(Nach)Kriegsgeschichten und ihre Verfilmungen im Literaturunterricht

Wir sind die Generation ohne Glück, ohne Heimat und ohne Abschied

Die Kurzgeschichten „Auf der Flucht“ von Wolfdietrich Schnurre sowie „Das Brot“ ,Nachts schlafen die Ratten doch“ und „Jesus macht nicht mehr mit“ von Wolfgang Borchert gehören zu den wichtigen literarischen Verarbeitung von Alltagserfahrungen im Krieg. Die beschriebenen Extremsituationen sind jedoch nicht nur auf Kriegszeiten beschränkt, viele Menschen haben zum Beispiel in der Nachkriegszeit ähnliche Erfahrungen durchmachen müssen. In ihrer knappen sowie treffenden Sprache und der Dichte der menschlichen Erfahrungen in Extremsituationen sprechen sie auch die heutige Schülergeneration an. Auch wenn ihr die Erfahrungen von Not, Hunger und Elend fehlen, so erlangen die Geschichten durch die Kriegsbilder zum Beispiel aus der Balkanregion eine ungeahnte Aktualität.

Da die Texte menschliche Grunderfahrungen aufnehmen, sind folgerichtig Brot- und Flucht-Geschichte nicht eindeutig zeitlich zu bestimmen. Nur die Borchert-Geschichte Nachts schlafen die Ratten doch spielt auf jeden Fall in der Kriegszeit, da der Junge den Tod seiner Familie als Folge eines Bombenangriffs zu verarbeiten hat.

Mit „Trümmerliteratur“ oder „Kahlschlagliteratur“ werden die in der unmittelbaren Nachkriegsphase entstandenen Geschichten und Gedichte meist in eine bestimmte Kategorie eingeordnet. Sie mögen irreführend und einengend sein, doch sie drücken auch Wahrheiten aus. Für die jüngeren Nachkriegsautoren wie Schnurre und Borchert, 1920 bzw. 1921 geboren, die zwar schon vor dem Krieg anfingen zu schreiben, begann die eigentliche Schaffensperiode erst nach dem Krieg. Die Diktatur- und Kriegserfahrungen waren daher die prägenden Elemente in ihrem Leben. Nun, tagsüber arbeitete ich bei einem Bauern (…) Es war Frieden. Meine ersten Geschichten, „Das Begräbnis“ zum Beispiel, habe ich nachts auf einer umgedrehten Krippe geschrieben. An Schlaf war nicht zu denken, denn alles, was man so lange verdrängt hatte, kam nun wieder hoch. Es war wie Gully-Wasser, was hochsickert und abfließen muss, damit man wieder Grund unter den Füßen bekommt.

Schreibend versuchten sie, die Erlebnisse und Grenzerfahrungen wie Tod, Hunger und Verzweiflung zu verarbeiten. Schnurre erlebte diese Steinzeiterfahrungen als existenzielle Bedrohung, die die Person auf Null hobelte. Wie konnten jedoch diese Erfahrungen überzeugend und wahrhaftig vermittelt werden? Die deutsche Sprache hatte ihre Unschuld verloren, wenn sie denn vorher eine hatte: Denn die Sprache war es ja gewesen, die sich zuerst hatte verführen lassen. Und sie war nicht nur zur Soldatenhure, sie war auch zum narzisstischen Spitzenreiter geworden.

Viele Autoren tasteten sich langsam formulierend vor, probierten Beschreibungen und Ausdrücke – ständig misstrauisch gegenüber den eigenen Versuchen. Immer wiederkehrende Themen in den Texten waren Steinzeiterfahrungen wie Hunger und Flucht – Vertriebensein wie Abwendung von der Realität – sowie existenzielle Elementarerfahrungen der Schuld und der Perspektivlosigkeit. Schnurre und Borchert finden sich mit ihren Kurzgeschichten in diesem Kontext wieder und haben diese Erfahrungen eindrücklich festgehalten.

Die erste Fassung dieser Kurzgeschichte veröffentlichte Schnurre 1950 in dem Band Die Rohrdommel ruft jeden Tag unter dem Titel Das Brot. In späteren Veröffentlichungen veränderte Schnurre den Titel, sicherlich um einmal eine Verwechslung mit der Erzählung „Das Brot“ von Borchert zu vermeiden, andererseits um durch den Titel keine thematische Einengung vorzunehmen. Übrigens stellten auch andere Autoren Brot in den Mittelpunkt ihrer Hunger-Geschichten – zum Beispiel Herbert Rochs Geschichte Tausend Gramm – um mit diesem Grundnahrungsmittel die Grundsätzlichkeit dieser Kriegs- und Nachkriegserfahrung zu veranschaulichen.

