Der Hauptmann von Köpenick in Hannover
Produktion von DER HAUPTMANN VON KÖPENICK im Jahr 1906
Irmgard Wilharm (1991)
Ein spektakuläres Ereignis ganz anderer Art wurde auch im Film festgehalten, aber sozusagen als Dokumentarspiel. Am 16. Oktober 1906 ereignete sich in Berlin die bekannte Geschichte des Hauptmanns von Köpenick, die zur Vorlage für Zuckmayers Bühnenstück wurde. Der Schuster Wilhelm Voigt benutzte eine Uniform, um sich mit der notwendigen Glaubwürdigkeit und entsprechendem Nachdruck Personalpapiere zu beschaffen. Er wurde verhaftet und zunächst verurteilt, dann aber begnadigt. Der Stoff eignete sich für Karikaturen, Witzblätter und beißenden Spott und wurde auch von der Weltpresse aufgenommen. Am 18. Oktober 1906 wurde erstmals in Hannover darüber berichtet. Aus den zahlreichen Beiträgen der folgenden Tage sei ein Leserbrief vom 26. Oktober zitiert:
„Der Hauptmann von Köpenick identisch mit dem bekannten Hauptmann von Kapernaum! Endlich ist es gelungen – aber nicht der Berliner Kriminalpolizei – die Identität des Hauptmanns von Köpenick festzustellen. Man überzeuge sich davon in der Bibel und lese: Evang. Matth. Kap. 8, Vers 9. Der Hauptmann zum Bürgermeister: „Siehe, ich habe unter mir Kriegsknechte. Und wenn ich zu dem ersten sage: „Gehe hin!“, so geht er, und sageich zum andern: „Komme her“, so kommt er, und zum dritten: „Tue das“, so tut er es! Evang. Matth. Kap. 8, Vers 10. Der Hauptmann (für sich): „Wahrlich, ich habe noch niemals gefunden einen solchen Glauben!“
Solch ein Stoff reizte zur Verfilmung, vielleicht nicht zufällig in Hannover, wo der Spott über preußischen Gehorsam nicht schwerfiel. Der erste hannoversche Kinematographenhersteller und Filmemacher, der Civil-Ingenieur Carl Buderus, nahm sich der Geschichte an. Die Firma Buderus bestand als Elektrofirma seit 1887. Carl Buderus verkaufte die Firma 1900 an seinen Prokuristen und widmete sich seitdem nur noch der Kinematographie. Er baute Apparate nach dem System Lumiere (8) und drehte Filme, die zunächst hauptsächlich im Mellini-Theater vorgeführt wurden, später aber auch in die anspruchsvolleren großen Kinos kamen. 1908 ging Buderus nach Berlin, wo der Aufschwung des Films sich am schnellsten vollzog. Der Hinweis auf die Produktion von DER HAUPTMANN VON KÖPENICK erschien am 24. Oktober 1906 im Hannoverschen Tageblatt und liest sich wie eine besonders raffinierte Form der Werbung mit vorgeblicher Authentizität:
„Der falsche Hauptmann von Köpenick gab gestern in unserer Stadt eine Gastrolle. Nachdem er im Laufe des Morgens bereits an verschiedenen Stellen aufgetaucht war und auch die Grenadiere in Erscheinung getreten waren, zeigte er sich am Nachmittag gegen 4 Uhr plötzlich in der Wiesenstraße, von wo er sich nach der Maschstraße begab. In seiner Begleitung befanden sich auch ein Teil der übrigen Darsteller der Köpenicker Tragikomödie, Bürgermeister Dr. Langerhans, dessen Gattin, die Köpenicker Gendarmen und die Grendadiere mit aufgepflanztem Seitengewehr. In der Maschstraße wiederholte sich dann die vielbesprochene, belobte, bedauerte und in guten und schlechten Artikeln behandelte Affäre, die Köpenick weit über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt machte. Die Turnhalle in der Maschstraße wurde zum Rathaus in Köpenick, eine Droschke fuhr vor, die sich natürlich sofort einstellenden Zuschauer wurden von den beiden Gendarmen, die plötzlich aus der Halle traten, ziemlich energisch zurückgedrängt, zwei Grenadiere traten heraus, der Bürgermeister und seine Gemahlin folgten, beide stiegen in die Droschke, ein Soldat stieg zu dem Kutscher, ein zweiter nahm Platz auf dem Rücksitz der Droschke. Der Herr Hauptmann erschien auf der Bildfläche, in seinem Arm das versiegelte Säckchen mit dem erbeuteten Inhalt haltend. Während sich die Droschke rechts wandte, wandte er sich links und war wieder verschwunden. Aber nicht schnell genug, um nicht auf die Platte gebannt zu sein. Denn fürsorglich hatte man einen Apparat zur Aufnahme kinematographischer Bilder aufgestellt und Buderus waltete seines Amtes, um die ganze Sache getreulich festzuhalten. Wenn also auch die bisherigen Bilder, die die Verbrecheralben der verschiedenen Städte aufweisen, nicht besonders gut sind und das Auffinden des gerissenen Gauners erschweren, die gestern gemachte Aufnahme wird sicher gut werden. Der seines Amtes waltende Photograph war wenigstens der Ansicht. Das Publikum aber wird sich jedenfalls auch in einigen Tagen im Mellini-Theater davon überzeugen können, daß er recht hatte.“
