NS-System: gegenrevolutionäre Totalität

Gert Schäfer (1983)

Der 30. Januar 1933 erschien nur in den Augen weniger Zeitgenossen als fundamentale Wende, und das reine Datum bedeutete dies auch nicht. Die Weimarer Demokratie war bereits seit 1930, mit den halbdiktatorischen Präsidialkabinetten, begraben worden – und sie sollte dies auch. Spätestens 1932, mit der widerstandslosen (verfassungswidrigen) Absetzung der preußischen, sozialdemokratisch geleiteten Regierung, war das Ende der ungefähr ein dutzend Jahre dauernden ersten deutschen Republik besiegelt. Einige unmittelbare Gründe sind hinreichend bekannt.

Angesichts der tiefsten Krise kapitalistischer Weltwirtschaft zerbrach die ohnedies gefährdete parlamentarische Demokratie an ökonomisch bedingten Klassengegensätzen – nicht etwa an den vielberühmten Extremen von rechts und links, sondern vor allem anderen daran, dass eine bis zur Selbstaufgabe kompromisswillige Sozialdemokratie, samt nahestehenden freien Gewerkschaften, keinen ‚Sozialpartner‘ mehr fand, das heißt als politische und soziale Kraft vollends ausgeschaltet werden sollte. Spätestens seit 1930 handelte es sich lediglich noch um die Frage: wie, wie schnell, mit wem?

Der führende liberale Wirtschaftshistoriker Knut Borchardt, der diesen Lauf der Dinge als unvermeidlich betrachtet, hat sich an diesem Wochenende in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wie folgt ausgedrückt: Seit 1928 ging es um „nichts weniger als um die materielle Konstitution von Weimar“. „1918/19 ist – etwas überpointiert ausgedrückt – die Revolution in eine Lohnbewegung übergeführt worden“. „Nicht nur die Unternehmer, auch fast alle Wissenschaftler, das ganze bürgerliche Lager sah hier Zusammenhänge“. – Entweder nach der Parole: jetzt oder nie! Bekanntlich wurde Hitler zum Reichskanzler ernannt, als der Tiefpunkt der Wirtschaftskrise und der Höhepunkt an Wählerstimmen für die NSDAP bereits überschritten waren. Oder nach der Parole: Rettet die deutsche Wirtschaft vor dem Bolschewismus, besonders die notleidenden, bankrotten Unternehmen. Kampf dem internationalen Kapital, das heißt der Weltmarktkonkurrenz. Staat schütze uns – nimm‘ den anderen, vor allem der habsüchtigen marxistischen Arbeiterklasse..- Borchardt meint: „Die Krise erforderte tief einschneidende Maßnahmen. Sie wurden unvermeidlich von den Betroffenen als Kampfansage an die Errungenschaften des Systems selbst verstanden. Mehrheiten waren dafür schwerlich zu bekommen, zumal es auch noch innerhalb des bürgerlichen Lagers zwischen Industrie, Landwirtschaft und Mittelstand tiefe Interessengegensätze gab. Wenn es aber für die Revision beispielsweise der Lohnpolitik (wir ergänzen: z.B. auch der Sozialpolitik, Tarifpolitik insgesamt, Kommunalpolitik usw., G.S.) auf dem Wege über die Stimmzettel keine Chancen gab“ (wo je gäbe es sie?) – fügt Borchardt, dieser durchaus gemäßigte Liberale, hinzu -, „lag es dann nicht nahe, solch einschneidende wirtschaftliche Fragen wieder dem Votum der Wähler zu entziehen“. „Die Lösung Hitler war eine mit Massenbasis“, fährt er fort (FAZ, 29.1.83, S. 13).