Die Verfilmungen der Kurzgeschichten halten sich in weiten Teilen relativ eng an die literarischen Vorlagen. Allerdings hat der Regisseur Wolfgang Küper eine Beziehung zwischen den drei Texten gesehen, die weitreichende Konsequenzen zur Folge hat: Er hat aus drei eigenständigen Kurzgeschichten von verschiedenen Autoren eine Fortsetzungsgeschichte montiert. Indem er sie zeitlich nacheinander angeordnet hat, zeigen die drei Filme denselben alten Mann (gespielt von Achim Grubel) in drei wichtigen Phasen seines Lebens: In der Kriegszeit der Verfolgung und des Hungerns (Das Brot), auf der Flucht mit seiner Frau und seinem Sohn (geänderter Titel des Films: Die Flucht) und bei der Entdeckung eines verwaisten Jungen in einer Ruinenlandschaft (geänderter Titel des Films: Nachts schlafen die Ratten). Diese Fortsetzungskonstruktion hat natürlich Rückwirkungen auf die drei Ursprungsgeschichten. Am deutlichsten wird das vielleicht in der Ratten-Verfilmung. Der Mann sieht in dem Jungen seinen Sohn, der auf der Flucht verhungert war. Alle Bemühungen um den Jungen müssen so auf dem Hintergrund einer „Wiedergutmachung“ gesehen werden.

Die Verfilmung der drei wichtigen Kriegs- bzw. Nachkriegsgeschichten bietet dem Literaturunterricht besondere Chancen:

  1. Jede Verfilmung stellt eine Übertragung vom Wort-Medium in das Bild-Medium dar. Wie jede Übersetzung kann die filmische Übertragung nur eine Interpretation sein.
  2. Die drei eigenständigen Kurzgeschichten hat der Regisseur zu einem Handlungsstrang verbunden: das Schicksal einer Familie im 2. Weltkrieg. Die Geschichten zeigen damit nicht mehr isolierte Schlaglichter auf Grenzerfahrungen wie Hunger und Schuld, die auch auf andere Extremsituationen zu übertragen sind, sondern die Erfahrungen eines Mannes in einer ganz bestimmten Zeit unter bestimmten politischen Bedingungen.
  3. Der Regisseur Wolfgang Küper hat einige Verhaltensweisen der Personen aus seiner Perspektive so gedeutet, dass zumindest die Frage gestellt werden muss, ob die Personen in der literarischen Vorlage so angelegt sind.

 


Literaturverfilmungen sind Interpretationen

Seitdem es Verfilmungen von literarischen Texten gibt, bewegt die Zuschauer die Frage der Übereinstimmung von Worten und Bildern. Obwohl es sich offensichtlich um zwei verschiedene Medien handelt, die jeweils mit unterschiedlichen Sprachen arbeiten, entscheidet für viele Zuschauer und Leser auch heute noch die Nähe zur literarischen Vorlage über die Qualität der Verfilmung.

Dabei macht die jeweilige „Sprache“ und ihre Darstellungsmöglichkeiten die Unterschiede doch schnell deutlich:

  • der Text arbeitet mit Wörtern – der Film mit Bildern, Geräuschen und gesprochener Sprache
  • Wörter können abstrakt erzählen, können mit wenigen Worten in der Zeit vor und zurück springen – Bilder erzählen zunächst nur konkret, zur Darstellung abstrakter Zusammenhänge und für Zeitsprünge sind Umwege notwendig
  • der Text entwickelt linear, aufeinanderfolgend Handlungen, Reflexionen, Gedankengänge und innere Monologe von Personen – der Film kann in Bildern und Geräuschen Situationen, Stimmungen und Handlungen gleichzeitig darstellen
  • der Text kann von außen beobachten und sich in Personen hineinversetzen – der Filmkamera bleibt letztlich nur der Blick von außen, auch wenn sie versuchen kann, sich den inneren Vorgängen einer Person zu nähern.

Ein Film kann also eine Erzählung oder einen Roman nicht einfach übernehmen. Die Umwandlung ist nie bruchlos möglich, da der Schriftsteller und der Regisseur ganz unterschiedliche Zeichensysteme zur Verfügung hat: „Jeder von uns hat also ein Wörterbuch im Kopf (…).Es ist lexikalisch unvollständig, aber perfekt im praktischen Gebrauch. (…) Für den Filmautor ist der im Wesen verwandte Vorgang viel komplizierter. Es gibt kein Wörterbuch der Bilder. Es gibt kein gebrauchsfertiges, konserviertes Bild. (…) Der Filmautor besitzt also kein Wörterbuch, sondern unbegrenzte Möglichkeiten: er nimmt seine Zeichen (Bildzeichen) nicht aus dem Schrank, dem Koffer oder einem Safe, sondern aus dem Chaos, in dem sie nur vage Möglichkeiten sind oder Schatten einer mechanischen oder onirischen Kommunikation.“

Die buchhalterische Überprüfung des Films mit dem Text in der Hand hat seine Ursache offenbar in der Aneignungsweise von Texten durch seine Leser. Beim Rezeptionsprozess entstehen Vorstellungen und Bilder im Kopf des Lesers, die der Autor nur zum Teil zu verantworten hat. Häufig lösen schon spärliche sprachliche Andeutungen ganz eigene Bilder beim Leser aus: Zum Beispiel lassen wenige Details zum Äußeren einer Person und zu seinem Charakter einen bestimmten Menschentyp entstehen, kurze Beschreibungen von Örtlichkeiten werden zu konkreten Bildern von einem bestimmten Ort ergänzt. Diese Bilder der Leser stoßen in der Literaturverfilmung mit den Bildern des Regisseurs zusammen, wobei es Übereinstimmungen, aber häufiger eben Kollisionen geben kann.

