Medien-Wirklichkeit und Erfahrungsverlust

„Worüber ich nachdenken möchte, ist vielmehr der merkwürdige und bestürzende Tatbestand, dass eine zweite Wirklichkeit im Entstehen begriffen ist, eine mit eigenen Gesetzen und Verlockungen ausgestattete Medien-Wirklichkeit.“

Oskar Negt (1993)

Dass die Medien an der Beschleunigung oder Verzögerung politischer Prozesse aktiven Anteil haben, kann seit den Anfängen einer bürgerlichen Öffentlichkeit, die durch Presse, Flugblätter, Parlamentsdebatten die geheimnisumwitterten Arkanbereiche des Herrschaftssystems aufbricht, kaum bezweifelt werden; die Funktion einer politisch fungierenden kritischen Öffentlichkeit der zu Selbstbewusstsein kommenden Bürger besteht ja darin, den auf Nicht-Öffentlichkeit gegründeten Machtanspruch des Staates in Frage zu stellen und das widerständige Urteilsvermögen der Menschen zu stärken. Wenn hier von einem Medium gesprochen werden kann, dann im Sinne der Erweiterung des öffentlichen Ausdrucks der Interessen und Bedürfnisse von Menschen, die unter bestehenden Verhältnissen nur wenig Kanäle, Röhren, Straßen und Wege vorfinden, ihre Meinungen und Weltauffassungen geltend zu machen.

Eine völlige Verdrehung dieser aus dem Geist der Kritik und des Widerspruchs von unten geborenen Öffentlichkeit wäre es, wenn die Herrschaftsapparate des Staates, der Parteien oder mächtigen Verbände diese medialen Brechungen sich selber aneigneten. Bürgerliche Öffentlichkeit, wie sie in einem Jahrhunderte währenden Prozess sich ausbildete und bis zum heutigen Tage immer dort, wo Grundregeln des herrschaftsunabhängigen öffentlichen Diskurses verletzt werden, als Macht oder Kritik hervortritt, lebt von der unaufhebbaren Spannung zwischen den politischen Machtträgern, gleich wie sie aussehen mögen, und den reflektierten Interessen und Bedürfnissen der Bevölkerung.

Wo Öffentlichkeit in ihren prägenden Strukturen zum bloßen Anhang der staatlichen Machtapparate wird, wo der »Echo-Demoskopie«, wie Elisabeth Noelle-Neumann diese Meinungsforschung der bloßen Verdoppelung und Wiederholung bestehender Einstellungen nennt, die »Echo-Medien« entsprechen, entsteht unter dem Schein, dass alles Geheimnisvolle politischer Entscheidungen aufgehoben und Politik für den Bürger absolut durchsichtig geworden ist, der Mythos einer zweiten Wirklichkeit, die die unmittelbaren Erfahrungen der Menschen nicht erweitert, sondern an deren Stelle tritt. Damit ist der mediale Charakter der Öffentlichkeit, der eigene Regeln der Übersetzung, der Bildung von Bewusstsein und Verhalten, der kritischen Orientierung enthält, zerstört. Wiederholung ist ein Hauptmerkmal des Mythos, und das Einspinnen der Menschen in diesen Mythos kann am besten dann gelingen, wenn die Kategorie des Neuen vergessen ist, wenn alles Neue so präsentiert werden kann, als wäre es nur das in Vergessenheit geratene Alte, Bewährte, der gesellschaftlichen Natur des Menschen eigentlich Angemessene.

Viele der Ängste und Befürchtungen, die den treibhausmäßig vorangetriebenen Umwandlungsprozess der Medienlandschaft begleiteten und Kämpfe herausforderten, die sich gegen den imperialen Besetzungsanspruch von Sendefrequenzen durch mächtige Privatleute wandten, haben sich als unbegründet erwiesen. Das Eindringen der Kapitalinteressen in die Medienlandschaft verändert zwar auch die Programme der traditionellen Medien, die in Konkurrenz mit den Zuneigungen des Publikums nicht leer ausgehen möchten; aber der grundlegende Wandel des Medienbereichs, der sich in den 80er Jahren vollzog und keineswegs bereits abgeschlossen ist, vollzieht sich nicht auf der Ebene der Angebote, die sich so grundlegend nicht verändert haben, auch nicht in der nachlassenden Bereitschaft, Einzelinformationen über das Weltgeschehen zu vermitteln oder in der völligen Unterordnung des Programms unter privatkapitalistische Verwertungsinteressen. Die Programmwirklichkeit ist es nicht, die den Einschnitt markiert, den die konservativtechnologische Wende der Medienpolitik ausmacht.

