Ausdifferenzierung der Lebensformen

Arbeiterklasse

Die neue Massen- und Freizeitkultur führte innerhalb der einzelnen Klassen und Schichten zur weiteren Ausdifferenzierung der Lebensformen. So gab es z.B. viele Arbeiterfamilien, die in ihrer knapp bemessenen Freizeit wenig für Freizeitkommerz übrig hatten, während sich andere Familien spendierfreudiger zeigten. Zu letzteren gehörte ein 37-jähriger hannoverscher Dreher mit Frau (36 Jahre) und einem 2-jährigen Kind. Die Familie mit einem Monats-Bruttoeinkommen von 217 RM (1927/28) gab 5 RM im Monat für ,,Vergnügungen und andere gesellige Anlässe“ ans. Da waren – rein rechnerisch gesehen – für das Ehepaar zusammen vier Kinobesuche im Monat möglich, und es blieb sogar unter Umständen noch etwas übrig, beispielsweise für den Besuch einer Sportveranstaltung. Weitere 5 RM pro Monat verbuchte die Familie unter der Rubrik ,,Erholung“. Was genau damit gemeint war, ist unklar, vielleicht der Verzehr in einem Ausflugslokal oder die Kosten, die bei einer Übernacht-Wanderung anfielen. Jedenfalls war im Selbstverständnis dieser Familie, die übrigens 35 RM Miete im Monat bezahlte, die Erholung genauso wichtig wie das Vergnügen.

Mit guten Gründen ist davon auszugehen, dass die kommerzialisierte Massenfreizeitkultur vor allem von Un- und Angelernten angenommen worden ist, während Facharbeiterfamilien häufig stärker in der Arbeitervereinskultur eingebunden blieben. 1)

 

Bürgertum

Unterschiedliche Freizeitformen führten zu neuen Differenzierungen auch innerhalb des Bürgertums. Familien, die sich noch in der Tradition des Bildungsbürgertums und der „Buch-Kultur“ sahen, fanden im allgemeinen wenig Zugang zur neuen Massenkultur, gingen weder ins Sportstadion noch in ein Kino – außer wenn ,,wertvolle Stücke“ zur Aufführung kamen – und hielten ihre heranwachsenden Kinder (vor allem die Töchter) auch eher dazu an, eigenhändig Klavier zu spielen, Näharbeiten zu fertigen, gute Theaterstücke anzusehen oder ein Museum zu besuchen. Andere Familien stellten sich leichter um, fanden die neuartige Freizeitkultur verlockend und nutzten die vielfältigen Angebote.

Jugend

Zwar wurden Angebote zur Freizeitgestaltung von allen Altersgruppen genutzt, doch Iagen die Jugendlichen dabei ganz vorne. Junge Leute ohne eigene Familie mussten nach der Arbeit nicht gleich nach Hause und konnten über die zur Verfügung stehende Zeit relativ frei verfügen. Freizeit und Jugendlichkeit wurden oftmals nahezu gleichgesetzt. In den Worten Peukerts: „Jugendfreizeit fand in der Freundesclique statt, bediente sich der Angebote des Freizeitkommerzes wie Radio, Grammophon und Kino, Gaststättenwesen, Rummel und Tanzlokal, und führte über Wanderfahrten und Jugendherbergswesen in die zukünftige Welt des Urlaubstourismus ein. Daneben standen die Angebote der Jugendpflege, der Volksbildung, des Vereinswesens, vor allem im Sport, und auch der sonstigen Jugendorganisationen. Als Kontrastbild zur kommerzialisierten und organisierten Freizeit stilisierten sich die sog. wilden Cliquen: augenfüllige Randgruppen vor allem proletarischer Jugendlicher, deren Regelverletzungen die Ordnungshüter und die bürgerliche Öffentlichkeit schreckten.“ 2)

Ein generationsspezifischer Wandel der Lebensformen und Verhaltensweisen bildete sich gerade im Umgang mit der Massen- und Freizeitkultur heraus.

