Freizeit sinnvoll nutzen

Nach verlorenem Weltkrieg galt der Mensch als besonders wichtiges „Kapital“, in das „investiert“ werden müsse, vor allem in Jugendliche. Gesundheit und Lebenstüchtigkeit standen auf dem Spiel, so argumentierten bürgerliche Sozialreformer und -reformerinnen mit Blick auf die bestehende Arbeitswelt rund traten für eine erweiterte Freizeit der schulentlassenen Jugend ein.52 Im Zeitalter der Pädagogisierung sollte freilich Freizeit ,,sinnvoll“ genutzt und dazu entsprechende Anleitungen gegeben werden. Fritz Klatt, der geistige Führer der neuen ,,Freizeitpädagogik“, meinte 1929:

Die ,,unzusammenhängenden kleinen Zeitteile im Leben des Arbeitsmenschen zu einem einheitlichen hellen Band zu verbinden, welches das mühselige Arbeitsleben durchzieht, ja vielleicht durch diese Verbindung auch die Abeit sinnvoll und tragbar macht, das ist die große Aufgabe der Freizeitpädagogik.“53

Es galt – so Klatt – die gesamte arbeitsfreie Zeit bewußt wahrzunehmen und zu gestalten. Doch damit begnügten sich Reformerlnnen nicht. Sie versuchten, auch direkt auf die Massen- und Freizeitkulur einzuwirken. Die verschiedenen bürgerlichen Parteien und Organisationen, aber auch die Kirchen sowie die sozialdemokratische und kommunistische Arbeiterbewegung – sie alle versuchten die neue Massen- und Freizeitkultur jeweils auf ihre Art zu verändern und weitmöglichst mit ihren gesellschaftlichen Zielsetzungen zu verknüpfen. Kommunisten wollten Massenkultur mit klassenkämpferischen Inhalten verbinden; Sozialdemokraten konzentrierten sich vor allem auf die Demokratisierung des Zugangs zur klassischen Kultur als Alternative
zur seichten Massenkultur und verwiesen außerdem auf ihre vielen „eigenen“ Arbeiterkulturvereine; bürgertliche Sozialreformerinnen wie Gertrud Bämer wollten per Gesetz der ,,Verwilderung der Sitten“ durch die neue Massen- und Freizeitkultur einhalt gebieten und Deutsch-Nationale waren bestrebt, die Massenkultur von fremden Einflüssen möglichst freizuhalten und stattdessen diese zum „Schutz und Wiederaufbau der deutschen Familie und deutschen Kultur“ einzusetzen.54 ,,Freie“, nur über den Markt gelenkte Massenkultur einerseits oder Direktsteuerung durch Gesetze und sonstige Eingriffe andererseits, das waren Alternativen, die erbitterte Diskussionen auslösten.55

Aus heutiger Perspektive nehmen sich die Ängste über die damaligen negativen Auswirkungen einer ungesteuerten Massen- und Freizeitkultur eher grotesk aus. So schrieb der Kinoreformer K. Lange im Jahre 1920:

„Dann werden wir ein Kino haben, in dem die wilden, ungezügelten Massen Nahrung für ihren Zerstörungstrieb finden werden. Dieses Kino wird im Dienste des Terrors stehen“.56

Welch ein Unterschied übrigens zu der Auffassung Siegfried Kracauers, der im Kino vorrangig einen herrschaftssichernden Kult der Zerstreuung sah!

Und noch ein anderes Beispiel aus der frühen Weimarer Republik sei angeführt, diesmal aus der Beilage zum sozialdemokratischen „Volkswillen“ in Hannover:

,,Die Schiebe-, Schaukel- und Wackeltänze, welche von den vornehmeren Kreisen sowohl wie auch im gewöhnlichen Tanzsaal getanzt werden, zeigen in ihrer Form eine öde Steifheit, ja Schamlosigkeit, welche mit Schönheit und reiner Erotik nichts zu schaffen haben, der sensationslüsterne Entwicklungsprozeß hat den heutigen Tanz entartet.“57

Sensationslust und Zügellosigkeit beunruhigten viele Menschen, keineswegs nur Sozialdemokraten, sondem erst recht große Teile des Bürgertums und vor allem Konservative. Für sie schienen Herrschaft und Normen gefährdet zu sein. Die alten Werte kamen offensichtlich nicht mehr an, doch keinesfalls sollte deshalb die neue Massenkultur einfach den Marktprozessen überlassen werden. Wenn schon Zerstreuungskultur, so möglichst im Sinne eines „Readers Digest“,58 zusammengekürzte leicht verdauliche, aber ‚veredelte‘ und jedenfalls nicht schädliche Kost.

***

Die Nationalsozialisten konnten in der Zeit der großen Krise am Ende der Weimarer Republik, die ja nicht nur die Wirtschaft, sondern auch den Kulturbereich betraf, erfolgreich an solcherart Verunsicherungen anknüpfen, indem sie vorgaben, die neue Massen- und Freizeitkultur mit den Zielen des Volkes und der Nation zu verbinden und ihr damit einen gesellschaftlichen Sinn zu gehn. Die Freizeitvereine mußten sich auflösen oder wurden „gleichgeschaltet“. unter NS loyaler vereinsführung ging das Vereinsleben dann jedoch vielfach in den gewohnten Bahnen weiter. Die Massen- und Freizeitkulurr erfaßte im Dritten Reich immer mehr Menschen, wurde nun aber in gravierendem Ausmaße staatlich gesteuert (z.B. innerhalb der Hitler-Jugend oder
mittels der ,,Kraft durch Freude“- Organisation). Reglementierung und Sinnzuweisung verbanden einen Großteil der Freizeit mit dem NS-System, das selbst von Gewalt, Ausgrenzung und Zerstörung gekennzeichnet war. Der Einbindung der Menschen in das NS-Systern dienten nicht nur die zahlrreichen Propagandafilme und – radiosendungen, sondern auch die fortbestehenden Angebote einer modernen, unpolitisch erscheinenden Unterhaltungs- und Freizeitindustrie. Was in Form einer sog. sekundären Ideologisierung systemstärkend wirken sollte und dies wohl auch tat, bot gleichzeitig die Möglichkeit, daß sich die Menschen den Totalisierungstendenzen des Herrschaftsystems gerade im Freizeitbereich ein Stück weit zu entziehen vemochten.

Adelheid von Saldern (1991)


52 Giesecke 1983, S.47.
53 Fritz Klatt, Freizeitgestaltung, Stuttgart 1929, S. 2.
54 Zitiert nach: Lesebuch Weimarcr Republik. Deutsche Schriftsteller undihr Staat von l9l8 – 1933, hrsg. von Stephan Reinhardt, Berlin 1982, S. 15l.
55 Dazu siehe die Stenographische Berichte der Reichstagsverhandlungen in Zusammenhang mit dem Reichslichtspielgesetz von 1920 rmund dem ,,Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften“ von 1926.
56 Zitiert nach: Helmut Korte (Hg.), Film urd Realität in der Weimarer Republik, München 1978, S. 225.
57 Beilage zurn Volkswillen v. 14.03.1920.
58 ReadeRS Digest wüde 1922 in den USA eingeführt.

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