Worüber ich nachdenken möchte, ist vielmehr der merkwürdige und bestürzende Tatbestand, dass eine zweite Wirklichkeit im Entstehen begriffen ist, eine mit eigenen Gesetzen und Verlockungen ausgestattete Medien-Wirklichkeit. Deren suggestive Kraft liegt in der Möglichkeit der Zeitballung, der Herstellung von Gleichzeitigkeit der Ereignisse an ganz verschiedenen Orten der Welt, wodurch Selbstillusionen der Teilnahme am Weltgeschehen erzeugt werden. Dass nicht die einzelnen Informationen, Berichte, Erzählungen von der Wirklichkeit, also Botschaften das charakterisieren, was die Wirksamkeit der modernen Medien kennzeichnet, sondern das Medium als Botschaft (medium is the message), wie es der scharfsichtige Prophet des elektronischen Zeitalters McLuhan bezeichnet hat. Mit dieser sekundären, zweiten Wirklichkeit, die Phantasien, Interessen und Bedürfnisse der Menschen zunehmend bindet und sie gleichsam in Romane über die Welt einbezieht, meine ich nicht so sehr, dass hier privatkapitalistische Einzelinteressen, Konzerne oder Verbände dahinterstehen, die eine solche Wirklichkeit bewusst erzeugen. Die großen Produktionsöffentlichkeiten, von denen Alexander Kluge und ich bereits in unserer Analyse von 1972 sprechen, haben heute natürlich einen Umfang und eine Bedeutung angenommen, wie wir sie damals nur in Gestalt einer bedrückenden Fiktion benennen konnten. Das ist es aber nicht allein, worum es in diesem Zusammenhang geht. Die gewachsenen ökonomischen Verflechtungen der Medienlandschaft sind meist mit Händen greifbar, so dass zu deren Aufdeckung und Erklärung weder Gesellschaftstheorie noch ein aufwendiges methodisches Untersuchungsinstrumentarium erforderlich ist.

Was diese von mir so bezeichnete zweite Wirklichkeit betrifft, sind offensichtlich viel subtilere Mechanismen am Werk, die eher Systemerhaltungs-Interessen ausdrücken als die Reklamewelt des Privatkapitals. Die auf diese Mechanismen gerichtete Medienforschung liegt im Argen; der positivistischen Medienforschung, die Berge von Untersuchungspapieren in den vergangenen Jahrzehnten produziert hat, ist bei allen ihren Anstrengungen, die unbestreitbar auch nützliche Einzelresultate hervorgebracht haben, in ihrem Erkenntnisansatz doch nicht viel mehr eingefallen als eine Verfeinerung und Variation der berühmten »Lasswell- Formel«. Der Kommunikationsforscher Lasswell hatte in einer unübertrefflichen Prägnanz die wissenschaftlichen Arbeitsteilungen wie Begrenzungen des auf die Medien bezogenen Untersuchungsfeldes zusammengefasst, sodass in der formalen Konsistenz die vororganisierten Abstraktionsschnitte, die arbeitsökonomisch durch die gesellschaftliche Totalität gelegt werden, nicht mehr erkennbar sind. Die Formel Lasswells lautet: »Wer sagt was, in welchem Kanal, zu wem, mit welcher Wirkung (who says what in which Channel to whom with what effect)?« Jedem Medienforscher erleichterte diese Formel den Überblick über die verschiedenen Untersuchungsgebiete, über entsprechende Methoden, die begrenzte Zahl von Variablen, wie Sender, Empfänger, Präferenzen, Einstellungen, Verhaltensmuster usw.

Im Zusammenhang einer Medienanalyse, die von dem Grundunterschied zwischen sekundärer und primärer Wirklichkeit ausgeht, treten demgegenüber zwei Probleme, die sich im elektronischen Zeitalter zu entscheidenden Störungen unserer Lebensverhältnisse auswachsen können, in den Vordergrund: Ich meine zum einen den drohenden Erfahrungs- und Erinnerungsverlust der Menschen in der alltäglichen Dimension ihres Lebens, zum anderen den Politikverlust, d.h. die Zersetzung eines auf langfristige Perspektiven, auf die Zukunft gerichteten Gestaltungswillens der

Menschen, der das Gegebene bewusst überschreitet, die utopischen Entwürfe der Wendung gegenwärtiger Not und der Wunschträume vom besseren Leben nicht aus dem Blick verliert. Lebendiger Erfahrungsverlust der Menschen in ihrer Alltagswelt, der die selbstbestimmten und auf gegenseitige Anerkennung gerichteten politischen Ausdrucksformen verlorengehen, und Substanzverzehr des Politischen, das am Ende auf ein gefährliches Gemisch von distanzloser Intimität und reinen Machterhaltungs- und Machterwerbstechniken reduziert ist, bedingen einander in einem bestimmten sozialkulturellen Klima der Gesellschaft.

