Wochenend und schöner Schein

Die ,,folgenreichste Kreation“ des modernen Großstadtlebens ist „das Freizeit-Individuum,
der Wochenend-Mensch“, der Wochenend-Mensch, der die Behaglichkeit in der Entfremdung und den Komfort im Doppelleben entdeckt hat. Das Abendlard lernt die ersten Worte Amerikanisch, darunter eines, das für viele seinen Untergang symbolisiert: Weekend. Schon die Comedian Harmonists feiern seine Apotheose:

Wochenend und Sonnenschein
und dann mit dir im Wald allein,
weiter brauch ich nichts zum Glücklichsein
Wochenend und Sonnenschein…

Kein Auto, keine Chaussee
und niemand in unserer Näh.
Ganz tief im Wald nur ich und du
der Herrgott drückt ein Auge zu…“6

 

Peter Sloterdjik beschreibt die Veränderungen wie folgt:

,,Rückzug in die Freizeiten, moderne Abkehr von den Attributen der Moderne, Wochenendvitalismus und ein Hauch von sexueller Revolution. Wie selbstverständlich wird die Umfunktionierung des Waldes zum Erholungsgebiet für Großstädter vorausgesetzt; man stelle sich vor, wie nur eine Generation früher die Deutschen noch Waldmystik berieben hatten.

Instinktsicher bedienen die Erfolgsschlager der Zeit illusionistisch und ironisch zugleich die Freizeitmentalität der neuen urbanen Mittelschichten. Für sie soll die Welt rosa aussehen, und dafür drückt nicht nur der Herrgott ein Auge zu. Die Schlager gehören zu eirrcm weitgespannten Zerstreuungssystem, das sich mit Profit und Leidenschaft der Aufgabe widmet, die Freizeitwelten mit komfortablen und durchsichtigen Illusionen auszutapezieren.“7

Diese kultur- und gesellschaftskritische Analyse, die auf die zeitgenössischen Erkenntnisse Siegtied Kracauers und anderer verweist, üthematisiert die tiefgreiferden Veränderungen der Alltagswelt in der modernen Gesellschaft. Solche Einsichten in die inneren Zusammenhänge von moderner Arbeit und moderner Freizeit und die Auswirtungen auf Gesellschaft und Herrschaftsverhältnisse blieben meist den Intellektuellen vorbehalten. Die Menschen, die selbst mitten im Arbeitsleben steckten, betonten hingegen anderes: Ein neuartiges Doppelleben schien nun möglich zu sein, ein Arbeitsleben einerseits und ein Freizeitleben andererseits. Arbeitszeit und Freizeit traten in einen scheinbaren Gegensatz zueinander. und dabei wird die Freizeit mit der Sonnenseite des Lebens gleichgesetzt. Entfremdete und mechanisierte Arbeit wurden dadurch für viele subjektiv erträglicher. Neue Mentalitätsmuster bildeten sich heraus. Viele zeitgenössische Erwerbstätige faßten tatsächlich damals die Freizeit als Freiheit auf. So bemerkte ein l7jähriger Tischlerlehrling:

,,Wenn ich abends um 5 Uhr von der Arbeit komme, wasche ich mich, esse, und die
Freiheit fängt an.“8

Dabei wurde jedoch der Zusammenhang von Freizeit und Arbeitswelt noch nicht aus den Augen verloren. Je stäker die Arbeit als Last empfunden wurde, desto wertvoller erschien die Freizeit:

,,Endlich, nach langer Zeit kommt der ersehnte Feierabend heran. Alles rennt und freut sich, daß man aus dem ungesunden Fabrikraum herauskommt. Flugs wasche ich mich und nun geht es hinaus in die frische, freie Luft.“9

Der gleiche Gedanke, diesmal in Reimform:

,,Vorüber der Woche höllische Plage!
Jetzt kommen wieder zwei herrliche Tage!“10

Eine Textilarbeiterin berichtete:

,,Das Wort ,,Wochenende“ erweckt doch gewiß in jedem Arbeiter, in jeder Arbeiterin ein freudiges Gefühl. Sechs Tage für den Unternehmer geschaft, nun soll der Sonnabendnachmittag und Sonntag dem Arbeiter gehören! Wenn sich dieser auch keine Wochenend-Fahrten leisten kann, wie sie bei den ,,oberen Zehntausend“ üblich sind so läßt er sich dadurch seine Stimmung nicht verderben. Der Arbeiter sehnt sich nach Erholung! Sie wird ihm auch zuteil, wenn er seine Freizeit, in diesem Falle sein Wochenende, richtig ausnutzt.“11

