Entwicklungstendenzen im Fernsehjournalismus (1994)

Bericht zur Lage des Fernsehens für den Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Richard von Weizsäcker *

Fernsehen als Orientierungs­mittel in einer unüberschau­baren Umwelt

Das Fernsehen ist ein wichtiges Mittel der Orientierung in einer für den einzelnen unüberschaubar gewordenen Umwelt.  Das „elektronische Fenster zur Welt“ eröffnet vielfach erst den Blick auf aktuelle Entwicklungen in der Gesellschaft: Es macht mit Interessen, Konzepten, Maßnahmen und Alternativentwürfen bekannt, mit denen diese Prozesse politisch gestaltet werden sollen. In Zeiten sozialer und politischer Umbrüche steigt die Nachfrage nach Orientierungshilfen des Fernsehens stark an. Diejenigen, die Informationen über Angelegenheiten von allgemeiner Bedeutung nutzen wollen, machen von den entsprechenden Programmangeboten ausgiebig Gebrauch. 1990 erreichten die öffentlich-rechtlichen Programme mit aktuellen politischen Informationsangeboten (Nachrichten und politische Magazine) 84 Prozent des Publikums, das diese Programme regelmäßig nutzt. Bei den kommerziellen Programmen waren es 74 Prozent. Auch wenn diese Reichweite sich zwischenzeitlich vermindert haben dürfte, gilt immer noch: Die Informationsangebote des Fernsehens spielen eine wesentliche Rolle für das Bedürfnis der Gesellschaftsmitglieder zu wissen, was um sie herum geschieht.

Informa­tionsbedarf und Ausweitung der Programm­angebote

Auf diesen Informationsbedarf stellen sich die Fernsehprogramme mit einer Fülle von entsprechenden Programmangeboten ein. Dies gilt vor allem für die öffentlich-rechtlichen Sender: 1992 strahlten ARD und ZDF an einem durchschnittlichen Tag jeweils über 400 Sendeminuten mit Informationsangeboten aus. Das entspricht annähernd 40 Prozent ihrer Sendezeit. Die beiden reichweitenstärksten kommerziellen Programme, Sat 1 und RTL, boten 1992 täglich circa 250 Minuten Informationen an. Das entspricht annähernd 20 Prozent der Sendezeit. In der Kernnutzungszeit von 19.00 Uhr bis 23.00 Uhr bot die ARD 85, das ZDF 100 Minuten Informationsleistung an. Bei Sat 1 waren es in dieser Zeit 32 Minuten, bei RTL 58 Minuten.

Mit der Einführung neuer Programme hat sich nicht nur die Gesamtmenge der Informationen, sondern auch ihre tageszeitliche Verfügbarkeit erweitert. Dazu trugen ARD und ZDF erheblich bei. Die öffentlich-rechtlichen Veranstalter haben mit Blick auf die kommerzielle Konkurrenz ihre Angebote an tagesaktueller Berichterstattung durch zusätzliche Nachrichtensendungen und aktuelle Sondersendungen vergrößert.

Programmerweiterung verführt zum Unterhaltungsslalom

Zugleich hat die Vermehrung der Fernsehprogramme die Gelegenheiten vervielfacht, diese Informationsangebote zu „umfahren“. Die Chance, daß der gewohnheitsmäßige Gebrauch des Mediums Zuschauer automatisch mit politischen Informationen in Kontakt bringt, hat abgenommen. Fernsehen kann als reines Unterhaltungsmedium gebraucht werden. Ein nicht unerheblicher Teil des Publikums ist von der politischen Berichterstattung des Fernsehens nicht erreichbar.

