Umbrüche und Aufbrüche ab Mitte der 60er Jahre
Aufbrüche in Westdeutschland: Zwischen Revolte und Restauration
Detlef Endeward (2024)
Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist eine Geschichte tiefgreifender Wandlungsprozesse – politisch, gesellschaftlich, kulturell. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte Westdeutschland mehrere Phasen des Aufbruchs, der Kritik, der Selbstvergewisserung – aber auch der Anpassung, der Stagnation und der Restauration. Diese widersprüchlichen Entwicklungen verdichten sich besonders zwischen den 1960er und den 1980er Jahren zu einem markanten Spannungsfeld zwischen Emanzipation und Rückschritt, zwischen Demokratisierung und Reaktion.
Der Aufbruch der 1960er: Zwischen Bildungsreform und Studentenprotest
Die 1960er Jahre markieren in vielerlei Hinsicht den Beginn eines neuen politischen und gesellschaftlichen Bewusstseins in der Bundesrepublik. Der wirtschaftliche Aufschwung der Nachkriegszeit – das sogenannte „Wirtschaftswunder“ – hatte breite Teile der Bevölkerung materiell gesichert. Doch hinter der Fassade von Wohlstand und Ordnung brodelten Spannungen: Die autoritären Strukturen der alten Eliten, die mangelnde Aufarbeitung des Nationalsozialismus und die Begrenztheit demokratischer Mitbestimmungsmöglichkeiten führten zu wachsender Unzufriedenheit, insbesondere bei der jungen Generation.
Ein besonders prägnanter Ausdruck dieses Aufbegehrens war die Studentenbewegung der späten 1960er Jahre. Unter dem Schlagwort „Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren“ kritisierten Studierende die autoritären Strukturen an den Universitäten und die personelle wie geistige Kontinuität zur NS-Zeit. Dieser Satz wurde zum Symbol einer Generation, die nicht länger bereit war, die Verbrechen des Nationalsozialismus zu verschweigen oder die demokratische Rhetorik der Adenauer-Ära kritiklos hinzunehmen.
Neben der politischen Revolte war auch der Anspruch auf Bildungsgerechtigkeit zentral. Die Bildungsreformen jener Zeit, vorangetrieben von der Großen Koalition und später durch sozialliberale Regierungen, zielten auf eine Öffnung des Bildungssystems. Die Einführung der Gesamtschule, die Erweiterung der Hochschulen und die Forderung nach Chancengleichheit zeigten den Willen, auch strukturell demokratische Teilhabe zu ermöglichen.
Gleichzeitig trat eine neue, kulturell aufgeladene Jugendbewegung auf den Plan – die Hippie- und Gegenkulturbewegung. Inspiriert vom amerikanischen Civil Rights Movement, der Popkultur und neuen Formen alternativen Lebens, suchte diese Generation nicht nur politische, sondern auch subjektive und existenzielle Emanzipation. Es ging um ein anderes Leben – jenseits von Pflicht, Ordnung und Konvention.
„Mehr Demokratie wagen“: Die Ära Brandt
Mit dem Regierungswechsel 1969 begann unter Bundeskanzler Willy Brandt eine Phase, die von vielen als tatsächlicher „Aufbruch“ erlebt wurde. Die Parole „Mehr Demokratie wagen“ aus seiner ersten Regierungserklärung war mehr als nur ein politisches Versprechen – sie war ein Bekenntnis zur gesellschaftlichen Öffnung, zur Beteiligung und zur Demokratisierung des Staates.
Die sozialliberale Koalition setzte auf Reformen in zahlreichen Bereichen: Bildung, Mitbestimmung, Städtebau, Familienrecht. Besonders bedeutsam war jedoch die Ostpolitik, die durch Dialog und Annäherung an die Staaten des Warschauer Pakts den Kalten Krieg in Europa deeskalieren sollte. Verträge mit Polen und der Sowjetunion, die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und die Politik der kleinen Schritte wurden international wie national teils gefeiert, teils heftig kritisiert.
Doch auch innenpolitisch bedeutete diese Zeit eine Ausweitung demokratischer Räume: Bürgerinitiativen entstanden, Umwelt- und Frauenbewegungen formierten sich, und das Bewusstsein für soziale, ökologische und kulturelle Verantwortung wuchs. Die Entstehung der ersten Grünen-Gruppen in den späten 1970ern war nicht zuletzt ein Ergebnis dieser kulturellen Politisierung.
Grenzen des Aufbruchs: Krise, RAF und Atomdebatte
Doch der Aufbruch stieß bald an seine Grenzen. Mit der Ölkrise 1973 endete das Wirtschaftswunder abrupt, und die Erfahrung zeigte: Kapitalismus ist nicht krisenfrei. Arbeitslosigkeit, Inflation und wachsender Sozialabbau untergruben die soziale Basis, auf der viele Reformen beruht hatten. Die Idee eines gerechten und solidarischen Fortschrittsmodells geriet ins Wanken.