Die politische Demokratie sollte vollends beseitigt werden, um die wirtschaftliche Krise ganz auf dem Rücken derer zu überwinden, die einer weiteren Beschneidung ihrer kärglichen Löhne oder ihrer noch kärglicheren Unterstützungen (soweit sie überhaupt noch solche erhielten) nicht „freiwillig“ zugestimmt hätten. Sollte, wurde! Die Versuche ohne Massenbasis waren gescheitert oder erschienen als nicht erfolgversprechend; so wurden Pläne einer reinen Militärdiktatur von der Reichswehr-Generalität als zu risikoreich verworfen. Die Lösung Hitler war eine mit Massenbasis. Ihre Massenbasis waren vor allem Deklassierte, vom sozialen Abstieg Bedrohte oder aus dem zivilen, bürgerlichen Leben Ausgeschiedene, die es jedoch zu etwas bringen wollten („wir wollen uns gesundstoßen“, rief Goebbels) – deklassierte Adelige, Bürger, Kleinbürger aller Sorten, auch deklassierte

Arbeiter, Dauererwerbslose darunter. Ihre Kader waren vom Ersten Weltkrieg tief geprägt, ihre 0rganisationsformen und Rituale durch und durch militarisiert. Sie waren auch auf einen neuen Eroberungskrieg und auf die Umwandlung des Landes in ein möglichst schlagkräftiges militärisches Lager aus. Damit sich ein 1918 nie mehr wiederholen könne, sollte nicht allein die organisierte Arbeiterbewegung, der ‚Marxismus‘, vernichtet, sondern darüber hinaus jede 0ppositionsgefahr ein für alle Mal beseitigt werden – „Gleichschaltung“, Vernichtung von Marxismus, Pazifismus, Humanismus, Liberalismus usw.. Zugleich musste sich diese Bewegung von deklassierten Aufsteigern ihre eigene Machtbasis bewahren oder schaffen; schließlich genügt es nicht, den Kanzler und ein paar Minister zu stellen, um sich einigermaßen behaupten zu können. Daraus ergaben sich Gegensätze zu ihren Partnern aus der alten Rechten, den alten „staatstragenden Mächten“. Politisch setzte sich die NS-Führung mehr und mehr durch.

Zunächst erschien die Lösung Hitler zwar als eine mit Massenbasis, der auch etwas geboten werden musste. „Wir haben ihn“, Hitler, „uns engagiert“, sagte Herr von Papen. Aber sie erschien auch als eine Rückkehr zum alten, vordemokratischen Deutschland, zum autoritären Obrigkeitsstaat preußisch-militärischen Musters. Die alten „staatstragenden Mächte“ waren ja 1918 nicht wirklich entmachtet worden; sie saßen in der Reichswehr, in der Staatsbürokratie, der Justiz, der Industrie usw., sie waren da. Zunächst – als nichts mehr zu machen schien – wurden einige davon „Vernunftrepublikaner“ und „Sozialpartner“. Als wieder etwas zu machen schien, waren sie und andere immer Anhänger eines – so wurde das genannt – autoritären Staates gewesen. Einige davon, dann immer mehr, wurden Nazis.

1933 war deshalb auch eine Rückkehr zur Normalität, zelebriert am Tag von Potsdam, unter den Klängen der Garnisonskirche, als Hitler vor Hindenburg seinen deutschen Diener machte. Deutsche Kontinuität bewährte sich, die triumphale Wiederkehr – mit einem der größten Söhne des deutschen Bürgertums, Max Weber zu reden – „jener verinnerlichten, auf den fremden Beschauer als Würdelosigkeit wirkenden Hingabe an die Autorität…, welche in Deutschland ein schwerlich auszurottendes Erbteil der ungehemmten … Fürstenherrschaft geblieben ist. Politisch betrachtet war und ist der Deutsche in der Tat der spezifische ‚Untertan‘ im innerlichsten Sinn des Wortes und war daher das Luthertum die ihm adäquate Religiosität“ (Wirtschaft und Gesellschaft. Köln/Berlin 1956, S. 830). Hier dienert er, er kann nicht anders. Die andere Seite des Untertans, der wildgewordene Untertan, aber ist der Herrenmensch.