Diejenigen, die sich von den Informationsofferten ansprechen lassen, zeigen Anzeichen von „Überlastung“. Die enorme Vervielfältigung der Präsenz und des Volumens von Informationen in Verbindung mit einer rapiden Beschleunigung in der Aktualisierung der „Informationslage“ bringen eine neuartige Unübersichtlichkeit. Von ihr bleiben selbst diejenigen nicht verschont, die etwa auf der Basis einer höheren schulischen Bildung und ausgefeilter Techniken im Umgang mit einem Media-Mix die angebotenen Informationen gut zu ‚erarbeiten und zu nutzen vermögen. Für die Mehrheit jener Zuschauer mit weniger gut integriertem Wissen scheint die – auf den ersten Blick paradoxe – Situation zu entstehen, daß die enorme Zunahme der Informationsangebote mit dem Verlust der Qualität der Informiertheit einhergeht. Der Nürnberger Kommunikationswissenschaftler Winfried Schulz weist auf die Gefahr von „Orientierungsproblemen“, „Ratlosigkeit“ und „Mißtrauen“ hin, was zu politischer Entfremdung führen könne. Informationsüberlastung könne in eine Art „medieninduzierte gelernte Hilflosigkeit“ gegenüber einer gesellschaftlichen Welt münden, die dem Individuum in teils bestürzenden Bildern und alarmierenden Botschaften naherückt, ohne daß es sich noch sicher fühlen kann, Übersicht und Kontrolle zu behalten, vermutet der Schweizer Medienforscher Heinz Bonfadelli

Medienin­duzierte Hilflosig­keit als Folge von Informationsüberla­stung

Es wäre verfehlt, dem Fernsehen die alleinige Verantwortung für Orientierungsverlust und Entfremdung in der Gesellschaft zuzuschreiben. Dennoch bleibt zu fragen, welche Rolle die Informationsangebote des Fernsehens bei der Verarbeitung eigener Erfahrungen spielen, wenn sie als Orientierungshilfe in Anspruch genommen werden.Einen Anhaltspunkt für den Gebrauchswert der Informationsleistungen im Fernsehen bietet die Unterscheidung von Informationsformaten (Nachrichtensendung, politisches Magazin, serviceorientiertes Magazin, Gesprächs- oder Diskussionssendung usw.). Sie stecken einen je unterschiedlich dimensionierten Rahmen für Informationsqualitäten wie Sachgerechtheit, Verständlichkeit, Redundanz oder Begründetheit ab. Die Reportage in einem politischen Magazin bietet mehr Gestaltungsspielraum als die konventionalisierte, knappe Nachrichtenform. Die Bündelung unterschiedlicher journalistischer Beitragsformen in einer monothematischen Sendung (z. B. „Brennpunkt“) schafft mehr Voraussetzungen für eine facettenreiche Behandlung des Themas als der Einzelbeitrag in einem Magazin. Insofern hat die Erkundigung Sinn, inwieweit mit verschiedenen Informationsformaten die Möglichkeit von variablen, in ihrer Komplexität abgestuften und komplementären Formen der Behandlung von aktuellen Themen im Programm zur Verfügung steht.

Die vergleichende Analyse von Programmstrukturen zeigt, daß bei öffentlich-rechtlichen wie kommerziellen Programmen die Nachrichtensendungen an der ersten Stelle der Informationsangebote stehen. ARD und ZDF ergänzen dies in erheblichem Umfang mit „politischen Informationssendungen“ und Angeboten mit wirtschaftlichen, kulturellen oder alltagsbezogenen Fragen. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen bietet damit ein vergleichsweise dichtes Netz unterschiedlich akzentuierter journalistischer Formate, die eine qualitative Variation in den Vermittlungsleistungen ermöglichen.

Echt-Leid in Echt-Zeit

Die Informationsangebote der beiden reichweitenstärksten kommerziellen Programme haben eine andere Struktur. Die tagesaktuelle Nachrichtengebung wird in vergleichsweise geringem Umfang um Sendungen ergänzt, deren Format die Darstellung von Hintergründen erlauben. Besonders RTL bietet statt dessen Sendungstypen, die nach Themenwahl und Präsentationsform eher eine unterhaltende Funktion haben. Es läßt sich – trotz neuer Sendungen, wie zum Beispiel bei RTL mit der werktäglichen Nachtausgabe von „RTL-Aktuell“ und einer monothematischen 50-Minuten-Sendung – feststellen, daß die kommerziellen Programme eine beschränkte Variation der Themenaufbereitung bieten. Was bedeutet dies für den informationellen Gebrauchs­wert der Programme? Wie informiert das Fernsehen?

