Filmproduktion in der Nachkriegszeit und Beginn der Premierenkultur

Peter Struck (2023)

Wie kommt es zu dieser Entwicklung? Um den einst mächtigen UFA-Konzern zu zerschlagen, verfolgen die Alliierten beim Wiederaufbau der deutschen Filmindustrie ein dezentrales Konzept. Weil es auf dem Gebiet der britischen Besatzungszone vor 1945 keine bedeutenden Filmproduktionsstätten gab, entstehen die beiden Neugründungen eher zufällig am nördlichsten und südlichsten Ende des neuen Bundeslandes: 1946 wird in Göttingen die Film-Aufbau GmbH gegründet, 1947 die Junge Film Union in Bendestorf in der Nordheide. Weil ein großer Teil der frühen Nachkriegsfilme in diesen beiden Studios gedreht wird, werden diese Filme in der Landeshauptstadt auch oft uraufgeführt.

Göttingen ist über eine Dekade ein wichtiges Zentrum der deutschen Filmindustrie. Im Sommer 1946 beginnen die Bauarbeiten auf einem ehemaligen Militärflugplatz in Göttingen-Grone, im August 1948 werden dort die modernsten Atelieranlagen der Zeit eingeweiht. Der erste Film aus Göttingen, der kritische Trümmerfilm LIEBE 47 nach Wolfgang Borcherts Draußen vor der Tür, erweist sich zwar als Flop, aber mit dem zweiten Film NACHTWACHE avanciert Hauptdarsteller Dieter Borsche über Nacht zum Star. Anschließend geben sich hier sämtliche Größen des deutschen Nachkriegsfilms die Klinke in die Hand. Bald hat die Filmproduktionsfirma den Ruf, ein »Hort des problemorientierten Spielfilms« zu sein. Beachtliches Renommee verschaffen der Film-Aufbau GmbH anspruchsvolle Gesellschaftssatiren wie WIR WUNDERKINDER und Adaptionen von Werken deutscher Literatur, allen voran die Thomas-Mann-Verfilmungen KÖNIGLICHE HOHEIT, BEKENNTNISSE DES HOCHSTAPLERS FELIX KRULL und DIE BUDDENBROOKS.

Bereits im März 1949 wird die Produktionsfirma aus der Ateliergesellschaft herausgelöst. Der Verkauf der Atelieranlage erweist sich als glückliche Fügung, denn jetzt mieten Produktionsfirmen aus Berlin, Hamburg und München die modernen Studios für ihre Produktionen. So entstehen in Göttingen bis 1961 rund 100 Spielfilme, darunter acht Komödien mit Heinz Erhardt wie WITWER MIT FÜNF TÖCHTERN, NATÜRLICH DIE AUTOFAHRER und DRILLINGE AN BORD, der Thriller ROSEN FÜR DEN STAATSANWALT 0der der Antikriegsfilm HUNDE, WOLLT IHR EWIG LEBEN? In Bendestorf verfilmt man anfangs auch ernsthafte Themen und schwierige Stoffe, für einen handfesten Skandal sorgt damals DIE SÜNDERIN mit Hildegard Knef. Ansonsten entstehen hier bis 1961 etwa 60 eher heitere Filme, vor allem Komödien mit Theo Lingen und Grethe Weiser, Revue-filme wie DIE CSARDASFÜRSTIN, GITARREN DER LIEBE oder WUNSCHKONZERT mit Zarah Leander und Johannes Heesters, Vico Torriani und Marika Rökk, schließlich auch Jerry Cotton- und Edgar Wallace-Krimis.

Ein schwerer Verkehrsunfall des Produzenten Rolf Meyer sorgt Ende 1951 für eine mehrmonatige Produktionspause und große finanzielle Verluste in den Bendestorfer Studios. Die seit längerem angespannte Finanzlage der Jungen Film Union spitzt sich immer weiter zu, die niedersächsische Landesregierung versagt der insolventen Filmfirma schließlich weitere Kredite und übernimmt auch keine Bürgschaften mehr: Die produktionsstärkste Filmgesellschaft in Niedersachsen muss 1952 Konkurs anmelden. In den lediglich fünf Jahren ihres Bestehens hatte die Junge Film Union 20 Filme produziert. Nach der Verpachtung der Bendestorfer Ateliers bleibt diese Produktionskapazität weiter bestehen, allerdings werden die etwa 40 Filme der nächsten zehn Jahre von über 20 verschiedenen Firmen produziert. 1961 wird der Atelierbetrieb in Bendestorf für einige Jahre eingestellt, im selben Jahr werden die Atelieranlagen in Göttingen für immer geschlossen. Bereits im Jahr zuvor war die Film-Aufbau GmbH nach München umgezogen: Die Filmwirtschaft reagiert damit auf die zunehmende Konkurrenz des Fernsehens und konzentriert die Filmproduktion auf die traditionellen Filmstädte. Niedersachsen gibt seine Pionierrolle der ersten Nachkriegsjahre ab, das Gefüge der Produktionsstätten verlagert sich komplett nach München, Hamburg und Berlin.