Für beide Prozesse spielen die elektronischen Medien, ohne dass ein Einzelner, eine Organisation oder ein Unternehmen im Hintergrund daran drehen würde, eine entscheidende Rolle; was den Politikverlust angeht, so ist seit September 1989 im knappen Zeitraum eines einzigen Jahres ein Anschauungsmaterial dafür produziert worden, wie in der Geschichte nie zuvor. Alles, auch die kleinste Begebenheit, hat sich im grellen Licht von Fernsehen und Rundfunk abgespielt. Goethes Ausspruch in der Kampagne in Frankreich von 1792, als die reaktionären Koalitionsheere der Fürsten den kämpferischen und mutigen Revolutionsarmeen unterlagen, dass Trost darin zu finden sei, wenigstens Augenzeuge historischer Ereignisse zu sein, wenn man auch zu den Besiegten gehöre, – dieses Wort: »Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen«, ist im Medienzeitalter völlig überholt. Schon Goethe hat bei dieser Sache vermutlich eine Legende produziert, denn aufgezeichnet hat er diesen Ausspruch erst 30 Jahre später, als in der Tat für jedermann erkennbar war, welche Bedeutung die Französische Revolution und die nachfolgende Napoleonische Ära hatte.

Jeder war dabei, Millionen vor ihren Fernsehschirmen; der Atem der gegenwärtigen Geschichte war spürbar in den eigenen vier Wänden, wenn sie schon nicht so glücklich sein konnten, Brocken der gefallenen Mauer Erinnerungsstücken von Kreta oder sonstigen Urlaubsreisen beizugesellen. Noch nicht einmal richtig vorstellen kann man sich heute, wie die Französische Revolution abgelaufen wäre, hätte sie nicht die Straßenansammlungen, die Clubs, die Marktfrauen der Hallen und die Sektionsversammlungen zum Publikum gehabt, sondern die ganze damalige Welt. Wie immer es hätte sein können: die Tatsache, dass die elektronischen Medien Millionen von Menschen die Möglichkeit geben, ihre Nähesinne zu erweitern und einen Blick dorthin zu werfen, wo sie sich nicht aufhalten, das wäre selbst von Zeitgenossen der Französischen Revolution als ein ungeheurer Fortschritt der Menschheit angesehen worden.

Aber genau an diesem Punkt setzen die Probleme ein, die sich aus den Medien als einer spezifischen, eigenen Wirklichkeit ergeben. Wo deren Spannung zur unmittelbaren Erfahrungswelt der Menschen, ihrer Situationsgebundenheit, und zu perspektivenreicher, gestalterischer Politik verloren geht, entsteht aus der objektiven Möglichkeit der Erweiterung der Sinne und der Anreicherung des politischen Gestaltungsraumes eine Umkehrung ins Gegenteil: die übermächtige Medienwirklichkeit drückt unmittelbare Erfahrungen auf das Niveau des Zufälligen, Unwesentlichen; die eigenen Bedürfnisse und Interessen werden unglaubwürdig angesichts der suggestiv erfahrenen Teilnahme an der großen Geschichte. Das politische Handeln andererseits reduziert sich darauf, dem Zeitrhythmus der medialen Wirklichkeit zu folgen und keine Lücke in der Selbstreflexion des Publikums, im Ausharren und in der Besinnung, aufkommen zu lassen.

Politik wird auf diese Weise, wenn die Strukturregeln des Mediums – Zeitballung, Raffung der Ereignisse, schnelle Entwertung der Informationen, suggestive Unmittelbarkeit, usw. – komplett akzeptiert werden, zu einem Problem der Beschleunigung. Der hat Realitätsvorteile, der die Entscheidungen nicht nur schnell treffen, sondern sie auch als Legitimationsvorrat dem Wählerpublikum möglichst umgehend mitteilen kann. In solchen Beschleunigungen wird jedes Moment der Reflexionszeit durch den permanenten Druck der Aktionszeit, die mit Publikumsreaktionen kurzgeschlossen wird, aufgezehrt. Nichts wird als öffentliche Entscheidung mitgeteilt, was einem so dressierten und in eine bestimmte Richtung von Interessen und Bedürfnissen gedrängten Publikum Unbehagen bereiten könnte, was Kritik an den Machtträgern zur Folge hätte.

