildungsbegriff, der nur individuumsorientiert und nicht gleichzeitig sozialverpflichtend verstanden wird, nicht folgen – bedarf massiv eines entwickelten Geschichtsbewusstseins. Dies in mehrfacher Hinsicht: Zum einen als Möglichkeit, historisches Wissen als kollektive Erfahrung handlungsleitend zu verwenden (Fehler nicht zu wiederholen), zum anderen als Erklärungshilfe für aktuelle Einstellungen anderer (z. B. das Selbstverständnis von Rumäniendeutschen), zum dritten als zentrale Bemühung um Selbstvergewisserung, aus der sich Handeln begründen muss. Interindividuell gesehen besteht historisches Lernen aus intentional gesteuerten kollektiven Erinnerungsakten, die Sozialität schaffen, Gemeinsamkeiten schaffen, auch Legitimation für politische Entscheidungen. Demgegenüber ist das Vergessen das Abhandenkommen von bereits erworbener Erkenntnis und individuellem wie kollektivem Selbstverständnis.

IV Medien und ihre Funktionen

Der bisher entwickelte Problemrahmenerlaubt nun, Medien und ihre Funktionen zu erörtern. Dabei ist die erste Feststellung, dass die gelegentlich zu beobachtende Praxis, nach der medienimmanent analysiert wird, nichtausreichend. Ich bin ihr selbst früher in meinen Publikationen erlegen, wenn ich etwa Medien auf ihre Gestaltungsmittel (Realszenen, Zeichentrick, ‚Inserts‘, Kameraperspektiven, Montagetechniken), ihre Präsentationsmodi (Reportage, Feature, Quelle, Dokumentation, Augenzeugenberichte, Spielfilm), ihre ,,Verpackungsformen“ (Aufreißer, Spannungsmomente, Geschichten, schockierende Bilder und Szenen) und ihre potentiellen didaktischen Funktionen von Medium her gesehen, analysiert habe. Das alles ist zweifellos auch wichtig, aber eben noch nicht alles.

Ich gehe das Thema in folgenden Überlegungen an:

Geschichte/Zeitgeschichte ist nicht ohne weiteres verfügbar

Ein Spezifikum der hier zur Rede stehenden Lerninhalte ist: sie sind zunächst einmal nicht verfügbar. Sie sind Geschichte, Vergangenes. Geschichte lebt in unseren Gesprächen, Geschichten nicht über mäßig intensiv. Sie ist dauernd in der Gefahr, vergessen oder gar nicht gekannt zu werden. Und sie wird womöglich für den Alltag als gar nicht nötig angesehen. Der Prozess des Vergessens ist auch bei sehr naher Zeitgeschichte massiv. Wir leben nicht mit unserer Geschichte durch Tradition, Symbole, Erzählung, Feier und ständige Lektüre von historischen Texten, wie man es etwa in traditionellen jüdischen Milieus erleben kann.

Das heißt, dass die erste Aufgabe ist, Geschichte lebendig zu machen. Hier haben die Medien eine wichtige Funktion. Siekönnen, wie die nicht verfügbare ferne Welt in der Geographie oder direkt nicht auffindbare Welten von Tieren und Pflanzen in die Biologie, vergangene Welten lebendig vor Augen führen.