Ab 1948 nimmt die deutsche Filmproduktion allmählich Fahrt auf: Zwischen 1948 und 1950 verfünffacht sich die Zahl der deutschen Filme von 12 auf 65, aber noch immer beherrschen ausländische Produktionen den Spielplan. Erst zu Beginn der fünfziger Jahre hat der deutsche Film einen Marktanteil von etwa 50 Prozent, damals werden über 120 deutsche Filme im Jahr gedreht. Ausschlaggebend für diese Entwicklung ist die Abschaffung der Vorzensur für neue deutsche Filme in der britischen Zone. Ab Herbst 1948 ist der Weg frei in der Wahl der Filmstoffe: Als wäre ein Schalter umgelegt worden, folgt auf die schwere Kost der Trümmerfilme nun fast übergangslos die unbeschwerte Unterhaltung.

Lediglich drei Filme, die zu Beginn des Premierenbooms im Palast-Theater uraufgeführt werden, verfolgen dabei einen Mittelweg zwischen den beiden Extremen: Rudolf Jugerts intelligenter und selbstreflexiver FILM OHNE TITEL, der die berechtigte Frage stellt, ob man in diesen ernsten Zeiten überhaupt einen heiteren Film drehen darf, Gustav Fröhlichs Trümmer-Rührstück WEGE IM ZWIELICHT und Robert Adolf Stemmles Satire BERLINER BALLADE. Dass die schwierige Balance nicht immer gelingt, zeigen die Reaktionen der jugendlichen Zuschauer auf WEGE IM ZWIELICHT, einem durchaus ambitionierten Werk, das die Jugendlichen mit der Kriegsgeneration versöhnen möchte. So berichtet der Spiegel im April 1948: »Gustav Fröhlich mußte sich eigenhändig ins Zeug legen, bevor die Uraufführung der ›Wege im Zwielicht‹ vor sich gehen konnte. Im hannoverschen Palast-Theater blieb der Vorhang stecken, Gustav Fröhlich zog ihn auf. ›Das fängt ja gut an‹, sagte er. […] Bei der Uraufführung und an den nächsten Tagen ging der Film dem Publikum gut ein. Am Mittwoch gab es Skandal. Es waren junge Leute, Primaner hannoverscher Schulen, die riefen und pfiffen. […] Ganz zum Schluß noch einmal ein Furioso des Protestes. Vor dem Theater schlugen zwei Damen temperamentvoll auf einen schmächtigen Jüngling ein. Er hatte gepfiffen, mit Trillerpfeife. Sie lehnten das Drehbuch ab, erklärten die jungen Leute, die Verquickung eines ernsten Themas mit ›sentimentalem Blödsinn‹«.

Nach diesem kurzen Zwischenspiel verlagert sich der Tenor der Nachkriegsfilme auf die leichte Kost der Unterhaltungsfilme, die nach dem immer gleichen Muster gestrickt sind. Bald ähneln sich sogar die Titel der Filme, die gern die gleichen, bewährten Wortbausteine verwenden. Zum Kinoboom der fünfziger Jahre trägt vor allem die heile Welt der Heimatfilme bei: Die einfachen und vorhersehbaren Handlungsmuster bieten die ideale Projektionsfläche, um dem tristen und beschwerlichen Nachkriegsalltag zu entfliehen. Nach der verklärten Welt des ländlichen Lebens stehen bald Kostümfilme und Musikrevuen im Mittelpunkt der deutschen Filmproduktion: Im jährlichen Turnus entstehen Kassenschlager wie SCHLAGERPARADE (1953), GITARREN DER LIEBE (1954) oder EIN HERZ VOLL MUSIK (1955). Uraufführungen ernsthafter Werke oder großer Dramen wie DIE SCHULD DES DR. HOMMA oder HUNDE, WOLLT IHR EWIG LEBEN? wechseln sich im Palast-Theater ab mit Schmonzetten wie GRÜN IST DIE HEIDE, ROT IST DIE LIEBE oder WO DIE ALTEN WÄLDER RAUSCHEN. Im Laufe der fünfziger Jahre verlagert sich das Gewicht immer mehr auf heitere und realitätsferne Ausstattungssfilme. Bei den über 40 Uraufführungen in den Weltspielen ist diese Tendenz noch ausgeprägter. Unter der Headline »Hannover: Heiterkeit sehr gefragt« berichtet Der neue Film noch im April 1957: »Der überragende Erfolg des heiteren Käutner-Films ›Die Zürcher Verlobung‹ war das jüngste bemerkenswerte Ereignis in der Berichtszeit. Ein anderer Beweis dafür, wie sehr Heiterkeit gefragt ist: die Komödie ›Ladykillers‹ ging in die neunte Woche.«