Der Historiker Fritz Fischer hat in seiner Schrift aus dem Jahr 1979 zur Kontinuität der Machtstrukturen in Deutschland 1871-1945 in einfachen Worten zusammengefasst: „Das Dritte Reich und damit der Zweite Weltkrieg wären nicht möglich gewesen ohne das Bündnis zwischen dem aus dem Kleinbürgertum aufgestiegenen ‚Führer“‚, das heißt der faschistischen Führerbewegung, „und den traditionellen agrarischen und industriellen Machteliten, die zugleich in der Wehrmacht und in der Diplomatie dominierten … Ohne sie wäre eine so massive Aufrüstung und die Ausrichtung der Wirtschaft auf die Kriegsvorbereitung nicht möglich gewesen. Generelles Ziel war für sie die Wiederaufrichtung der deutschen Großmacht über die bloße Revision von Versailles hinaus, vor allem mit dem Blick auf Osteuropa, auf ein Ostimperium, das die wehrwirtschaftliche Autarkie sicherte … Diese Zielsetzung war im Kaiserreich entstanden, führte zum Ersten Weltkrieg, schien im Frieden von Brest-Litowsk ihre Erfüllung zu finden, lebte latent im Interregnum der Weimarer Republik (die sich weiter Deutsches Reich nannte) fort und steigerte sich im Dritten Reich bis in den Zweiten Weltkrieg hinein“. – Vielleicht sollte noch erwähnt werden, dass Brest-Litowsk vor Versailles lag und Versailles im Vergleich zu Brest-Litowsk eine sehr maßvolle Angelegenheit war. – „Die Elemente dieser jüngeren Kontinuität lassen sich nach innen und außen erkennen. Strukturell ist es die Verbindung von agrarisch-aristokratischen und industriell großbürgerlichen Machteliten, die ihre Positionen gegen die heraufdrängende Demokratie und Sozialdemokratie zu behaupten versuchten. Der primär detensiv-konservativen Zielsetzung nach innen entsprach eine offensiv-expansive Zielsetzung nach außen: Nach der Hegemonie Preußens in Deutschland die Hegemonie Preußen-Deutschlands‘ in Europa, zugleich als Basis zur Erringung einer Stellung als Weltmacht.“ (Bündnis der Eliten, Düsseldorf 1979, S.93, S. 7f.).

Die sozusagen altbewährte ’staatspolitische‘ Methode besteht darin, innere gesellschaftliche, ökonomische und soziale Schwierigkeiten, Krisenprozesse durch außenpolitische, früher regelmäßig kriegerische Expansion bewältigen zu wollen. Was Deutschland anbetrifft, so sagte Franz Leopold Neumann lapidar und mit Recht: „Ein halbes Jahrhundert oder länger drehte sich die Geschichte des modernen Deutschland um einen Angelpunkt: die imperialistische Expansion durch Krieg“ (Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus, Köln/Frankfurt (M.) 1977, S. 25) Innenpolitisch Kampf gegen Demokratie und Sozialismus, außenpolitisch expansive, auf Krieg angelegte Politik gegen die bestehenden Weltmächte. Innenpolitisch eine MiIitarisierung des gesellschaftlichen Lebens, außenwirtschaftlich und außenpolitisch ein imperialistisches Expansionsprogramm. Und in den Köpfen und Seelen der Menschen nationalistische und endlich rassistische Ideologien.

Schon im Kaiserreich war der Versuch unternommen worden, möglichst breite Massen für ein imperialistisches Programm zu gewinnen. Man nannte diese Politik – das Wort überkam aus England – sozialimperialistisch. Die neue sozialimperialistische Massenbewegung nannte sich in ihren Frühzeiten nationalsozialistisch und Arbeiterpartei; das klang damals gut.

Worin bestand dennoch der wesentliche Bruch, den der Nationalsozialismus gegenüber der deutschen Tradition darstellte? Erstens in der Existenz einer antidemokratischen und terroristischen Massenbewegung die eine militarisierte Führerbewegung war und sich als politisch dominierende Kraft durchsetzte.

Es handelte sich um eine plebejische Bewegung von Deklassierten, der Mehrzahl der Anhänger und Wähler nach um eine kleinbürgerliche Bewegung. Was auch sonst? Adelige und Großbürger konnten schließlich keine Massen abgeben, und die Industriearbeiter waren zum großen Teil klassenbewusst genug, um beiseite zu stehen (sehen wir, um noch einmal mit Max Weber zu reden, von den „klassenwürdelosesten Elementen“ ab). Mit bitterem Blick auf den plebejischen Charakter des Nazismus haben einige Beobachter davon gesprochen: hier hätten wir nun die lang erwartete, deutsche bürgerliche, jakobinische Revolution. Andere, z.B. der Liberale Ralf Dahrendorf, kein Sympathisant der Nazis, haben hervorgehoben, daß Nazideutschland uns in die „Modernität“ gestoßen habe (Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965). Damit ist gemeint, daß die alten, starren Klassen- und Ständeschranken fielen, der „soziale Aufstieg“ leichter wurde usw. War nicht auch der „böhmische Gefreite“ ein Beweis? Machte nicht der Stolz Preußens, seine Generalität (von sehr wenigen abgesehen), vor dem „Führer“ den Kotau? „Volksgemeinschaft“ gegen „Klassengesellschaft“, die „Gemeinsamkeit der Arbeiter von Stirn und Faust“ wider die „Reaktion“ und den „Marxismus“. Die nationalsozialistische Selbstinszenierung war pseudoegalitär und militärisch-hierarchisch zugleich; das war immerhin, in diesem Umfang, auch neu. Und es war zugkräftig.