  • Der Spielfilm kann in den Geschichten von Menschen, ihrem Leben, ihren Auseinandersetzungen, ihrem Lebenswerk exemplarisch historische Szenerien, Atmosphären, Lebenswelten,-weisen,-ordnungen und-bedingungen anbieten. Die dramaturgischen Möglichkeiten erlauben eine besondere Dichte und Intensität der Darstellung, die Spielhandlungen aber können sich schnell von der historischen Wahrheit im Namen künstlerischer Freiheit entfernen.
  • Die historische Dokumentation kann 0riginalszenen, wie etwa das häufig gebrauchte und besprochene Beispiel der Goebbels-Rede, lebendig wiedergeben. Freilich hat das Beispiel seine Bedeutung nur, wenn der Kontext bekannt ist.
    Nach der bekannten Dependenz von Exemplar und 0rientierung kann entsprechende also ohne Vorbereitung die historische Dokumentation nicht ihren bildenden Wert entfalten.
  • Der Film als historische Quelle wird bei entsprechendem Material seine didaktisch-methodische Bedeutung erst noch entfalten müssen. NS-Wochenschauen etwa können Beleg und Material für forschendes Lernen sein. Da sie interpretiert werden müssen, ist bei der Arbeit mit Quellen die erkenntnisleitende Frage entscheidender Ausgangspunkt. Interesse und Frage müssen aus einem Arbeitskontext heraus entwickelt sein, wenn die Quellen ihre Bedeutung bei historischer Bildung haben sollen.
  • Das Fernsehfeature als zeitgeschichtlicher Beitrag wird in der Kombination von Ausgangsfrage, Belegen durch Dokumente und Reportage, durch Statement und Kurzvortrag, durch Augenzeugen-Interviews und Expertenbefragung größte didaktische Bedeutung haben können. Der Autor kann seine Botschaft als Information oder Belehrung so komponieren, dass das Feature quasi als Selbstläufer – ein alter Begriff aus der Filmdidaktik – fungieren kann. Man kann sich auf das Feature ohne größere Vorbereitung einlassen.
  • Mischformen kann man sich neben diesen Grundformen in verschiedener Weise vorstellen. Wie weit eine Hilfe für Lehr-/Lernprozesse dabei herausspringt, muss dann von Fall zu Fall geprüft werden.
Wie weit sind Lerngewinne kalkulierbar?

Als Didaktiker fragt man bei allen Medienangeboten nach den Lerngewinnen, die zu erwarten sein könnten. Generell wissen wir aus der Rezeptionsforschung, dass Erinnerungsleistungen sehr stark von den Rezipienten und ihren Vorkenntnissen und Erwartungshaltungen abhängen. Vom Autor intendierte Bedeutungen sind insofern nicht erkenntnisleitend.

Der Interessen- und Erfahrungshintergrund von Rezipienten und das diesen sehr stark bestimmende thematische Vorwissen sind entscheidender. Eine Untersuchung von Renckstorf (1980) über Erinnerungsleistungen bei Nachrichtensendungen sagt sogar, dass die Variable ,,Thema“ nur 25 % der Erinnerungsleistungen erklärt, die Variable “Darstellung“ nur 50 %.

Bei Spielfilmen ergibt sich eine spezifische Problematik. Obwohl Spielhandlungen, Spielszenen immer wieder als besonders interessant, motivierend, unterhaltend bezeichnet und entsprechend gewünscht werden, werden gleichzeitig Aussagewert und historische Authentizität relativ gering in ihrer Bedeutung eingeschätzt. Ein Spielfilm erhöht den Erlebniswert, in Bezug auf Wissen und Verstehen ist er weniger bedeutend (Nessmann, 1988). Spielhandlungen können geradezu vom eigentlichen Sachverhalt ablenken, wie ich es früher auch bei an sich gut gemachten Schulfunksendungen festgestellt habe. Es kann also eine Kollision zwischen den Intentionen der historischen Bildung und Machart eines Spielfilms vorliegen, so dass es notwendig werden kann, Lernintentionen in Bezug auf den Einsatz von Spielfilmen auf Atmosphärisches, Milieuschilderung, Lebensweltveranschaulichung, zeitgeschichtliche Denk- und Handlungsmuster am ehesten auszulegen wären und die vorlaufend entwickelten Rezeptionsschemata eine besondere Bedeutung bekommen.

Bei den sog. Realbildern in Dokumenten und Quellen steht ein Stück Wirklichkeit (0bjekte, Ereignisse, Handlungen) im Vordergrund. Zeichentheoretisch ausgedrückt handelt es sich um ikonische Darbietungen von Konkreta. (Boeckmann, 1984). Abstrakte oder komplexe Lehrinformationen werden, wenn überhaupt, in den Kommentar abgedrängt. Für das Behalten und Verstehen kann man dies als gravierende Schwäche ansehen. Neben der Moderation mit den Funktionen des Strukturierens, Erklärens, Begründens, Integrierens und Kommentierens der Montage, die ursprünglich nicht zusammenhängende Realbilder gedanklich verknüpfen, werden dann Visualisierungsformen wichtig, die in Gestalt von Standgraphiken, bewegten Computer- und Trickgraphiken, Schriftinserts, Einstanzungen von Zahlen, Zeichen, Symbolen und Begriffen sowie optisch-graphische Hervorhebungen auftreten können.