Der Gestaltungsraum des Politischen ist, wenn so der öffentliche Raum als Medium des kritischen Innehaltens der Menschen verschwindet, auf die Strategien der Machterhaltung und des Machterwerbs reduziert. Die ihrer politischen Rolle enteignete Öffentlichkeit sucht sich daher Aufgaben, die keine genuin politischen sind, die findige Journalisten zwar immer auch als ihr Betätigungsgebiet gesucht haben, aber nicht die am Selbstanspruch politisch fungierender Öffentlichkeit Arbeitenden: die Zwischenwelt von Macht, Intimität und Korruption.

Mit einem Wort, die elektronischen Medien, namentlich das Fernsehen, tragen aus Gründen, die mit dem geringen Maß der öffentlichen Reflexion auf diese Medien zu tun haben, zur Zerstörung einer öffentlichen politischen Sphäre bei, obwohl das im Blick auf die Chancen, die in diesen Medien stecken, überhaupt nicht so sein müsste. An der gesellschaftlichen Bewusstlosigkeit gegenüber diesen Rückbildungsprozessen hat die Medienforschung selber ihren aktiven Anteil – sie müsste begreifen, dass im Zentrum einer kritischen Medientheorie nicht die Medien stehen.

Das leitet den zweiten Punkt meiner Argumentation ein: Durchaus wären die elektronischen Medien, in ihrer immer reichhaltiger werdenden Zahl, in der Lage, die als Mängel empfundenen, gattungsgeschichtlich aber festgelegten Organe und Sinne des Menschen zu erweitern. Aus der Übung des Fern-Sehens könnte sich so etwas wie ein Fern-Sinn bilden. Nicht als Orakel, als prophetische Sehergabe oder als »zweites Gesicht«, sondern durchaus im Zusammenhang eines sinnlichen Urteilsvermögens für die Ferne, für Fern-Wirkungen meines eigenen Handelns und für das Handeln anderer an anderen Orten.

Nie wäre jedoch die Entwicklung dieses Fern-Sinns möglich, ohne gleichzeitige Erweiterung und Kultivierung der Nähesinne: wo der Fern-Sinn, mit der vorwiegenden Betätigung als Fem-Sehen, an die Stelle der Nähe-Sinne tritt, werden diese ihrer eigentümlichen Kraft und Ausdrucksmöglichkeiten beraubt. Sie werden durch das, was ihre Ergänzung und Verlängerung sein könnte, enteignet.

So zeigt sich der gegenwärtige Zustand der Medien-Wirklichkeit. Was deren Einfluss auf einzelne politische Einstellungen, Einstellungsveränderungen, auf Bewusstsein und Vorurteile betrifft, so scheinen gründliche sozialwissenschaftliche Untersuchungen, insbesondere aus den Vereinigten

Staaten, immer stärker dahin zu neigen, dass dieser Einfluss Grenzen hat. Nicht, was diese mediale Wirklichkeit bewirkt, ist das Problem, sondern was sie blockiert und verhindert: dass die Menschen keinen Augenblick mehr allein gelassen werden; dass sie wohl selber schon den inneren Druck eines schweren Realitätsverlustes empfinden, wenn sie von den Drähten, Kabeln, Kanälen abgekoppelt sind, die ihnen diese zweite Realität aufdrängen – darin könnte langfristig ein gesellschaftlicher Zustand sich bilden, der Alltagskulturen und politische Wahrnehmungsfähigkeit für die explosiven Gefahrenherde der Gesellschaft derart verkümmern lässt, dass unter dem gestohlenen Mantel der Kommunikation verständigungsorientiertes Handeln im Sinne der Umgestaltung einer ganzen Gesellschaft sich zersetzt, ohne dass die Menschen das bemerken. Die technisch vervielfältigten Mittel der Kommunikation und der Information täuschen am wirksamsten darüber hinweg, dass Kommunikation in der primären Wirklichkeit eher die Ausnahme als die Regel ist und dass die Informationsangebote, so reichhaltig sie auch sein mögen, an der unterentwickelten Kompetenz der Informationsverarbeitung zu zusammenhängendem Wissen scheitern. Die Begriffe Kommunikation und Information, diese technisch aufgeladenen Grob-Griffe unseres Zeitalters der Aufklärung, unterliegen einer eigenen geschichtlichen Dialektik. Für die Zeit der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts, als Stalinismus und Faschismus Kommunikation und Information in Regie nahmen, formulierten Horkheimer und Adorno die These, dass unter bestimmten Bedingungen authentische Erfahrung nur noch gemacht werden könne, wenn sie das Risiko der Kommunikationslosigkeit eingehe. »Heutzutage ist die Kunst nicht mehr auf Kommunikation angelegt«, hatte Horkheimer erklärt.