Der Gehalt der meisten Filme steht damit im Gegensatz zum Budenzauber, der um sie veranstaltet wird. Wichtiger als die Filme selbst werden bald der Starkult und sein Medienrummel. Spätestens 1949, als die Weltspiele in Konkurrenz zum Palast-Theater treten, sorgen kuriose Werbemaßnahmen zunehmend für Aufmerksamkeit. Zur Erstaufführung von DAS VERLORENE GESICHT lässt die Geschäftsführung des Palast-Theaters »in den ersten Tagen nach Spielbeginn eine Kolonne von vier fahrbaren Litfaßsäulen durch die Straßen ziehen, die überall Aufsehen erregte«. Die beste Werbung für die Filme sind jedoch ihre Hauptdarsteller, und so versucht man bald, möglichst viele bekannte Schauspieler für die begehrten Erst- oder Uraufführungen zu gewinnen oder gar für die Neueröffnung eines Lichtspielhauses. Zur Premiere von DIESER MANN GEHÖRT MIR, mit der der neu gestaltete Gloria-Palast im Juli 1950 wiedereröffnet wird, kommen z. B. die Hauptdarsteller Winnie Markus und Rudolf Platte. Um 13 Uhr wird ein Empfang im Rheinischen Hof gegeben, um 16.30 Uhr folgt ein Pressetee im Gloria-Palast, um 18.30 Uhr ist schließlich Eröffnung des neugestalteten, festlich geschmückten Hauses: Winnie Markus und Rudolf Platte durchschneiden ein vor den Vorhang gespanntes Band, nach der Vorstellung begrüßen die beiden Darsteller die Gäste. Auch am darauffolgenden Freitag zeigen sich die Schauspieler nach den beiden Abendvorstellungen auf der Bühne. Bereits am Nachmittag dürfen zwölf durch das Los ermittelte »hp«-Leser, sechs Damen und sechs Herren, Winnie Markus und Rudolf Platte bei einer Kaffeestunde in der Redaktion der Hannoverschen Presse hautnah erleben.

Schon nach kurzer Zeit wetteifern zahlreiche Uraufführungen deutscher Unterhaltungsfilme in Anwesenheit der Hauptdarsteller um die Gunst des Publikums. Die Besuche diverser Filmstars sorgen schließlich für Besucherrekorde bei den Premieren, wo Tausende von Fans und Schaulustigen vor den Lichtspieltheatern nicht selten den Verkehr zum Erliegen bringen. So berichtet die Hannoversche Presse im Oktober 1950: »Es will scheinen, als sei Hannover eine Filmstadt, obwohl es keine Filmateliers hat. Aber durch festliche Filmuraufführungen vieler Art hat es in letzter Zeit oft von sich reden gemacht, und am Freitag, 6. Oktober, 18.15 Uhr, wird wieder ein Film von Hannover aus seinen Weg durch die Lichtspielhäuser der anderen Städte antreten. In den ›Weltspielen‹ wird der Brigitte-Horney-Film ›Melodie des Schicksals‹ in Anwesenheit der Hauptdarsteller uraufgeführt, und es ist ein Ereignis, das auch in Hamburg bei der ›Jungen Film Union‹, die den Streifen herausbringt, so gespannt erwartet wird, daß die zur Zeit dort filmenden Künstler ebenfalls nach Hannover kommen und sich die Uraufführung ansehen werden« (HP vom 5.10.1950).

Über die Entwicklung eines regelrechten hannoverschen Premierenfiebers berichtet die Hannoversche Allgemeine Zeitung im Februar 1952: »Hannover ist eine der filmfreudigsten Städte in der Bundesrepublik. Der besonderen Initiative der Theaterbesitzer verdanken die Hannoveraner die nettesten und amüsantesten Einfälle anläßlich von Ur- und Erstaufführungen. Dieser enge Kontakt zwischen Künstlern und Theaterbesitzern ermöglichte es, daß sich 60 Filmlieblinge ihren hannoverschen Filmfreunden persönlich vorstellten, u. a. Marika Rökk, Sonja Ziemann, Maria Holst, Heidemarie Hatheyer, Ingrid Andree, Dieter Borsche, Rudolf Prack. Und was sieht der Hannoveraner am liebsten? Von den 774 Filmen, die 1951 in Hannover gelaufen sind, führt der Unterhaltungsfilm mit 196 vor Wildwest- und Abenteurerfilmen (142), Kriminalfilmen (94), Lustspielen (84) und Musikfilmen (82). Der problematische Film (60) erreichte die 6. Stelle« (HAZ vom 23./24.2.1952).

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