Hier ist das Fernsehfeature sicherlich in der günstigsten Position. Die deutliche Artikulation von Informationen, die Entwicklung von Hintergrund und Detail, die für Informationsaufnahme günstigste Schnelligkeit in der Darbietung sind wichtige Kriterien, wenn es um Informationen und nicht nur um emotional bestimmte Impressionen gehen soll. Wember hat Beispiele in Form eines sog. Optischen „Abstraktionsgeländers“ gegeben (Wember, 1983). Jedenfalls führen sog. Rätseleffekte eher zu Ablenkungen

Die Erörterungen haben sich längst auf die Frage zugespitzt, was Medien vom Lernenden verlangen, und wie sie in Lernprozessen über das, was ein Lehrender vorgibt, hinauszugehen vermögen. Medien sind eben nicht nur als Werkzeuge zu analysieren. Sie sind ein Konstrukt, das eine Botschaft, eine Information vermittelt und damit quasi Partner in Lernprozessen wird. Das im Symbolsystem, dem Code eines Mediums, in der Bildsprache Vermittelte wird nur in dem Maße wirksam, wie es mit den Decodierungssystemen von Rezipienten korreliert. Die pädagogisch-psychologische Wirkungsforschung ist daher längst von der sog. horse-race-Forschung abgerückt, bei der Medien experimentell gegeneinander ins Rennen geschickt wurden (Weidemann, 1986).

Der Lernkontext als entscheidender Ausgangspunkt

Wie effektiv ein Lernender mit Hilfe eines Mediums lernt, hängt nach der neueren pädagogisch-psychologischen Medienforschung vor allem von drei Faktoren ab:

  • von der Einstellung zum Medium, also der Bewertung des Mediums durch den Lernenden;
  • von den Fähigkeiten des Lernenden, die Symbolsysteme zu entschlüsseln, die das jeweilige Medium verwendet;
  • von der Verarbeitung der „Botschaft“, die der Lernende dem Medium entnimmt.

Zwar wird das Medium „Fernsehen“ häufig positiver als etwa ein Text eingeschätzt, man glaubt auch, erfolgreicher mit dem Medium „Fernsehen“ zu lernen, in Wahrheit wird mit dem Buch in Bezug auf harte „facts“ erfolgreicher gelernt, der Text wird aber weniger geliebt, weil er mehr Anstrengung verlangt. Fernsehen gilt eher als unterhaltend. Dass das Lesen von Texten erlernt werden muss, wird akzeptiert. Bilder glaubt man, ohne Lernvoraussetzungen „lesen“ zu können.

Anschaulicher Unterricht wird gern als non-plus-ultra des Lehrens angesehen, Erkenntnistheoretisch gesehen aber ist die große Frage, was einen Film anschaulich macht. Stellt er einen Sachverhalt exemplarisch dar, will er also mit seinen Mitteln systematisch belehren? Dann wäre der Filmemacher der Lehrer, dem man sich im unterrichtlichen Kontext ausliefert. 0der repräsentiert ein Film ein Stück Historie, dann bekommt er eine sinnvolle Funktion nur in einem vorher entwickelten Arbeitskontext mit entsprechendem Vorwissen, mit Fragestellungen an den Film und voraus entwickelten Suchinstrumenten (Was sagt der Film zu diesem Problem?). Diese könnten dann auch die Intentionen des Filmmachers aufdecken helfen. Die Doppelcodierung durch Bild und Sprache soll Behaltensleistungen zugutekommen. Sie wird aber erst wirksam, wenn die Verarbeitung intensiv genug ist, je mehr also der Lernende mit seinem kognitiven Apparat Informationen extrahieren und verarbeiten kann. Sonst bleibt das Filmansehen oberflächlich. Die Intensität hängt von der „visual literacy“ ab, den Fähigkeiten, die man zur Verarbeitung von bildhaften Informationen braucht.