Wir müssen, wenn wir in einer kritischen Gesellschaftstheorie der Medien weiter kommen wollen als zu Erkenntnissen, die in Ritualen methodischer Exaktheit empirisch wiederholt bestätigt werden können, zu elementaren und ursprünglichen Fragestellungen zurückkehren. Wenn Bücher, wie das von Neil Postman: »Wir amüsieren uns zu Tode«, Bestseller werden können, dann nur, weil dasselbe Publikum, das diesen werbewirksamen Buchtitel kauft, sich noch über den eigenen Amüsierbetrieb schadlos halten möchte. Was sie wirklich tun, möchten sie nicht wissen, und die Neigung, sich in die Medienwirklichkeit einzuspinnen noch an Punkten, wo diese kritisiert wird, schafft ihnen zusätzliches Vergnügen. Eine solche Perversion ist extrem, zeigt aber, dass die Medientheorie ohne eine kritische Theorie des gesellschaftlichen Ganzen nicht auskommen kann.

Ich habe keine Lösungen für Probleme, die in Grundstrukturen der Gesellschaft eingebunden sind. Die Hoffnung darauf, dass sich die ganze Gesellschaft erst ändern sollte, um das Einzelne den eigenen Vorstellungen, entsprechend umzugestalten, ist genauso verkehrt und wirkungslos wie die Erwartung, man könne ganz unten im Einzelnen und Kleinen anfangen, so dass schließlich sich ein neues Ganzes aus der Summe dieses veränderten Einzelnen zusammensetzt. Beides sind Irrtümer. Die Dialektik von Besonderem und Allgemeinem ist, selbst wenn das Wort Dialektik gegenwärtig aus dem philosophischen Sprachschatz verschwunden zu sein scheint, eine Beziehungsform, deren Spannung nicht aufhebbar ist. Man kann allenfalls davon sprechen, dass es heute ein geschichtliches Vorrecht des Besonderen vor dem Allgemeinen gibt. Wenn es so ist, dann müssen wir die Fragen der Sinne, der unmittelbaren Erfahrungen, der kulturellen Tätigkeit viel elementarer stellen, als wir das gewohnt sind. Denn in dem Maße, wie wir in den Nähe-Verhältnissen unserer Lebenswelt verkümmern, wie die Sinne des Sehens, des Tastens, der Hautkontakte, aber auch die praktischen Sinne des Liebens, des Wollens usw. im Zusammenhang der Objekte, die darauf antworten, nicht weiter entwickelt werden, treten notwendigerweise Ersatzformen und Ersatzbefriedigungen auf. Die zweite Wirklichkeit, die der medialen Welt, erhöht die Chancen ihres Einflusses und ihrer Macht in dem Maße, wie die Grundausstattungen der primären Wirklichkeit unbearbeitet, unentwickelt bleiben, also sich dem Entwicklungsstand der Technik und der gesellschaftlichen Erkenntnis nicht gewachsen zeigen. So ist alles auf die Frage zu richten, wie die Alltagsverhältnisse der Menschen, ihr lebendiger Erfahrungshorizont von Dingen und Beziehungen so gestaltet werden können, dass die mediale Wirklichkeit den objektiven Schein ihrer Substanz und Eigenständigkeit verliert und das, was ursprünglich als Medium, als Vermittler auftritt, diese Mittler-Funktion wiedergewinnt.

Wo das gelingt, bestünde die Chance, dass Medien der Erweiterung der Erfahrungsfähigkeit der Menschen dienen, ihr neue Organe des Ausdrucks zuwachsen. Diese Utopie der Erweiterung der Sinne und der Befreiung der Menschen aus den bornierten Lokalverhältnissen zu einem höheren Maß von Weitläufigkeit ist von den kritischen Zeitgenossen des Medien-Fortschritts, als der Rundfunk entstand und die Stummfilmzeit zu Ende ging, immer mitgedacht worden; so hat Brecht in seiner Radiotheorie davon geträumt, dass aus einem bloßen Distributionsapparat von Ereignissen und Meinungen, von dem die Oberfläche der Ereignisse lediglich wiedergegeben wird, ein autonomer Produktionsprozess von neuen Erfahrungen entsteht. Er sagt: »Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheures Kanalsystem, d.h., er wäre es, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern zu empfangen, also den Hörer nicht nur hörend, sondern auch sprechend zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn in Beziehung zu setzen.« Das technische Medium einer durch Kanäle und Kabel verzweigten Kommunikation als Erweiterung der Erfahrungen und der Erkenntnisse von der Welt: das wäre ein konsequentes Aufbrechen jeder Form der passiven Symbiose mit der Medienwirklichkeit, das seinen Zweck gerade darin hätte, den Sinn des bloßen Habens, der archaischen Fixierung der Sinne auf das Gegebene, zu durchbrechen.