Gleichzeitig radikalisierten sich Teile der Studenten- und Protestbewegung. Die Entstehung der Rote Armee Fraktion (RAF) und ihre Gewaltstrategie gegen Staat, Kapital und „imperialistische Strukturen“ zeigten die gefährliche Sackgasse, in die ein kleiner Teil der Bewegung geraten war. Der sogenannte „Deutsche Herbst“ 1977 mit Entführungen, Morden und staatlicher Gegengewalt markierte eine Zäsur: Der Staat reagierte mit massiver Repression, während viele Bürger:innen sich entsetzt abwandten.
Auch die aufkommende Antiatombewegung – zunächst gegen Atomkraft, später gegen Atomwaffen – zeigte, dass die gesellschaftlichen Konfliktlinien sich weiter zuspitzten. Hunderttausende Menschen demonstrierten in den 1980er Jahren gegen die Stationierung neuer Mittelstreckenraketen (Pershing II, SS-20) im Rahmen des NATO-Doppelbeschlusses. Die Friedensbewegung, getragen von Kirchen, Bürgerinitiativen und linken Gruppen, wurde zum größten zivilgesellschaftlichen Protest seit der Nachkriegszeit.
Von der Aufbruchsstimmung zur „geistig-moralischen Wende“
In den 1980er Jahren setzte sich schließlich ein gegenläufiger Trend durch. Mit dem Regierungsantritt von Helmut Kohl 1982 wurde die sogenannte „geistig-moralische Wende“ ausgerufen – ein konservativer Rückgriff auf traditionelle Werte, familiäre Rollenbilder, nationale Identität und wirtschaftsliberale Deregulierung. Die Reformenergien der 1970er Jahre wurden gezielt abgebremst, vielfach zurückgenommen.
Kulturell und gesellschaftlich bedeutete dies eine Phase der Stagnation und Entpolitisierung. Die neuen sozialen Bewegungen verloren an Einfluss, während Markt und Konsum zur bestimmenden gesellschaftlichen Leitidee wurden. Der Neoliberalismus setzte sich – im Einklang mit dem internationalen Trend – zunehmend durch, insbesondere in der Wirtschaftspolitik.
Die politischen Versprechen der 1960er und 1970er – Demokratie, Gerechtigkeit, Frieden, Teilhabe – wichen einer zunehmend technokratischen, entideologisierten Regierungsführung. Der Staat zog sich aus sozialen Bereichen zurück, die gesellschaftliche Ungleichheit wuchs, und viele der einst politisierten Menschen wandten sich resigniert ab.
Kultur als Spiegel des Wandels: Vom „Opa-Kino“ zur Fernsehnation
Auch die Kultur spiegelte diesen Wandel. In den 1960er Jahren wurde das alte, staatstreue und unkritische Kino der Nachkriegszeit („Opas Kino“) von jungen Filmemachern wie Alexander Kluge, Rainer Werner Fassbinder oder Volker Schlöndorff herausgefordert. Der Neue Deutsche Film wagte sozialkritische, formal innovative und politische Erzählungen – ein filmischer Aufbruch, der international beachtet wurde.
Gleichzeitig begann das Fernsehen, das bereits in den 1950er Jahren eingeführt wurde, seinen Siegeszug in die Wohnzimmer. In den 1970er und 80er Jahren wurde es zum Leitmedium der westdeutschen Gesellschaft – zunächst mit öffentlich-rechtlichen Programmen, später mit kommerziellen Angeboten. Diese Entwicklung trug wesentlich zur Entpolitisierung der Öffentlichkeit bei, aber auch zur Verbreitung von Alltagskultur, Unterhaltung und medialem Konsumverhalten.
Ambivalenz des Aufbruchs
Die Aufbrüche in Westdeutschland zwischen den 1960er und 1980er Jahren waren von großer Bedeutung für die Demokratisierung und kulturelle Öffnung der Bundesrepublik. Die Studentenbewegung, die Bildungsreformen, die Entspannungspolitik und die sozialen Bewegungen schufen neue Räume der Partizipation und Emanzipation. Gleichzeitig aber zeigen diese Entwicklungen auch die Begrenztheit von Aufbrüchen, wenn sie nicht in strukturelle Veränderungen münden.
Die Rückkehr konservativer und neoliberaler Kräfte in den 1980ern markiert nicht nur das Ende einer Epoche, sondern auch die Verletzlichkeit von Fortschritt: Was demokratisch errungen wurde, kann auch wieder verloren gehen. Aufbrüche bleiben fragil – sie brauchen nicht nur den Willen zur Veränderung, sondern auch die Ausdauer, die Machtverhältnisse zu verändern, die Veränderung verhindern.
Historische Themen
Kaiserreich, Imperialismus und Erster Weltkrieg
Die 50er Jahre: Kalter Krieg und Wiederaufbau
Umbrüche und Aufbrüche seit der Mitte der 60er Jahre
Die 80er Jahre in Ost und West
Deutschland nach der Wiedervereinigung