TV-Nachrichten und Berichterstattung

Wenn im folgenden problematische Tendenzen dargestellt werden, sollen damit nicht die Verdienste geleugnet werden, die sich Fernsehjournalismus durch die tägliche Informationsarbeit und herausragende Beispiele anspruchsvoller Berichterstattung’ erworben hat. Das Potential an Gefahren, das in den Entwicklungstendenzen des Fernsehjournalismus angelegt ist, gilt es zu beschreiben. Es sind dies Gefahren für die orientierende Dienstleistung der Fernsehinformation als „Medium und Faktor“ individueller Meinungsbildung und in Folge für das geistige und politische Klima der Gesellschaft [1].

[1] Die Skizze problematischer Tendenzen kann nicht in einem quantitativ präzisen Sinn angeben, wie sehr diese Tendenzen jeweils das Informationsangebot eines Programms oder gar aller Fernsehprogramme in der Bundesrepublik beherrschen. Sie stützt sich auf einzelne Befunde aus der Beobachtung von Medienwissenschaftlern. Und sie kann als repräsentativ gelten, wenn sich das Vorhandensein der jeweils beschriebenen Tendenz im Programm durch den Augenschein prüfen läßt. Dann ist darüber zu debattieren, was sie bedeutet, welche Gefahren von ihr ausgehen könnten, wodurch sie in Gang gehalten wird und welche Möglichkeiten des Gegensteuerns die Verantwortlichen demzufolge haben und wahrnehmen sollten.

Das Fernsehen zeigt das, was ins Auge sticht

24. Februar 1993: Stern-TV zeigt den letzten Tag im Leben von Sead. Der sechzehnjährige Junge dient einer bosnischen Kampftruppe in Sarajevo als Kurier. Ein Kamerateam begleitet ihn durch den Tag. Sead wird erschossen. Die Kamera fängt sein Sterben ein. Stern-TV bringt das „Echt-Leid in Echt-Zeit“ in die deutschen Wohnstuben. Es bleibt die Frage, ob Sead nicht von der Kamera in den Tod getrieben wurde, die Berichterstattung das Ereignis nicht erst geschaffen hat. Dies ist nur eines der sich mehrenden Beispiele, die bei vielen den Eindruck hinterlassen, daß es im Fernsehjournalismus zu Grenzüberschreitungen kommt.

Zum Begreifen des Krieges in Sarajevo trägt es nicht bei, in allen Einzelheiten zu sehen, wie ein Sechzehnjähriger stirbt. Zweifelhaft ist der Informationswert der Darstellung. Dennoch wühlen diese Bilder auf, machen betroffen. Dieser Effekt scheint vermehrt den Ausschlag bei der Entscheidung der Fernsehmacher zu geben, was sie dem Publikum vorfuhren. Das Fernsehen zeigt das, was ins Auge sticht, die Aufmerksamkeit fesselt. Es erhöht die Taktfrequenz der Signale, mit denen es den Nerv des Publikums reizt.

Es gehört zu den Aufgaben des aktuellen Fernsehjournalismus, der Gesellschaft Gefahren, Risiken oder Schadensfälle zu zeigen. Journalismus übernimmt eine „Alarmfunktion“, macht aufmerksam auf das, worum sich die gesellschaftliche Daseinsvorsorge kümmern muß. Das Zeigen von Gefahren wirft Fragen auf: Was sind die Ursachen? Was kann getan werden? Das Programm sollte Raum dafür vorsehen, diesen Fragen nachzugehen.