Eine Auseinandersetzung mit den Verfilmungen führt also direkt in das Zentrum der Texte, denn die Art der Übertragung in das Film-Medium muss am Text belegt werden. Die Filmsprache wird damit in ihren Leistungen und Begrenzungen so ernst genommen wie die Texte.


Eine filmische Fortsetzungsgeschichte – Aufbau der Trilogie

Der Regisseur Wolfgang Küper geht in seiner filmischen Umsetzung der drei „Trümmergeschichten“ einen ganz besonderen Weg, den ein Filmemacher wohl bisher noch nicht gegangen ist. Er verfilmt zwar jede Geschichte für sich, weitet jedoch die Handlungen sowie die Charakterzeichnungen der Personen so aus, dass die drei Geschichten in Beziehung treten: Es entsteht die Geschichte einer Familie im Dritten Reich.

In dem ersten Teil seiner Trilogie, der Geschichte Das Brot, versucht Küper, die gesellschaftliche Situation der Bezugszeit der Geschichte zu verdeutlichen. Den Personen verleiht er außerdem insofern ein Gesicht, indem er sie in einer bestimmten Situation im Dritten Reich verortet. Den Ehemann bewegen aufgrund der Versorgungslage, aber vor allem aufgrund der politischen Verfolgung so sehr Fluchtgedanken, dass er sich auf dem Schwarzmarkt einen Globus kauft. Die Versuche, auf dem Globus spielerisch einen Fluchtort zu finden, enden zu seinem großen Erstaunen jedoch immer wieder in Deutschland. Nachdem der Vater seinen Sohn mit einem Gute-Nacht-Lied zu Bett gebracht hat, nimmt der Film das Thema der Borchert-Geschichte auf: der Manne isst nachts heimlich in der Küche vor lauter Hunger Brot und wird von seiner Frau entdeckt. Beide überspielen den Vorgang und gehen wieder ins Bett.

Der zweite Teil Die Flucht hält sich vom Ablauf der Handlung eng an die Schnurre-Vorlage. Ein Ehepaar mit Sohn ist auf der Flucht und muss vor Erschöpfung Rast einlegen. Im Hintergrund sind Schüsse zu hören. Der Mann organisiert einen Laib Brot, der ihm aber im Regen aufzuweichen droht. Daraufhin isst er ihn auf. Nach der Rückkehr zu seiner Familie muss er feststellen, dass sein Sohn gestorben ist. Durch die Identität der Schauspieler und die Fortführung von Handlungssträngen aus der Brot-Geschichte kann diese Fluchtepisode auch in die Filmtrilogie dieser Familie im Dritten Reich eingeordnet werden: Die zunehmenden Verfolgungen unter der Naziherrschaft haben offenbar dazu geführt, dass die Familie geflohen ist. Die Ahnungen des Mannes in der Brot-Geschichte sind wahr geworden. Wiederum spielt das Brot eine wichtige Rolle, wieder isst der Mann das Brot, welches seine Familie dringend zum Überleben benötigt.

Der dritte Teil beginnt, nach einem dokumentarischen Einschub zur Wirkung der Bombardierungen in Deutschland, mit einer „Tiergeschichte“: Ein Mann kümmert sich in einem z.T. zerstörten Haus um Kaninchen. Zwei Kreuze im Garten des Hauses, ein kleines und ein großes, lassen vermuten, dass seine Frau und sein Kind gestorben sind. Der nun alleinige Überlebende der Familie entdeckt bei der Futtersuche einen Jungen, der seine unter den Trümmern begrabene Familie vor den Ratten beschützen will. Dieser erinnert ihn sofort an seinen Sohn, der ungefähr das gleiche Alter hätte. Der Mann schafft es, das Vertrauen des Jungen zu gewinnen und versucht, ihm zu helfen. Auch hier kann dieses Geschehen als Teil der Filmtrilogie gesehen werden. Derselbe Schauspieler wie in den ersten beiden Teilen legt eine Fortführung der Familiengeschichte nahe. Offenbar ist ihm die Flucht nicht gelungen, seine Frau scheint auf oder nach dem Fluchtversuch gestorben zu sein. Die Kaninchen erinnern den Mann immer wieder an seinen Sohn. Als er den Waisenjungen auf den Ruinen entdeckt, kann er versuchen, die Schuld an dem Tod seines Jungen wieder gutzumachen.

Das Brot
Auf der Flucht
Nachts schlafen die Ratten doch

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