Kollektive Mentalitäten in der frühen Bundesrepublik

Verlust moralischer Maßstäbe, die Flucht aus der bedrückenden Realität in die Geschäftigkeit, die Verwechslung von Tatsachen und Meinungen

Irmgard Wilharm (1995)

Hannah Arendt reiste im Zusammenhang mit ihrer Arbeit für die Commission on European Jewish Cultural Reconstruction von August 1949 bis März 1950 durch die gerade gegründete Bundesrepublik. In dem im Herbst 1950 veröffentlichten Bericht1 sind faszinierende Beobachtungen über die Menschen enthalten, über ihre fieberhafte Geschäftigkeit, über Formen von Realitätsverlust, über moralische Verwirrung, über die Verwechslung von Tatsachen und Meinungen:

,Auf allen Gebieten gibt es unter dem Vorwand, daß jeder das Recht auf eine eigene Meinung habe, eine Art Gentlemen’s Agreement, dem zufolge jeder das Recht auf Unwissenheit besitzt – und dahinter verbirgt sich die stillschweigende Annahme, daß es auf Meinungen nun wirklich nicht ankomme.“

Die große Gefahr dieser Verwirrung sieht Hannah Arendt darin, daß „der Durchschnittsdeutsche ganz ernsthaft glaubt, dieser allgemeine Wettstreit, dieser nihilistische Relativismus gegenüber Tatsachen sei das Wesen der Demokratie. Tatsäch­lich handelt es sich dabei natürlich um eine Hinterlassenschaft des Naziregimes.“ (S. 30) Um den hier konstatierten Zusammenhang zwischen kollektiven Bewußtseins­lagen und Schwierigkeiten der Demokratisierung soll es im folgenden gehen. Hannah Arendts Beschreibungen beruhen auf Gesprächen mit alten und jungen Deutschen, mit Flüchtlingen und Einheimischen, mit Angehörigen verschiedener Sozial- und Bildungsschichten, mit „guten“ Deutschen und mit solchen, die ihre Beteiligung an Nazi-Deutschland gar nicht reflektieren. Aus dieser Gemengelage ergibt sich ein Bild, das die deutsche Nachkriegsgesellschaft auf einer Ebene kennzeichnet, die Schlüsse auch auf die potentiellen Reformkräfte zuläßt. Hannah Arendt benutzte das einpräg­same Bild von den Deutschen, „wie sie geschäftig durch die Ruinen ihrer tausendjäh­rigen Geschichte stolpern,“ und hält diese Geschäftigkeit für die „Hauptwaffe bei der Abwehr der Wirklichkeit“. (S. 35) Auch die Deutschen, die „anders“ sind, leiden unter diesen Bedingungen, denn „sie verbrauchen ihre ganze Energie“, die bedrückende Atmosphäre um sie herum zu durchbrechen, und sind isoliert. (S. 38) Überdies habe der Zwang, den Nazialltag zu überstehen und sich nicht durch „automatische Reak­tionen“ zu verraten, zu einer Verwirrung geführt, die solche Reaktionen auch in einer anderen Gesellschaft ausbleiben lasse:

„Die tiefe moralische Verwirrung im heutigen Deutschland, die aus diesem von den Nazis fabrizierten Durcheinander von Wahrheit und Wirklichkeit hervorgegangen ist, läßt sich nicht mehr mit dem Begriff Unmoral fassen, und ihre Ursachen liegen tiefer als in bloßer Bösartigkeit. Die sogenannten ,guten Deutschen‘ gehen, wenn sie über sich oder andere moralisch urteilen, oft genauso fehl wie jene, die einfach nicht zur Kenntnis nehmen wollen, daß von den Deutschen etwas Schlimmes oder Außergewöhnliches angerichtet wurde.“ (S. 46)

Der Verlust moralischer Maßstäbe, die Flucht aus der bedrückenden Realität in die Geschäftigkeit, die Verwechslung von Tatsachen und Meinungen — mit diesen Beob­achtungen bezeichnet Hannah Arendt Grundzüge von Mentalitäten im Nachkriegs­deutschland, ohne den Begriff zu benutzen. Ich verwende ihn im Sinn von Kracauers Definition: „Kollektivdispositionen oder Tendenzen, die sich innerhalb einer Nation in einem gewissen Stadium in ihrer Entwicklung durchsetzen.“2 Mit dieser Formulie­rung grenzt Kracauer seinen Mentalitätsbegriff gegen mögliche Mißverständnisse als Nationalcharakter oder dergleichen ab. Mentalitäten in diesem Sinne sind keine kurzlebigen Erscheinungen. Nach Hannah Arendts Beobachtungen 1949/50 müßten sich Grundzüge dieser Art auch für die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre nachweisen lassen.


Aus: Irmgard Wilharm: Filme mit Botschaft und kollektive Mentalitäten in der frühen Bundesrepublik. In: Karsten Rudolph, Christl Wickert (hg.): Geschichte als Möglichkeit. Über die Chancen von Demokratie. Festschrift für Helga Grebing, Essen 1995, S. 290-306 (hier: S. 290/91)

Hannah Arendts Bericht wurde zuerst im Herbst 1950 in der amerikanischen Zeitschrift Commentary veröffentlicht. In diesem Text liegt die deutsche Übersetzung mit dem Titel „Besuch in Deutschland“ zugrunde. Zitiert wird nach dem jüngsten Nachdruck: Hannah Arendt: Besuch in Deutschland, Berlin 1993.

 

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