Die kontextlose Präsenta­tion von Schreckensbildern führt zur Desorien­tierung

Die Funktion von Bildern verschiebt sich, wenn die Entscheidung, welches Bildmaterial gezeigt wird, nicht davon abhängt, ob der Vorgang Aufmerksamkeit verdient, sondern vorn Vorhandensein „starker“ Bilder, die Aufmerksamkeit erregen sollen. Wenn der Eigenlogik des „Zeigezwangs“ eines visuellen Mediums nachgegeben wird, kann dies durchaus einer irreführenden Anschauung Vorschub leisten.

Die Gedächtnislosigkeit des Sensationsjournalismus

Die rechtsextreme Gewalt gegen Bürger ausländischer Staatsangehörigkeit hat auch das Fernsehen in Bewegung gesetzt. Es hat gezeigt, was der Haß gegen Fremde anrichtet. Es hat die Frage nach den Ursachen der Gewalt aufgeworfen, ohne von der Ratlosigkeit bei der Beantwortung ausgenommen gewesen zu sein. Mit dem Ausbleiben spektakulärer Bilder weicht das ‚Thema den sonstigen „Neuigkeiten“ des Tages. Das Problem hat jedoch nichts von seiner Brisanz verloren. Es scheint, als mangele es dem Fernsehjournalismus am Gedächtnis für die Fragen, die er aufgeworfen, aber nicht beantwortet hat. Wichtige Vorgänge in der Gesellschaft können ihm entgehen, wenn er den Blick auf spektakuläre Vorfälle heftet.

Aus der Sicht der Programmacher gibt es für die Akzentuierung des Augenfälligen Gründe: die mit der Zahl der Anbieter wachsende Konkurrenz um die Aufmerksamkeit der Zuschauer.  Das Bemühen, interessante Ereignisse idealiter nahezu synchron, „authentisch“ und vor den anderen Anbietern zeigen zu können, fördert die Eile – in Produktion und Darstellung.

Beim Wettlauf um Aktualität bleibt der Journalismus auf der Strecke

Der Zeitdruck fördert den ohnehin verbreiteten Hang zu Klischees.  Die Beschleunigung der Informationsgebung verringert für die Redaktionen die Möglichkeiten, politische Verlautbarungen zu prüfen und durch eigene Recherchen zu ergänzen. Das erhöht für die auf Produktionsrhythmus und Darstellungskonventionen des Fernsehens zugeschnittene politische „Public Relations“ die Chance, übernommen und verbreitet zu werden. Das Fernsehen gerät dabei in Gefahr, instrumentalisiert zu werden. Die Berichterstattung über den Golf-Krieg gilt als drastisches Beispiel der jüngsten Zeit. Journalisten verwendeten die gelieferten fernsehgerechten Bilder unreflektiert, ohne die Möglichkeit eigener Recherche zu haben. Die Grundlagen journalistischer Arbeit wurden weitgehend außer Kraft gesetzt.

Journalismus bauscht auf, wo er mit einer klaren Einordnung behilflich sein sollte

Kriege, Gewalt, Katastrophen und Gefahren sind Teil der gesellschaftlichen Realität. Es gehört zu den Aufgaben des (Fernseh-)Journalismus, diese Realität zu zeigen. Daß der Fernsehjournalismus schlechte Nachrichten zu überbringen hat, ist ihm nicht anzutasten. Dies ist Teil journalistischer Aufgaben. Es bleibt die Frage nach dem Wie.

Die Präsentation von Schreckensbildern ist überproportional häufig. Rhythmus und Intensität in der Darstellung von Negativismen lösen sich von dem Ausmaß der realen Verbreitung. Dramaturgische Gesichtspunkte mögen vielfach vor inhaltlichen journalistischen Überlegungen stehen. Dieses medienimmanente Kriterium muß sich befragen lassen, ob es sich vor seinen möglichen Konsequenzen rechtfertigen kann.