Ein anderer Medientheoretiker der zwanziger Jahre, Bela Baläzs (übrigens während der kurzen Ungarischen Räterepublik Leiter der Literaturabteilung im Volksbildungskommissariat unter Georg Lucacs) hatte Radio und Film durchaus als Kommunikationsmittel der menschlichen Emanzipation betrachtet. »Eine wirklich neue Kunst wäre«, sagt Balazs, »wie ein neues Sinnesorgan«, und 1930 fügt er hinzu: Der Film ist es inzwischen geworden. Ein neues Organ des Menschen, die Welt zu erleben, das sich rapid entwickelt hat… das ist wichtiger als der ästhetische Wert der einzelnen Werke, die kraft dieses Organs entstanden sind.«

Brecht, Balazs und in neuerer Zeit auch Enzensberger (in seinem Baukasten einer Theorie der Medien) sind sich dessen bewusst, dass alle diese Medien eine ambivalente, doppelwertige Struktur haben; sie sind für Propaganda und für Verengungen der Sinneserfahrungen und des menschlichen Urteilsvermögens ebenso zu verwenden wie für Emanzipationsprozesse, die freilich eines hohen Maßes an zusätzlicher Energie der kollektiven Organisation der Phantasie, der Interessen und der Bedürfnisse der Abhängigen bedürfen. Ganz wertfrei sind diese Medien freilich nicht; Elemente der Zeitraffung, der Fragmentierung von Erfahrungen, der suggestiven Unmittelbarkeit usw. kommen Herrschaftspraktiken näher als Emanzipationsbestrebungen, die sich auf Autonomie der Menschen, auf Kritik des Bestehenden, auf Formen der selbstbestimmten Verwirklichung eigener Lebensziele richten. Gerade deshalb ist alles wichtig, was solche Prozesse verstärkt und ihnen Orientierung verschafft, in den vor-medialen Bereichen lokalisiert. Vorurteile z.B. werden vermutlich viel prägender und folgenreicher in der Primärsozialisation erzeugt, also in Grundausstattungen des Selbst- und Wirklichkeitsverständnisses während der frühen Kindheit, als durch die Medien, die daran nichts Grundlegendes verändern können; deren Macht besteht vielmehr darin, Menschen durch Zerstreuung und Fragmentierung ihres Weltverständnisses und durch Zementierung von Passivität daran zu hindern, sich aus diesen Blockierungszusammenhängen zu befreien. Auch Gewalt wird offenbar nicht durch die Medien erzeugt, sondern diese geben den Gewaltpotentialen ihre Formen vor und können dadurch offenbar auch latente, verborgen gebliebene Neigungen aktualisieren.