Das Naziregime hat sich zweitens rasch – von Anfang an so gewollt und offen verkündet („es werden Köpfe rollen“ war noch ein parlamentarisch-gemäßigter Ausdruck) – in einer sogenannten totalitären Diktatur verwirklicht. Im Gegensatz zu anderen Formen politischer Diktatur beseitigt ein totalitäres Regime nicht nur die öffentlichen, eigentlich politischen Rechte und Freiheiten, wie sie durch die Garantien der Versammlungs-, Demonstrations-, Vereinigungs- und Meinungsäußerungsfreiheit wenigstens rechtlich verbürgt sein sollen. Totalitäre Diktaturen beseitigen darüber hinaus auch die an sich noch vorpolitischen, individuellen Schutzrechte der Personen gegenüber den Inhabern der politischen Gewalten (wobei es ohne solche persönlichen, individuellen Rechte allerdings politische und öffentliche Freiheiten nie geben kann). Totalitäre Diktaturen beseitigen, mit anderen Worten, auch sämtliche rechtsstaatlichen Beschränkungen politischer Gewalt, einschließlich des bloßen Rechts auf den eigenen Körper.

Ein legitimes Recht gegenüber den Inhabern von Herrschaftsgewalt zu haben, ist keine Selbstverständlichkeit, sondern eine an bestimmte zivilisatorische Bedingungen geknüpfte, erkämpfte, auch zerbrechliche Errungenschaft. Wo politische Zwangsgewalten geschichtlich existieren, ist dies nicht die Regel. Die Regel ist der Despotismus, die unbeschränkte politische Willkürgewalt. Sie ist in unserem Jahrhundert wieder Wirklichkeit geworden.

Nur ein jeden Sinngehaltes entkleideter Begriff von Recht und Rechtsstaatlichkeit, dem einfach jeder beliebige Befehl einer existierenden 0brigkeit als Recht und Gesetz, als Legalität gilt, weil er von der Obrigkeit herstammt, kann daher zu dem Schluß verhelfen, daß etwa im Nazireich das Recht oder die Legalität, nur eben das völkische oder NS-Recht, gegolten habe, während die Herrschaftsunterworfenen tatsächlich vollkommen entrechtet, rechtlos waren. Eben diese sinnlose Behauptung macht aber Sinn; denn sie war z.B. ein Mittel, die gerichtliche Aburteilung von Richtern und Beamten nach dem Ende des Naziregimes zu verhindern oder zu erschweren. „Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein“, sprach ein bekannter Ministerpräsident.

Totalitäre Diktaturen sind Terrorregimes, nicht lediglich in dem Sinn, daß die Menschen prinzipiell entrechtet sind und „ein Menschenleben keinen Pfifferling mehr wert ist“, wie es hieß. Sie sind Terrorregimes auch deswegen, weil sie nicht allein auf die Ausschaltung des politischen Gegners sondern darüber hinaus auf die psychische und physische Vernichtung, die Demütigung und Ausrottung der von ihnen zu Feinden und Schädlingen erklärten Menschengruppen zielen müssen, Menschen, die wie Ungeziefer vernichtet, „ausgemerzt“ werden sollen (und, nicht zu vergessen, wurden). Totalitäre Politik ist solche Vernichtungspolitik. Abgesehen von der geförderten Befriedigung sadistischer Leidenschaften, der Lust zu quälen und zu töten, zielt die systematisch betriebene Grausamkeit gegenüber den gedemütigten, unterworfenen, gefolterten und endlich hingemordeten Opfern auf Abschreckung. Totalitäre Politik ist eine terroristische Abschreckungspolitik, die jeden tatsächlichen oder vermeintlichen, aktuellen oder potentiellen Widerstand, sei es auch nur die passive Verweigerung, unmöglich machen soll. Und sie ist nicht nur Abschreckungs-, sondern zugleich Integrationspolitik, ein Bindemittel für die Träger, Anhänger und Mitläufer des Regimes. Denn die systematisch betriebene Verstrickung in die – jedenfalls in unseren Breiten – bislang als Verbrechen geltenden Taten führt zu einer Bindung an das Regime auf Leben und Tod; so „marschieren wir, bis alles in Scherben fällt“.