Zur notwendigen Selbstaufklärung der Gesellschaft gehört es, allgemeine Entwicklungstendenzen, etwa in den Bereichen der Kriminalität und ihrer Gründe, wahrzunehmen. Diese Tendenzen sind dem ins Bild gesetzten einzelnen Unglücks- oder Kriminalfall nicht anzusehen. Insofern bleiben Zweifel, welchen Informationswert solche Darstellungen haben. So scheinen beispielsweise Beiträge in dem Pro 7-Magazin „Reporter“ auf genußvolles Erschrecken angelegt: „Ihre Geschichten erzählen von Angst und Schrecken. Amokläufer: kann jeder werden, ein Mensch wie du und ich. Plötzlicher Säuglingstod: kann jeden treffen und keiner kann was dagegen tun“.

Eine weitgehend hintergrund- und kontextarme Darstellung, wie sie für Beiträge dieser Art typisch zu sein scheint, zeigt die Gewalt, den Schaden oder das Opfer, ohne eine Übersicht zu verschaffen über das tatsächliche Ausmaß von Risiken.

Die emotionalisierende Wirkung der Bilder behindert die kognitive Verarbeitung

Dies läßt sich selbst für die Abbildung der Zeugnisse politischer Gewalt, der vielen Bürgerkriege und Kriege, beobachten. Die Bilder wiederholen sich und sind immer weniger unterscheidbar. Der Ausweg, der in der Logik eines Bildermediums bleibt, ist die Steigerung der Reizintensität der Bilder. Das mag zu den Grenzüberschreitungen im Fernsehjournalismus antreiben. Dem Versuch, die visuelle Botschaft sprachlich aufzufangen, legt vor allem das wichtigste und meistgenutzte Informationsformat, die Nachricht, ein enges Korsett an. Die emotionalisierende Wirkung der bewegten Bilder vom Krieg, von Katastrophen und der Kriminalität behindert die kognitive Verarbeitung der auf der sprachlichen Ebene angebotenen einordnenden Informationen.

Was aber macht dann das Fernsehen, wenn es Krieg, Gewalt und Zerstörung auf diese Weise ins Haus bringt?  Es ruft zunächst eine Empfindung eigener Art hervor. „Es ist die mit Erregung gepaarte Beruhigung, selbst noch mal davongekommen zu sein, aus sicherer Distanz den Tod nur der anderen, der Fremden, erlebt zu haben“, wie ein Medienkritiker feststellte. Das Fernsehen sorgt mit dem Stoff für eine Art Angstlust.

Sensationa­listische Gewaltdarstel­lungen verschieben das gesellschaft­liche Klima

Die Wirkungsforschung findet darüber hinaus Anhaltspunkte für einen weiteren bedenkenswerten Effekt. In dem Maße, in dem sich Nutzer auf das vom Fernsehen ausgebreitete Weltbild einlassen, wird ihre Vorstellung von der Gesellschaft und der Politik auch von der anschaulichen Präsenz der Gewalt eingenommen. Dabei könnte die unvermittelte, szenische Art der Darstellung, die Gründe und oft auch Konsequenzen kaum erkennbar macht, ein Modell transportieren, wie einer gewaltgeprägten Welt zu wehren sei. Vermutungen gehen dahin, daß solche Modelle den Wunsch nach Gegengewalt, individuell oder in Gestalt einer überlegenen Schutz- und Abwehrmacht, provozieren. Das könnte ein Grund dafür sein, daß Studien auf einen Zusammenhang stoßen zwischen der Intensität der Gewaltdarstellung im Fernsehen, dem Gebrauch des Fernsehens für die Entwicklung eines individuellen Weltbildes und der Präferenz für autoritäre Gesellschaftsmodelle. Zu den Gefahren einer sensationalistischen Gewaltdarstellung könnte daher eine Verschiebung des gesellschaftlichen Klimas gehören.