 

Frauen

Frauen, die nicht von Arbeit und Familie aufgezehrt wurden, fühlten sich von der neuen Massenkultur offenbar ebenfalls in besonderer Weise angesprochen. lns Puschenkino um die Ecke konnten Mütter unter Umständen ihre Kinder mitnehmen, das Radio eroberte die Wohnungen und damit die Hausfrauen. Reklame, Schaufenster und Moden warben vor allem um die Gunst junger Frauen. Sie konnten mehr als früher alleine oder mit anderen etwas unternehmen, z.B. ohne männliche Begleitung ein Kino aufsuchen, einen Schaufensterbummel unternehmen oder mit Freundinnen zum Nachmittags-Tanztee gehen. Frauen aus dem Bürgertum, die infolge der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts stark auf die Privatsphäre in der Wohnung oder im Haus zurückgedrängt worden waren, eroberten sich im Zuge der Massen- und Freizeitkultur ein Stück Öffentlichkeit zurück. Noch weiter ging die „mediale Welt“.

Wer z.B. den Bildern in Illustrierten und Magazinen Glauben schenkte, konnte meinen, der emanzipierte, modebewusste, lebenslustige und konsumfreudige Frauentyp, die sog. Neue Frau, herrsche vor. Doch die Realität sah vielfach anders aus. Modernität brach sich oft an traditionellen Normen und überkommenen Strukturen in der öffentlichen und privaten Sphäre.

Solange für keine Familie gesorgt werden musste, sprach die Massen- und Freizeitkultur besonders auch (junge) Fabrikarbeiterinnen an. Isolde Dietrich erklärt dies so:

“Vor allem aber dürfte dies der industriellen Mentalität, Auffassungsgabe und Zeitmotorik dieser Frauen geschuldet sein. Für hart arbeitende, in nüchternem Effizienzdenken geschulte Fabrikarbeiterinnen konnten in der knappen Freizeit und bei den beschränkten Mitteln nur zeiteffektive, leicht zugängliche, auch geistig ‚mühelose‘ Ablenkungen einen Erholungswert haben.“3)

Auch unter Arbeiterfrauen entwickelten sich auf Grund der neuen Freizeitkultur unterschiedliche Lebensformen heraus, wie ein zeitgenössischer Bericht einer Jugendpflegerin erkennen lässt. Darin heißt es:

„Es gibt hier einen sehr soliden Arbeiterstand. Es ist fast Tradition, dass die Mädchen, sobald sie aus der Schule entlassen sind, zur Fabrik gehen. Dieses sind die echten, konservativ eingestellten Arbeiterinnen. Daneben gibt es Arbeiterinnen, die vom heutigen Zeitgeist stark beeinflusst und sehr putz- und vergnügungssüchtig sind. Erstere gehen sonntags zum Verein, die letzteren besuchen Tanzvergnügen, Kino und treiben sich umher.4)

Siegfried Kracauer nahm vor allem die ,,kleinen Ladenmädchen“ ins Visier, die sich angeblich allzu gerne in eine Traumwelt versetzen ließen und damit aus der Wirklichkeit flüchten wollten.5) Als Wegbereiter industrieller Mentalitäten galten aber auch die unteren (häufig weiblichen) Büroangestellten, deren Arbeits- und Freizeitwelt er wie folgt charakterisiert:

„Der genaue Gegenschlag gegen die Büromaschine aber ist die farbenprächtige Welt. Nicht eine Welt wie sie ist, sondern wie sie in den Schlagern erscheint. Eine Welt, die bis in die letzten Winkel hinein wie mit einem Vakuumreiniger vorn Staub des Alltags gesäubert ist.“6)

Doch Flucht und Traum waren nicht alles. Auch in der medialen Welt konnten die Widersprüche der Realität nie vollständig eliminiert werden, ganz abgesehen davon, dass die krassen Unterschiede zwischen der schnöden Alltagswelt und der bilderbuchschönen Medienwelt sicherlich als solche wahrgenommen wurden. Darüber hinaus waren die Übergänge zwischen Flucht und Traum und der Utopie vom ‚guten Leben‘ fließend. ,,Verbotene Vergnügen“ – zum Beispiel, wenn Hausfrauen anstatt den Haushalt zu erledigen, sich in Groschenromane „flüchteten“ – führten ebenfalls zu einem spannungs- und widerspruchsreichen Verhältnis zwischen der realen Welt, ihren Normen und Werten einerseits und der Welt der Bilder und Imaginationen, der medialen Welt andererseits.7)