So sind die Vorteile des Films/des Videos in den Punkten Aufmerksamkeitserzeugung, gefühlsmäßig positive Ansprache, leichtes Verstehen, Lernhilfe (sie kommen dem schlechten Leser entgegen), Verwendung aller gängigen Symbolsysteme (bewegte Bilder aller Realitätsstufen, Standbilder, Sprache gesprochen und geschrieben, 0riginalgeräusche, Musik, Fotografiermethodik) schnell zu relativieren mit den Fragen nach den vorhandenen/nicht vorhandenen Konzepten der „visual literacy“, den Konzepten der Informationsverarbeitung (wahrnehmungsleitende Schemata, Organisation von Wissen, Elaborationsstrategien, metakognitives Wissen, Tiefe bzw. Breite der Verarbeitung, Netzwerke zur Repräsentation u.a.m.), um der immer wieder geäußerten Vermutung zu begegnen, häufiges Film- und Fernsehen hielte von der Ausbildung formaler kognitiver Operationen ab, erziehe zu passivem, unkritischen Sehen, verdränge nur das Lesen!

Zusammenfassung

Ich formuliere abschließend Thesen für die weitere Behandlung der Thematik:

  1. Die Effizienz von Medien – hier Filme/Videos – hängt von positiven Antworten in Bezug auf drei Problembereiche ab:
    • Den sachstrukturellen Gegebenheiten des jeweiligen Sachgebietes, hier Zeitgeschichte. Die Zeitgeschichte als einer Lebensdimension gerade auch von Heranwachsenden kann nur rekonstituiert werden. Dies erfolgt über Sprache, Gesprochenes, Berichtetes, Dokumentiertes, Erzähltes und über mediale Repräsentation mit der besonderen Chance, Historisches lebendig zu machen durch Dokument, Quelle, Bildungsfeature und Spielhandlung.
    • Das jeweilige Produkt erklärt sich in der Regel nicht von selbst. Das heißt, es bedarf der metakognitiven Erläuterung des Produzenten in Bezug auf Intentionen, Konzept, Materialien, Exemplarität und 0rientierung, Chancen und Grenzen. Das aufklärende Produkt ist das Ziel!
    • Der Kontext der Bearbeitung ist vorlaufend zu bedenken. Wenn aufklärerisches Lernen die leitende Idee ist, sind die potentiellen Subjekte zunächst in den Stand zu setzen, soviel an Hintergrund und Vorwissen zu gewinnen, dass nicht abhängig vom Medium bleiben, sondern ein kritisch-konstruktives Verhältnis zum jeweiligen Film gewinnen können und gleichzeitig die Modi des Sehens und Hörens wie der Informationsentnahme bzw. der emotionalen Verarbeitung erwerben.
  1. Medienarbeit ist damit didaktisch gesehen nicht mehr nur vom Medium her möglich. Dies war alles in allem gesehen bisher zu stark im Vordergrund. Medienproduktion, -ankauf und -verleih liefen unter diesen Aspekten.
  2. Wichtiger und in den Vordergrund zu stellen ist künftige die Kontextarbeit. Diese ist in doppeltem Sinn zu denken:
    • Einmal muss der Kontext der Produktion sich erklären: Wann, warum und wie ist ein Film entstanden, was meint man gut zur Darstellung gebracht zu haben, wo liegen Probleme und evtl. Verkürzungen, welches war das leitende Erkenntnisinteresse und wie ist der wissenschaftliche Hintergrund zu beschreiben (fachwissenschaftliche und fachdidaktische Orientierung)? Grundlage dieser Forderung ist die Auffassung, dass sich kein Medium selbst erklärt. Begleitmaterialien sind häufig nur nachgehende Interpretation mit ergänzenden Arbeitshinweisen und Materialien. Die Produzenten erklären sich viel seltener.
    • Zum anderen ist der Kontext der Bearbeitung zu antizipieren. Der für eine Produktion „gedachte Rezipient“ mit seinem Vorwissen, seinen Vorurteilen, seiner notwendigen Vorarbeit und den von ihm zu verwendenden Rezeptionsschemata muss hinreichend deutlich beschrieben werden, wenn es wirklich zu zeitgeschichtlicher Bildungsarbeit kommen soll, um dem jeweiligen Nutzer (Schule, LehrerIn, Klasse) Hinweise für die zu schaffende Situation zu geben, die Medienarbeit erst sinnvoll macht. Gleichzeitig wären Be- und Verarbeitungsschemata sinn voll, um den Unterhaltungswert durch Bildungswert zu ersetzen. Insofern ist die alte Forderung nach einer Didaktisierung der Arbeit mit Medien auf ein besseres Niveau zu heben