Auf Versagensdiagnosen abonnierter Journalismus beschneidet die Möglichkeiten der Meinungsbildung

Es ist eine Neigung zu beobachten, aus für sich genommen eher alltäglichen Vorgängen, bei denen sich aus Unsicherheit, begrenzt mobilisierbaren Mitteln oder Kenntnissen Unregelmäßigkeiten ergeben, eine „Krise“ zu verfertigen. Vermutungen nehmen bisweilen die Stelle ein, die durch solide Prüfung ausgefüllt werden sollte. Journalismus bauscht auch auf, wo er mit einer klaren Einordnung behilflich sein sollte. Die „Jagd“ nach Belegen für Versagen oder Verschulden beispielsweise von Politikern kann dann das Maß in der Sache und die Sache selbst aus dem Auge verlieren.

Skandalisierung bringt es mit sich, daß die Aufmerksamkeit, die sich an einem gesellschaftlichen Problem entzündet, z. B. auf die Frage gerichtet wird, ob politische Mandatsträger ihren Aufgaben nachgekommen sind; und sie führt zu der Frage, ob sie ihr Amt (noch) zu Recht innehaben. Darüber rückt mitunter die Erwägung in den Hintergrund, ob die verantwortlichen Stellen imstande sind, die Probleme zu verhindern oder zu lösen, die ihrem Personal zur Last gelegt werden, und was gegebenenfalls zu tun wäre, wenn die öffentliche Hand sich als ohnmächtig erweist. Die Eigenlogik der Skandalisierung macht das Gelingen von Politik in einer sehr abstrakten und wenig aufgeklärten Weise zum Leitmotiv der Betrachtung.

Sie kann daher die Aufmerksamkeit für die Frage schmälere, ob denn überhaupt gelingen soll, was den impliziten Maßstab für die Tätigkeit von Politik und Verwaltung abgibt. So wurde beispielsweise der Bundeswehreinsatz in Somalia z. T. aus der Optik der Fragestellung heraus thematisiert, inwieweit Auseinandersetzungen zwischen Außen- und Verteidigungsminister eine Krise der außenpolitischen Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik respektive eine Krise der Koalition (und damit der Regierungsfähigkeit überhaupt) signalisierten. Wenn so beobachtet und diskutiert wird, ist die Frage, ob und wozu sich die Bundesrepublik solche auswärtigen Einsätze zum Programm machen soll, stets mitbeantwortet, ohne gestellt worden zu sein. Ein Journalismus, der umfassend informieren will, müßte sich also prüfen, ob er an anderer Stelle bietet, was er im Skandalon-Report versäumt. Denn die Logik der Suche nach Anzeichen für Versagen, Verschulden oder Mißlingen macht anfällig für die ungeprüfte Übernahme ins Spiel gebrachter neuer politischer Leitlinien. Ein auf Versagensdiagnosen abonnierter Journalismus kann Gefahr laufen, sich selbst und für sein Publikum die Gelegenheit zur Bildung einer politischen Meinung über den Sinn neuer Aufgaben der Politik zu beschneiden.

Das Fernsehen darf die Zuschauer nicht an die Inszenierung symbolischer Politik ausliefern

Die Bilder sind vertraut: Szenen aus den Vorhöfen und von den Galerien der Macht, wo die Mächtigen durch Gesten der Respektsbezeugung oder -verweigerung zeigen wie sie zueinander stehen, Bilder, die von der Geschäftigkeit der Staatenlenker künden, Reden in exportierter Stellung vor imposanter Kulisse oder im Pulk der Mikrophone und Kameras, die schon durch ihre massive Präsenz signalisieren, daß Bedeutsames im Gange ist. Die Politik hat sich längst darauf eingestellt, das expressive Moment ihrer Ausführung zu stilisieren. Sie gestaltet ihre wahrnehmbare Präsenz zum Symbol aus.