Massierungen und technische Differenzierungen der Angebote mittelbarer Erfahrung, wie sie insbesondere die zentralisierten Medien liefern, drücken zusätzlich auf die Lebenswelt der Menschen, in der sich umso weniger Widerstandsgeist entfalten kann, wie die Verhältnisse eng, durch Not und Bildungsarmut bestimmt sind. Einer Untersuchung aus dem Jahre 1986 zufolge sitzen Erwachsene in Kabel- und Satellitenhaushalten etwa 10 % länger vor dem Fernsehen als Erwachsene in bundesdeutschen Vergleichshaushalten. Das ist nicht besonders bedrohlich; bestürzend ist jedoch die Feststellung, dass der tägliche Fernsehkonsum der »Kabelkinder« im Vergleich zu Kindern ohne Kabelfernsehen um 65 % angestiegen ist. Im Durchschnitt betrug die tägliche Fernsehzeit der sechs- bis dreizehnjährigen 1,5 Stunden, während die »verkabelten« Kinder 7,5 Stunden vor dem Bildschirm saßen. (Detlef Schnoor/Peter Zimmermann, Kinder und Medien, Ergebnisse einer Befragung von Dortmunder Grundschülern und ihren Eltern, in: Institut für Schulentwicklungsforschung Dortmund, Juli 1987). Die Situation mag sich seitdem wesentlich verschärft haben. Was diese und andere kritische Medienanalysen freilich unentwegt wiederholen, ist die Erkenntnis, dass Sehdauer, Aggressivitätsförderung und kognitive Beeinflussung durch Fernsehen immer in Zusammenhang mit anderen Faktoren betrachtet werden müssen. Nie ist die vor dem Fernsehen beanspruchte Zeit allein das wichtige; es sind zusätzlich die Sehgewohnheiten der Eltern, der Erziehungsstil, die Bereitschaft der Eltern, mit den Kindern über Sendungen zu reden, kurz: der gesamte soziale und familiäre Kontext der Lebenswelt entscheidet. Wo das soziale Milieu zur Entwicklung von Unterscheidungsvermögen beiträgt, werden Passivitätshaltungen gegenüber dem Medium abgebaut. Wo Kinder durch gegenseitigen Besuchsaustausch, durch Kinderläden oder Schulen, die eher am pädagogischen Prinzip der Selbstregulierung orientiert sind, größere Räume für Bewegung und Eigentätigkeit haben, wächst die kritische Distanz zur Welt der mittelbaren Erfahrungen. Das Problem ist also nicht dadurch zu lösen, dass Verbote ausgesprochen werden; die Haushalte sind technisch konstituiert, und die Kinder wachsen in einer technisch vermittelten Welt auf, so dass die Wahrnehmung ihrer Kommunikationsmöglichkeiten nur durch Zwang und Gewalt unterbrochen und behindert werden können.

Das Problem des Wirklichkeitsverlustes, der sich aus dem Verzehr des Erinnerungsvermögens und der lebendigen Erfahrung im Umgang mit der Verhältnissen und Menschen der Nähe ergibt, ist nur auf der Ebene dieser primären Wirklichkeit selber zu lösen. Die neuen Medien setzen auf den isolierten Einzelnen, der von seinen gesellschaftlichen Sinnen abgespaltelt ist, sie spekulieren auf den Robinson, den modernen Haus- und Höhlenbewohner. Die Zerstörung der ursprünglichen kommunikativen Verständigungsorientierung der unmittelbaren Lebenswelt drückt Wesentliches der Macht und des Einflusses dieser neuen Medien aus. Es ist eine Form der Industrialisierung der machtgeschützten Innerlichkeit; wo diese zwei Wirklichkeiten aufeinanderstoßen, ohne dass zwischen ihnen ein lebendiger kritischer Verarbeitungsprozess stattfindet, entsteht eine auch politisch gefährliche Steuerungslosigkeit der Menschen. Alexander Kluge hat diesen zur Absurdität zugespitzten Widerspruch zwischen der Masse fremdgesteuerter mittelbarer Erfahrung, den Stücken enteigneter Erfahrung, und der leerlaufenden Eigenerfahrung in einem Bild festgehalten: Es entsteht ein quasi-dadaistischer Zustand, als würde jemand mit der Straßenkarte von Groß-London den Harz durchwandern. Die Zeitmaße und Produktionsweisen der unmittelbaren Erfahrung prägen die Kontrolle und Anwendung der mittelbaren Erfahrung. Wird mittelbare Erfahrung absolut, so gehen Kontrolle und Steuerung praktisch für das Individuum verloren; dieser Wirklichkeitsverlust kann so weitreichend sein, dass er dann auch durch keinen denkbaren institutionellen Prozess mehr auszugleichen ist. Denn dieser Wirklichkeitsverlust beruht nicht darauf, dass zu wenig gewusst wird, zu wenig Einzelinformationen vorhanden sind, sondern dass zu viel gewusst wird, dass sie jedoch weder im Blick auf eigene Bedürfnisse und Interessen gewichtet werden kann, noch in den eigenen Lebensverhältnissen zu steuern sind.

Sehen und Hören sind die spezialisierten Hauptsinne der elektronischen Medienwelt. Aber sie sind nicht die einzigen Sinne des gesellschaftlichen Menschen. Die treibhausmäßige Spezialisierung der Sinne ist selber ein Problem der Gestaltung primärer Wirklichkeit, in der nicht nur die Objekte reichhaltiger werden, sondern auch die subjektiven Formen der Aneignung dieses objektiven Reichtums.