Filmdidaktik

Originaltext

Manfred Bönsch: Die Effizienz von Medien unterschiedlicher Gestaltung. In: Zeitgeschichte im Film. Medienpädagogische Praxis in schulischer Bildung – Austausch mit Wissenschaftlern und Produzenten. (= Jahrestagung 1991 der niedersächsischen Bildstellenleiter vom 2. bis 4. September 1991 in Göttingen) Hrsg. von Detlef Endeward und Siegfried Schimkat für die Landesmedienstelle  im Niedersächsischen Landesverwaltungsamt, Hannover 1992. Hier S. 18-31

(Für die Web-Darstellung wurde die Orthographie aktualisiert)

Exkurs: Aktive Medienarbeit

In einem Exkurs möchte ich auf die Chance aktiver Medienarbeit wenigstens kurz hinweisen. Aktive Medienarbeit ist hier gemeint als eigenständige Produktion und Umgang mit Videofilmen. Dies ist ja auch nicht mehr ein ganz neues Desiderat der Medienpädagogik und -didaktik, in der Realisierung aber sicher alles in allem noch am Anfang.

Die grundlegende pädagogisch-didaktische Intention ist, über die Produktion von Videofilmen ein anderes Verhältnis zu den Inhalten der Bearbeitung zu gewinnen. Wer selbst etwas zur Darstellung bringen will, muss sich die Sache, um die es geht, besonders gut angeeignet haben. Produktion also als eine besonders intensive Form der Aneignung könnte die Signalformel sein. Und wenn Produkte zusätzlich Gebrauchswert bekommen – Lernen erfolgt ja häufig auf Tauschwertbasis: wer anständig arbeitet, bekommt auch eine akzeptable Note -, wird die Lernarbeit noch interessanter: eine Gruppe zeigt ihre Darstellung des Mauerbaus, eine Klasse macht eine Ausstellung zum Thema „Weimarer Republik“ mit Videopräsentationen, eine Klasse gestaltet einen Abend zum Thema „Golfkrieg“ mit Fernsehfeatures, die eigene Moderation, Kommentare und übernommene Fernsehberichte bzw. Teile von

ihnen beinhalten. Die methodischen Möglichkeiten sind gar nicht so eng zu sehen: eine eigene Kommentierung zu einer Dokumentation (mündlich oder auf Tonband gesprochen – der Ton der Dokumentation bleibt abgeschaltet), die eigene Videorecherche in Bezug auf historische Orte, Befragung von Zeitzeugen, die Verwendung von Fotografien u. a. m. könnten in hervorragender Weise die Verarbeitungsprozeduren produktiv anreichern. Die Studioproduktion in Gestalt einer Podiumsdiskussion, der Lehrer-Vortrag als Video-Information, das Schülerkino mit vorhandenen Produktionen, die aber selbständig eingeführt werden und damit einen Rezeptionsrahmen bekommen (Filmtage zu zeitgeschichtlichen Themen).

Die Frage ist, ob professionell gefertigte Halbfertigprodukte (Dokumentarszenen, Featureteile) für solche Eigenproduktionen angeboten werden könnten mit der erklärten Intention, Videomaterialien zur weiteren Bearbeitung zu liefern. Mit Texten und Textteilen machen wir das im Unterricht ja ständig in der Annahme, dass der Kontext der Bearbeitung jedem Teil/Fragment seinen Ort geben wird, Videoarbeiten könnten vieles im ursprünglichen Sinn des Wortes augenscheinlich machen! Die Be- und Verarbeitungsmodi könnten jedenfalls phasenweise eine eigene Qualität aufklärerischen Lernens ausmachen.

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