Fügen wir hinzu: bislang in unseren Breiten als Verbrechen geltend. Ebenso aufmerksame wie entsetzte Zeitgenossen, Rosa Luxemburg vor allem, haben schon im Blick auf Ereignisse des Ersten Weltkrieges festgestellt, daß nun im Herzen Europas zurückkehre, was die vermeintlich Zivilisierten dem Rest der Welt antaten: die in den kolonialen Gebieten eingeübten Herrschafts- und Vernichtungspraktiken nämlich, die „reißenden Bestien, die vom kapitalistischen Europa auf alle anderen Weltteile losgelassen waren, sind mit einem Satz mitten in Europa eingebrochen“. Würde „der Selbstmord der europäischen Arbeiterklasse“ nicht aufgehalten, meinte Rosa Luxemburg, müssten „die Aussichten des Sozialismus … unter den von der imperialistischen Barbarei aufgetürmten Trümmern begraben“ werden (Politische Schriften II, Frankfurt/M. 1966, S. 148 f.). Zu den Ursachen und Folgen nicht allein, jedoch wesentlich des europäischen Faschismus gehört dies: die Aussichten der sozialistischen Emanzipationsbewegung, die Hoffnungen auf eine klassenlose, befreite Zukunft wurden unter dem weit über die faschistischen Länder hinauswirkenden Schock begraben. Die Kriege, die Leiden, die Niederlagen, die 0pfer, die unverstandenen politischen Erfahrungen haben nicht nur dazu geführt, daß einige politische Unterdrückungspraktiken weit über die Kernländer des Faschismus hinaus allgemein wurden, und wir heute noch an ihnen leiden. Sie haben auch dazu geführt, daß die Menschen entmutigt wurden und sich, sei es mit der vermeintlichen Normalität bescheidener, aber im Kontrast eben enormer Verbesserungen in der Nachkriegszeit zufrieden gaben, sei es in den offensichtlich ans Ende ihrer bisherigen Wege gelangten Blöcken der Gegenwart, den Lagern des so genannten Kalten Krieges, sich verschanzten. Die Ungeheuerlichkeit der Erfahrungen totalitärer Diktatur hat diese nicht nur diskreditiert; sie hat auch gelähmt.

Wenn Jüngere von diesen Erfahrungen nicht mehr unmittelbar geprägt sind, so können sie doch auch nicht mehr an die Traditionen der älteren geschlagenen Emanzipationsbewegungen anknüpfen – von den neuen Problemen, die sich heute stellen, nicht zu reden. Jedoch: nicht nur weil die Gefolterten und Verbrannten und Ermordeten mit jedem Vergessen ein weiteres Mal hingerichtet werden, gedenken wir ihrer. 0hne die politischen Erfahrungen, die mit der Epoche des Faschismus verbunden sind, ganz ernst zu nehmen, ist für meine Begriffe auch heute keine überlegte, verantwortliche Politik möglich. Die Trias von Krise, Klassengegensätzen, Imperialismus und die Dynamik von politischer Gewalt im Innern wie nach außen gehören schließlich, bei allen veränderten Konstellationen, nicht einfach der Vergangenheit an.


Gert Schäfer: Kurzreferat während einer Veranstaltung des Instituts für Politische Wissenschaft in der Universität Hannover am 31.01.1983 zum Thema „30. Januar 1933: Komtinuität, Bruch und Folgen“ (Manuskript)


Die NSDAP und ihre politischen Wegbereiter auf dem Weg zur Diktatur – Dokumente und Beiträge

Die NSDAP

Konservativ-nationalistische Netzwerkstrukturen

Zur gesellschaftlichen Funktion der faschistischen Massenbewegung

Beiträge aus dem Internet und weitere Literaturhinweise

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