Um zu erklären, was ich damit meine, möchte ich abschließend die Aufmerksamkeit auf jenen geschichtlichen Entwurf einer mikrologischen Reflexion der Arbeit unserer Sinne lenken, der nicht weiter entwickelt worden ist und der heute größere Aktualität hat denn je. Marx hat in den Frühschriften eine Theorie der Sinne entwickelt, in der diese in den Gesamtzusammenhang der menschlichen Lebensäußerungen gestellt und in ein proportionales Verhältnis zu den Verstandeskräften und den Gefühlen gebracht werden.

Marx sagt:

»Die Sinne des gesellschaftlichen Menschen sind andere Sinne als die des ungesellschaftlichen; erst durch den gegenständlich entfalteten Reichtum des menschlichen Wesens wird der Reichtum der subjektiven menschlichen Sinnlichkeit, wird ein musikalisches Ohr, ein Auge für die Schönheit der Form, kurz, werden erst menschliche Genüsse und fähige Sinne, welche als menschliche Wesenskräfte sich betätigen, teils erst ausgebildet, teils erst erzeugt. Denn nicht nur die fünf Sinne, sondern auch die sogenannten geistigen Sinne, die praktischen Sinne (Wollen, Lieben usw.), mit einem Wort der menschliche Sinn, die Menschlichkeit der Sinne wird erst durch das Dasein seines Gegenstandes, durch die vermenschlichte Natur. Die Bildung der fünf Sinne ist eine Arbeit der ganzen bisherigen Weltgeschichte. Der unter dem rohen praktischen Bedürfnis befangene Sinn hat auch nur einen bornierten Sinn. Für den ausgehungerten Menschen existiert nicht die menschliche Form der Speise, sondern nur ihr abstraktes Dasein als Speise…«

Die Sinne des gesellschaftlichen Menschen bedürfen also der gegenständlichen Wirklichkeit, in der sie sich durch ihre eigentümliche Tätigkeit bejaht finden, wenn sie die rohe Form des bloßen Habens, des passiven Konsumierens überwinden wollen. Erst dadurch werden sie selber zu Theoretikern, wie Marx sagt, zu menschlichen Wesenskräften, welche die Realität nicht nur erleiden, sondern in sie mit Willen und Bewusstsein eingreifen, sie formen, um für gesellschaftliche Sinne die menschlichen Gegenstände zu schaffen.

Darin liegt nun aber das entscheidende Problem, mit dem wir es heute im Blick auf die elektronische Medienwelt zu tun haben. Der gesellschaftliche Reichtum ist schier ins Unendliche gewachsen, aber unsere Sinne haben an der Differenzierung und Vervielfältigung der Objektwelt, etwa durch die massenhafte Entwicklung von kritischem Unterscheidungsvermögen, nicht teilgenommen; in den Nähe-Verhältnissen, die ihr eigentliches Betätigungsfeld sind, schrumpfen ihre gegenständlichen Betätigungsmöglichkeiten, und das, was als gesellschaftliche Kraft sich ausdrücken könnte und ausdrücken möchte, wird durch Privatisierung genau auf jenen Stand eines passiven Materials gedrückt, das sich für Verwertungsinteressen eignet.

Die Folgen sind mit Händen greifbar. Der Fernsehzuschauer, der auf Hören und Sehen spezialisiert ist, wird in seiner Sinnentätigkeit zu einem reinen Objekt. Er müsste, um das Gesehene und Gehörte in Bewegung und Tätigkeit umzusetzen, also in Zusammenhang mit den übrigen Sinnen und seinem Verstand bringen zu können, eine Umgebung aktiven Verhaltens und der lebendigen Kommunikation haben; dort, wo er wohnt, wo er arbeitet und wo er seine Zeit verbringt. Die Erweiterung dieses Raums von Selbsttätigkeit ist die einzige Möglichkeit einer Emanzipation seiner Sinne, ihrer Befreiung aus passiver Abhängigkeit. Die Zerstörung des Mythos einer originären und substantiellen Medienwirklichkeit ist gleichzeitig Voraussetzung und Resultat einer solchen autonomen Selbstorganisation der Menschen im unmittelbaren Erfahrungszusammenhang ihrer Alltagsverhältnisse

Bei diesem Text handelt sich um ein am 22. April 1993 in Hannover gehaltenes Referat von Oskar Negt bei einer Veranstaltung der Landesmedienstelle Niedersachsen. Der Text ist unverändert übernommen, nur die Orthografie wurde aktualisiert. Die Originalpublikation:
Oskar Negt: Medien-Wirklichkeit und Erfahrungsverlust. Texte zur Medienpädagogik 1, hrsg. von der Landesmedienstelle Niedersachsen, Hannover 1993

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