Bourgeoisie (im Sinne von Wirtschaftsbürgertum) und Proletariat.

 

In Deutschland wie überall im 19. Jahrhundert fand die Industrialisierung auf kapitalistischer Grundlage statt. Das hieß u. a.: Die Produktionsmittel, die Fabriken, Anlagen, Maschinen und Geräte aller Art waren in der Regel im Besitz von Privatleuten; Kapitalisten und Unternehmer verfügten darüber; sie trafen die Entscheidungen und setzten sie durch; sie trieben den geschilderten Prozess der ökonomischen Modernisierung gegen Widerstände voran, in der Hoffnung auf Gewinn, Expansion und Ruhm. Die unmittelbare Arbeit wurde von Lohnarbeitern durchgeführt, die keine Produktionsmittel besaßen. Sie stellten auf der Grundlage eines beiderseits kündbaren Vertrags einen großen Teil ihrer Arbeitskraft dem Unternehmer für festgesetzten, von Leistung und Marktlage abhängigen Lohn zur Verfügung und unterstanden mit ihrer Arbeitskraft dessen Anordnungen. Sie erhielten ihren Lohn – im Unterschied zum Gehalt der Beamten und Angestellten – in Abschnitten oder als Stücklohn. Die allermeisten blieben Lohnarbeiter ihr Leben lang.

Zwischen diesen beiden, in sich höchst differenzierten Gruppen bestand neben gleichgerichteten Interessen ein eingebautes Spannungsverhältnis, ein latenter Verteilungs- und Herrschaftskonflikt. In dem Maße, in dem dieses den Beteiligten bewusst wurde, begriffen sie sich – auf der einen wie auf der anderen Seite – als zusammengehörig, mit ähnlichen Interessen trotz anderweitiger Unterschiede, als eine von zwei Klassen und verhielten sich entsprechend: als Bourgeoisie (im Sinne von Wirtschaftsbürgertum) und Proletariat.

Diesem Klassenbildungsprozeß standen viele Hindernisse entgegen, und auch im 19. Jahrhundert ist er nur der Tendenz nach, nie aber vollkommen realisiert worden. Zu den Hindernissen gehörten: die innere Vielgestaltigkeit der beiden Gruppen nach Herkunft, Einkommen, Qualifikation, Branchen, Religion. Ansehen, politischen Einstellungen usw.; die Existenz anderer Spannungen und Loyalitäten, die gewissermaßen quer zum Klassenverhältnis verliefen: so zwischen Stadt und Land, zwischen den Konfessionen (Kulturkampf der siebziger Jahre!) oder zwischen Deutschen und zugewanderten Polen im Ruhrgebiet vor 1914; schließlich auch Gemeinsamkeiten und Solidaritätsbeziehungen, die über den Klassengegensatz hinwegreichten und ihn linderten, so besonders um 1870 die gefeierte Zugehörigkeit zur selben Nation. Große soziale Gruppen ließen sich nie ganz in das Zwei-Klassen-Schema einordnen (z. B. die vielen selbständigen Handwerker ohne Gesellen und die Beamten).

Trotzdem machte der Klassenbildungsprozess seit den 1840er Jahren große Fortschritte. Über Berufs-, Qualifikations-, Herkunfts- und Branchengrenzen hinweg bildeten sich – jedenfalls innerhalb der gewerblich-industriellen Arbeiterschaft – zu einem gemeinsamen Arbeiter- und Klassenbewusstsein heraus. Es begriff die Kapitalisten und Unternehmer als Gegner und wandte sich kritisch gegen bürgerliche Gesellschaft und Staat, wenn auch selten in revolutionärer Weise. In Wechselwirkung damit verstärkte sich in der Bourgeoisie  – trotz fortdauernder Konkurrenz und tiefgreifender Divergenzen – das Bewusstsein gemeinsamer Interessen in grundsätzlichen Fragen der Arheits- und Klassenkonflikte.

Einzelne Arbeitskämpfe und Arbeitskampfwellen (so in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren), Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, schließlich auch die Arbeiterpartei(en) seit 1863/69 und Auseinandersetzungen im politischen Raum können als Teil, als Ausdruck und Antrieb jenes Klassenbildungsprozesses gedeutet werden. Dessen Form und Inhalt hingen von einer Vielzahl von Faktoren ab, so auch von der Rolle des Staates und dem Verhalten anderer sozialer Klassen und Gruppen, von fortwährenden kulturellen Traditionen und von vielfältigen sozialen Konstellationen, die die Erfahrungen der Menschen beeinflußten.

 

 

Gesellschaft, Politik und Ökonomie im Kaiserreich

Kapitalistische Klassengesellschaft


Als „Klassen“ werden Personenvielheiten bezeichnet, die durch den Besitz bzw. Nicht-Besitz an (Verfügungsmacht bzw. Nicht-Verfügungsmacht über) Kapital und daraus folgende gemeinsame bzw. entgegengesetzte Interessen definiert sind, die sich der Tendenz nach aufgrund dieser Merkmale als zusammengehörig bzw. einander entgegengesetzt begreifen und die sich – wieder der Tendenz nach – auf dieser Grundlage zu gemeinsamen bzw. entgegengesetzten Aktionen zusammenschließen und organisieren.

Das könnte dich auch interessieren …