Freizeit und modernes Leben in den 20er Jahren

„Wem das nicht gefällt, der kann ja Mörike lesen…“

„Wem das nicht gefällt, der kann ja Mörike lesen. Er wird, da er in der Stinnes-, Kino- und Radiozeit lebt, sich etwas vormachen müssen, um ihn restlos schön zu finden: heute. Er wird das Schnellzugtempo seines Lebens in das Postkutschentempo umlügen müssen, den Benzingestank dieser Zeit in den Rosenduft der anderen; und das Börsenhirn in ein märchenhaftes Menschenherz.“ 1)

Mit solchen Worten forderte der Erzähler und Lyriker Hans Reiser im Jahre 1925 vor allem das Bildungsbürgertum heraus – und gab ihm den guten Rat, doch der Gegenwart voll ins Gesicht zu schauen. Der Name Stinnes erinnerte an große Konzentrationsbewegungen in der Wirtschaft, an Spekulationsgewinne in der Infaltionszeit und an die Herrschaft des Kapitals; Kino 2) und Radio 3) galten als Symbole für die Ära der Massenmedien. Eine mediale Welt war im Entstehen – Geschehnisse blieben nicht mehr zeit- und ortsgebunden, sondern konnten „übertragen“ werden, schufen eine neue Sphäre zwischen Sein und Schein, füllten Puschenkinos und Filmpaläste oder drangen – wie das Radio – in die Privatheit der Wohnzimmer ein. Das audio-visuelle Zeitalter brach sich mit ungheurer Dynamik seine Bahn und veränderte die menschlichen Wahrnehmungsdimensionen und Aneignungsweisen grundlegend. Ein neuartiger Kulturbereich entstand, auf dem  damals ein wildes Gerangel um Einfluß und Macht – allerdings bei ungleicher Verteilung der Gewinnchancen – vonstatten ging.

Reiser sprach ferner vom Schnellzugtempo seiner Zeit – im Gegensatz zur Postkutschenära der früheren Jahrhunderte. Und in der Tat: Höhere Geschwindigkeiten veränderten damals Alltag und Lebensgefühl gleichermaßen, sei es in der Fließfertigung im Betrieb oder an der Schreibmaschine im Büro, sei es im Verkehr oder im Vorüber- und Vorbeiziehen mannigfaltiger Reklamebilder. Diese Eile wurde aber auch als Hast empfunden. Es wurde vor allem die Großstadt als eine „rasende Stadt“ erlebt:

„Die City mit ihren Läden ist zu teuer für Menschenwohnungen. Die Arbeitenden und Besitzenden wohnen draußen. Wer keinen Mercedes hat, für den bedeuten An- und Abmarsch ein Viertel des Tages. So muß er jagen. Muß den Anschluß haben… Hier gilt die Minute. Jeder sorgt für sich. Auslese harter Wirklichkeit! Schicksal“ Einer steht auf dem rüchgrat des anderen. Ade Höflichkeit der Provinzialen… Hier gilt Präzison. Hier wird Zeit gemessen und zerstampft. Hier rast der Rhythmus und reißt Dich mit!“ 4)

Worüber der katholische Publizist Carl Sonnenschein noch angestrengt nachdachte, war vielen Menschen im Altag schon selbstverständlich geworden: Der neue Lebens- und Zeithythmus ging unter die Haut, riß die Leute mit…

Reiser verweist weiter auf Auto und Benzingestank. Gewiß konnten sich damals nur Wenige den Kauf eines Autos leisten, gleichwohl veränderte der Motor bereits den Alltag. Benzin verpestete die Luft, Lärm drang in die Wohnungen, Vehikel „besetzten“ die Straßen. „Kinkerlitzchen“ – denken wir aus heutiger Sicht, die wir gewohnt sind, mit unendlich größeren Auswirkungen des Motorenzeitalters konfrontiert zu werden. Doch historisch interessant ist, daß den Menschen offenbar gerade in der Anfangsphase der Motorisierung die dadurch bedingte grundlegende Veränderung ihrer Allagswelt sehr bewußt war und daß z.T. recht kritisch ihre Negativwirkungen wahrgenornmen wurden.

Schließlich endet Reisers Vergleich der Jahrhunderte mit dem Hinweis auf das ,,Börsenhirn“, dem er leicht ironisch das „märchenhafte Menschenherz“ früherer Zeiten entgegensetzt. Das „Börsenhirn“ steht hier nicht nur stellvertretend für Spekulationsgeschäfte, sondern auch für „kalte“ Rationalität und Rechenhaftigkeit, für Weltökonomie und Dienstleistungsgesellschaft,für überregionale Kommunikationsvernetzung und – wiederum – für Schnelligkeit.

Adelheid von Saldern (1991)


  1. Zitiert nach Detlev J. Peukert: Die Weimarer Republik, Krisenjahre der Moderne. Frankfurt a.M. 1987, S. 169, Für Kritik und Hinweise danke ich Sid Auffarth, Richard Birkefeld, Sylvia Christian-Klein, SUsanne Döscher-Gebauer und Göran Hachmeister
  2. Mitte der 20er Jahre gingen inDeutschland etwas täglic 2 Millionen Menschen ins Kino. Paul Monaco: Cinema Society, France and Germany during the Twenties, New York etc. 1973, S 21
  3. Bereits Anfang 1927 gab es 1,4 Millionen Empfängergeräte und ungefähr 3,7 Millionen Rundfunkteilnehmer. Dieter Langewiesche: Politik – Gesellschaft – Kultur. Zur Problematik von Arbeiterkultur und kulturellen Arbeiterorganisationen in Deutschland nach dem Ertsten Weltkrieg. In: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 22, 1982, S. 397
  4. Carl Sonnenschein: Notizen. Weltstadtbetrachtungen, Berlin 1934, S. 198.
  5. Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vemunft, 2. Bd., Frantfurt 1983, S.881.

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