Das konnte aber das Publikum nicht, jedenfalls nicht im Mellini-Theater. Vielmehr wurde am 1. November 1906 im Hannoverschen Tageblatt für das kleine Kino Welt-Theater, Nordmannstraße 4, angekündigt:
„Kinematographisches Institut „Komet“ gibt täglich von 3 bis 11 ununterbrochen Vorführung der lebenden Photographien. Neu eingetroffen: DER HAUPTMANN VON KÖPENICK. Sensationell! Das Programm ist im Schaufenster ersichtlich.“
Die Vorstellung des für damalige Zeit sehr langen Films von 20 Minuten (9) wurde schon nach wenigen Tagen von der Polizei verboten. Schon daß das Mellini-Theater, das regelmäßig Buderus‘ Filme als Abschlußnummer gab, den Film wider Erwarten nicht spielte, deutet auf Vorbehalte hin. (10)
Das ist auf den ersten Blick irritierend, weil der falsche Hauptmann in allen möglichen Formen auftauchte: als Wachsfigur im Panoptikum, als Kabarettnummer im Wintergarten oder als Assoziation in Glossen wie Ulenspiegels „Spiegelbilder“, in denen im Hannoverschen Tageblatt vom 4. November 1906 tiefsinnig über die beschleunigte Veränderung der Welt und die entsprechende Verwirrung der Geister nachgedacht wurde:
„… Heute aber, wo der Erdball von Telephonen und Telegraphen so überzogen ist wie eine Flasche der besseren Sorte von Spinnweben oder Anton von Werner und Max Liebermann von ihrer höheren Einsicht in den Dingen der Kunst, wo der Draht für die vielen Nachrichten schließlich nicht mehr ausreicht, so daß man notgedrängelt zur drahtlosen Teleflunkerei greifen mußte, da stoßen sich im Räume unserer Auffassungsgabe die Dinge so hart, daß man schließlich ziemlich konfus davon wird. Wenn zu gleicher Zeit überall eine Masse wichtiger Ereignisse sich ereignen und man bekommt die auf einmal vorgesetzt, so ist es kein Wunder, daß man schließlich nicht mehr genau weiß, ob das der falsche Hauptmann war, der seines Vaters Denkwürdigkeiten herausgab, oder ob Alexander von Hohenlohe den Bürgermeister von Köpenick entthronte…“. Die letzte Assoziation bezieht sich auf die damals umstrittene Herausgabe der Hohenlohe-Denkwürdigkeiten. Das hier karikierte Zeitgefühl der Verwirrung über die Häufung von sich überstürzenden Neuigkeiten wäre mit vielen zeitgleichen Quellen belegbar, auch mit solchen, die ausdrücklich auf die Gefahren des Kinos hinweisen:
„Das ist eben das Schlimme, daß wir jeden unausgesprochenen Wunsch des Publikums, auch den ausgefallendsten, mit Leichtigkeit erfüllen können. Wir kommen mit unserer Sujetwahl so recht der Minutenhast des arbeitsamen Publikums entgegen und daher die gewaltige, unaufhaltsame Sympathiezunahme der Menschen für den Kinematograph…“.(11)
Die Polizei muß in dem Film über den Hauptmann Gefahren ganz anderer Art gesehen haben. Offenbar erschien die durchaus sympathische Filmfigur als sehr viel gefährlicher als die Wachsfigur oder der kurze kabarettistische Auftritt. Der Film war eben beliebig wiederholbar, und seine Attraktivität nahm zu. Der Köpenick-Film ist – abgesehen von der politischen Komponente – auch einer der ersten, in denen eine längere, in sich geschlossene Geschichte erzählt wird. Das Publikum war anspruchsvoller geworden, das Kino wurde „feiner“ – und die Konkurrenz härter.
Kinoanfänge oder „Die Photographie in vollster Lebenstätigkeit“
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- Harter Konkurrenzkampf zu Beginn des 20. Jahrhunderts
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