Und schließlich noch ein Hinweis auf menschliche Selbstverwirklichung in der Freizeit:

,,Es ist die Vorfreude auf den Sonntag, wo man Mensch sein und seine Zeit einteilen
kann wie man will.“12

In der Freizeit konnte der Mensch am ehesten Mensch sein, in diesem zeitgenössischen Slogan drückte sich die Sichtweise der Behoffenen aus, nicht nur jene der Angestellten, sondem auch eines anwachsenden Teils der Arbeiterschaft. Hier konnten Arbeiterlnnen ihren proletarischen Lebensverhältnissen ein Stück weit entkommen, bis dann wieder die Woche begann und damit die Werktage mit ihrer oftmals entfremdeten Arbeit und ihren deutlich wahrnehmbaren Herrschaftsstrukturen.

Und wie stand es mit Konsum und Aneignung der neuen, auf viele Menschen so verführerisch wirkenden Massenfreizeitkultur, seien es Filme, Radiosendungen und Sportveranstaltungen oder Schallplatten, Illustrierte und Groschenromane? Von Zerstreuung und Passivität, von Illusion und Traumfabrik, von Sorgenbrecher und Fluchtdroge ist in der Literatur die Rede. Gewiß, diese Einschätzungen trafen sicherlich zu. Und doch genügen sie nicht. Differenzierungen sind notwendig. Machte es nicht einen Unterschied aus, ob man allein, in Familie oder mit Freunden einen der vielen Unterhaltungsfilme ansah, zum Boxkampf ging oder sich in den großen neuen Sportstadien Fußballspiele und Radrennen ansah? Was für die einen ein schöner Traum gewesen sein mag, war für die anderen vielleicht nur ein „Nebenbei-Vergnügen“, mehr Kommunikationsmttel und Diskussionsstoff als reiner Selbstzweck. Und wer sagt uns denn, daß an die Traumwelt auch immer geglaubt wurde? Was die Kulturindustrie den
Menschen in ihrer Freizeit vorsetzt, das wird „zwar konsumiert und akzeptiert, aber mit einer Art von Vorbehalt… Mehr noch vielleicht: es wird nicht ganz daran geglaubt.“13

Allerdings mußten Menschen erst lernen, mit diesen kulturindustriellen Massenangeboten umzugehen – wie übrigens auch die Sinnesorgane, die Augen mit der neuen visuellen Reizüberflutung, die Ohren mit Motorenlärm, Radiowellen und Lautspecheransagen, die Nase mit Benzingerüchen usw. Kurzum, die mentalen Veränderungen, die mit Entstehung und Entwicklung der Kulturindustrie, dem „Kettenhandel der Freude“ (Roth), der „Kommerzialisierung der Lebenslust“ (Kracauer), der ,,Revolution der Sinne“ (Selle) und den neuartigen Massenidolen einhergingen, können kaum überschätzt werden. So ist auch dem zeitgenössischen Soziologen Andries Sternheim zuzustimmen, der schon 1930 darauf hinwies, daß das Studium der einzehen Arten von Freizeitbetätigungen als ein ,,wichtiger Beitrag zur Aufdeckung der … Gefühls- und Denkwelt der modernen Arbeiter und Angestellten und der sie bedingenden Faktoren…“ angesehen werden könne.14

Bleibt hinzuzufügen, daß längst nicht alle Freizeitbetätigungen kommerzialisiert waren, zumindest nicht hochgradig. Viele Leute verbrachten ihre freie Zeit im Verein oder in der Familie zu Hause, im Schrebergarten15 oder auf der grünen Wiese. Tanzen und Sport erfreuten sich besonderer Beliebtheit. Neue Tänze und die Jazz-Musik aus den USA begeisterten Leute aus allen Schichten und führten zu einer Art Amerikanismus. Und noch nie zuvor gab es so viele Sportarten; zahlreiche Vereine boten konkrete Möglichkeiten, selbst aktiv zu werden, zu rudern oder zu schwimmen, Fußball oder Rugby zu spielen, um nur einige Beispiele zu nennen. Die Lebensreformbewegung veränderte außerdem die Einstellung zu Körper und Natur. Ursula A. J. Becher kommentiert

„Das war eine neue, befreiende Erfahrung für eine Generation, die durch die Tabuisierung der Sexualität und das Diktat einer den Körper verhüllenden und vergewaltigenden Mode ihrem eigenen Körper entfremdet worden war.“16