Klassenübergreifende Angleichungen

Parallel zur Ausdifferenzierung der Lebensweisen im Zuge der Neuen Massen- und Freizeitkultur glichen sich – zumindest aus der Vogelperspektive betrachtet – bestimmte Lebensformen von Personen und Familien , die unterschiedlichen Klassen und Schichten angehörten, einander an. So eröffnete die neue Massen- und Freizeitkultur Felder, auf denen sich Menschen aus diversen Klassen und Schichten begegnete, so wie früher allenfalls auf Jahrmärkten oder im Zirkus. Siegfried Kraceuer beschrieb dieses neuartige Phänomen am Beispiel einer Auto-Ausstellung:

“Wenn ich es noch nicht gewusst hätte, so wäre ich jetzt, nach dem Besuch der Internationalen Auto-Schau am Kaiserdamm, endgültig davon überzeugt dass das Auto einer der wenigen Gegenstände ist, die heute allgemeine Verehrung genießen… Taxichauffeure und Herrenfahrer, junge Burschen proletarischen Aussehens und Schupomannschaften, elegante Schnösels und Motorradanwärter: sie alle, die sich sonst gar nicht miteinander vertragen, pilgern gemeinschaftlich durch die Hallen und verrichten ihre Andacht vor Kühlern, Zündungen und Carosserien.“8)

Solche neue Räume sozialer Begegnungen von Personen unterschiedlicher Klassen und Schichten veränderten zwar im Kern nicht die Klassen- und Herrschaftsverhältnisse, trugen aber dazu bei, dass diese für viele unübersichtlicher, scheinbar durchlöcherter oder von Egalisierungstendenzen überlagert erschienen. Auch wuchs damit die Bedeutung der ,,feinen Unterschiede“9) an: Preisstaffelungen, Tribünen und sonstige Platzierungsklassen hatten dafür zu sorgen, dass bei solcher Art Begegnungen gleichwohl Distanzierungsmöglichkeiten im sozialen Raume erhalten blieben, die soziale Distanz trotz der räumlichen Nähe gewahrt wurde. Wo, wie bei der oben beschriebenen Automobilausstellung tatsächlich Personen aus allen Schichten zusammentrafen, verhinderten Kleidung und Auftreten soziale Verwechslungen.

 Neben dem klassen- und schichtenübergreifenden sozialen Raum der neuen Massen- und Freizeitkultur gab es noch immer Vereine und Organisationen, in denen man ,,unter sich“ blieb. Arbeiterlnnen hatten ihre Arbeiterkulturvereine, vom Schachverein bis zum Ruderclub, des gehobene Bürgertum traf sich beispielsweise im Bridge- oder im Golfclub, und auch das Klein- und Mittelbürgertum hatte seine eigenen Organisationen. z.B. den Kegelclub oder den Schützenverein.

Überdies steuerten schichtenspezifische Geschmacksausprägungen und Präferenzen die Benutzung des sozialen Raums der neuen Massen- und Freizeitkultur. Arbeiter waren z.B. häufiger beim Fußballspielen und Motorradrennen zu finden, bürgerliche Mittel- und Oberschichten trafen sich stattdessen öfter beim Auto- und beim Pferderennen.


  1. Unter Langzeitperspektive siehe vor allem: Josef Mooser: Arbeiterleben in Deutschland 1900 – 1970. Klassenlage, Kultur und Politik, Frankfurt a.M. 1984.
  2. Detlev J. Peukert, Weimarer 1987, S. 98
  3. Isolde Dietrich: Frauen in der Männerweltfabrik, in: Mein Arbeitstag – mein Wochenende. Arbeiterinnen berichten von ihrem Alltag 1928, neu hrsg. von Alf Lüdtke, Hamburg 1991, S. 249
  4. In: Lydia Lueb: Die Freizeit der Textilarbeiterinnen. Eine Untersuchung über die Verwendung der Freizeit der Arbeiterinnen des christlichen Textilarbeiterverbands Bezirk Westfalen, wirtschaftswissenschaftliche Diss., Münster 1929, S. 37.
  5. Vgl. Siegfried Kracauer: Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino, in: Das Ornament der Masse, Frankfurt 1963, (Erstveröffentlichung 1929), S. 279 ff.
  6. Siegfried Kracauer: Die Angestellten, Frankfurt a.M. 1971 (Erstveröffentlichung 1929) S. 97.
  7. Vgl. dazu für die heutige Zeit: John Fiske, Understanding Poplar Culture, Boston 1989.
  8. In: Frankfurter Zeitung v. 24.2.1931.
  9. Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede, Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M. 1982.

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