Damit sollte Schluß gemacht werden. Frei sein von allen Zwilngen – dieser Wunsch schien die Natur am ehesten zu erfüllen. Es kam zu einer Art Aufbruch in die Natur, d.h. zu Wanderung
und Zeltlager 17, zu Badestrand urd Ausflugslokal. Neben dem zeitlichen Doppelleben (Werktag und Wochenend) trat ein räumliches: das Hinter-sich-lassen der Großstadt, der Hinterhöfe und der verstaubten Straßen und ein Hinausdrängen in die scheinbare Gegenwelt, in die erholsame Natur, unter dem Moüo: „Ganz tief im Wald nur ich und du…“.

Es war überhaupt eine Zeit anscheinend doppelläufiger Entwicklungen. Einerseits wurde wachsender Autoritätsverlust innerhalb der Familie als krisenhafter Generationskonflikt oder gar als Zerfall der Familie wahrgenommen, andererseits war nicht von der Hand zu weisen, daß sich besonders in Arbeiterkreisen eine größere Familieorientiertheit bemerkbar machte, die sich in einem oftmals familienbezogenen Frcizeitverhalten ausdrückte. Vor allem hatte der Rundfunk „die Tendenz, das Familienleben des Arbeiters zu stärken“, während das Radio im Wirtshaus, aber vorallem Kino und Tanz das außerhäusliche Leben förderten.18 Ähnlich gegenläufig waren die Entwicklungstendenzen bei den Vereinen: So befanden sich die Arbeiterkulturvereine, z.B. Arbeiterturnvereine, auf dem absoluten Höhepunkt ihrer historischen Entfaltung,19 konnten über eine Million Menschen in ihrer Freizeit erfolgreich ansprechen; so gab es auch vielfältige Ansätze, die neuen Medien mit der Arbeiterbewegung zu verzahnen, sei es in einer Organisation wie dem Arbeiter-Radio-Bund“ sei es durch den sog. Arbeiterfilm oder die Arbeiterphotographie. Gleichzeitig begann jedoch die auf diesem Gebiete
agilere und finanzkräftigere Kulturindustrie das Fundament der Arbeiterkulturbewegung zu untergraben, fanden besonden junge un- und angelernte Arbeiter und Arbeiterinren die kommerzialisierten Freizeitangebote vielfach verlockender als das „Milieu“.20

Adelheit von Saldern (1991)


5 Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft, 2. Bd., Frantfurt 1983, S. 881.
6 Zitierrnach: ebda.
7 ebenda S.882.
8 zitiert nach: Detlev J. Peuken, Jugend zwischen Krieg und Krise. Lebenswelten von Arbeiterjungen in der Weimarer Republik, Köln 1987, S. 197.
9 Zitiert nach: ebda.
l0 Mein Arbeitstag – mein Wochenende, 150 Berichte von Textilarbeiterinnen, Berlin 1930, neu hrsg. von Alf Lüdtke, Hamburg 1991, S. 17.
11 Ebda., S. 44.
12 Ebda., S.57.
13 TheodorW. Adorno: Stichworte. Kritische Modelle 2, Frankfurt 1989, S. 66. Adorno gilt an sich als einer der schärfsten Kritiker der modemcn Kulturindustrie.
14 Andries Stemheim: Zum Problem der Freizeitgestaltung, in: Zeitschrift für Sozialforschung, Jg.l, 1932, S. 355.
15 Am Ende der Weimarer Republik gab es in Deutschland schätzungsweise 1,5 Millionen Kleingärtner; Stemheim 1932, S. 347.
16 Ursula A.J.Becher: Geschichte des modernen Lebensstils, München 1990, S. 180.
17 Vor dern Enrsten Weltkrieg gab es nur 83 Jugendherbergen, l93l schon 2ll4; vgl. HermannGiesecke: Leben nach der Arbeit, München 1983, S. 56.
l8 Stemheim, 1932, S. 346.
19 So zählte alleine der Arbeiterturn- und Sportverband 1929 12 Millionen Mitglieder. Giesecke 1983, S. 52
20 James Wickham. Arbeiterpolitik und Arbeiterbewegung in den 20er Jahren in einer Großstadt: Das Beispiel Frankfurt am Main, in: Sozialwissenschaftliche Informaionen (SowI) 13. Jg., 1984, H.2, S. 22-30.

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