Zu den Bildern gehören Formeln, mit denen gesellschaftliche Probleme und politische Maßnahmen in einer Weise zur Sprache gebracht werden, die zugleich eine Vorstellung von ihrer Bedeutung anklängen läßt. „Entsorgungspark“, „Null-Wachstum“, „Rationalisie­rung“ oder auch „Asylantenschwemme“, „Gesetz­gebungsnotstand“, „Sozialabbau“ sind Beispiele für solche Sprach-denkmäler. „Verharrnlosung und Schönfärberei einerseits, Überspitzung, Emotionalisierung, Kraftmeierei andererseits. Und immer geschieht dies mit einem bestimmten Ziel: Begriffe zu besetzen, die Welt zu bewerten. Mit Worten wollen Politiker vermitteln, wie die Bürger die Dinge sehen sollen“, sagt ZDF-Chefredakteur Klaus Bresser. Von den politischen Akteuren wird die appellative und polarisierende Potenz einer wertgeladenen Sprache genutzt, um Zustimmung zu finden. Und zwar gerade auch dann, wenn die Einwirkung auf die Anschauung von den Problemen in der Gesellschaft und von der Rolle der konkurrierenden politischen Kräfte sich von der Einwirkung auf die Problemlage selbst trennt.

Das Fernsehen verschafft diesen Manövern ein Publikum. Dabei kann man es durchaus zu seinen Aufgaben rechnen, zu übermitteln, wie Politiker sich und die Lage der Gesellschaft gesehen haben möchten. Soweit von „symbolischer Politik“ allerdings Hindernisse für eine kompetente Orientierung und für eine vernunftgeleitete Kommunikation ausgehen, ist von dem Fernsehen als wesentlichem „Faktor“ einer freien Meinungsbildung weiteres zu erwarten.

„Symbolische Politik“ will Zutrauen stiften. Ihre appellative Sprache lebt vom Ungefähren und Vagen insbesondere der wertgeladenen Aussagen. Das hat für das Ziel der Legitimierung den Vorzug, daß sich jeder „seinen Teil“ dazu und hinein denken kann. Es birgt allerdings auch die Gefahr, daß die Bürger ihre individuellen Erfahrungen in den Formeln der politischen Sprache nicht mehr wiedererkennen und ihnen die Politik darüber fremd und abgehoben vorkommt.

Fernsehen muß die Verpackung zertrümmern, mit denen Parteistrate-gen Fakten und Absichten verbergen wollen

Fernsehjournalismus sollte sich daher Rechenschaft geben, inwieweit seine Informationsleistungen nicht nur das Inszenierungskalkül symbolischer Politik aufgehen lassen, sondern für die Bürger Gebrauchswert haben. Das Fernsehen sollte daher folgende Empfehlung von Winfried Scharlau bedenken: „Ein gemeinwohlorientiertes Fernsehen müßte auch täglich die Verpackung zertrümmern, die von Image-Pflegern und Parteistrategen gebastelt wird, um die harten Fakten zu verbergen und die wahren Absichten zu verheimlichen“.

Der informatorische Gebrauchs­wert des Fernsehens als Maß für die wünschens­werte Distanz gegenüber den „Partei­strategen“

Das Maß für die wünschenswerte Distanz gegenüber den „Parteistrategen“ ist der informatorische Gebrauchswert des Fernsehjournalismus. Dieses Maß wird dort unterschritten, wo die Distanz selbst nur als eine Formel oder wie eine Geste, wie das Symbol einer Haltung, in Erscheinung tritt. So läßt sich in einem modern gestalteten öffentlich-rechtlichen Magazin mitunter beobachten, wie „Phrasen-Stakkato“ den Status von Kritik prätendiert.  Der Moderator verkörpert die ironische Distanz desjenigen, der sich von nichts und niemandem beeindrucken läßt. Augenscheinlich wird hier das Prinzip der ritualisierten Politikdarstellung, die die symbolische „Verpackung“ für wahr und wichtig genommen haben will, durchbrochen. Dabei scheint gelegentlich die Versuchung zu obsiegen, alle Politik wie bloße Verpackung zu behandeln. Das fördert die Bekanntschaft der Wahrheit so wenig wie die des Wichtigen. Das muß aber der Maßstab für den informatorischen Gebrauchswert des Fernsehjournalisrnus bleiben. Denn Aufgeklärtheit läßt sich als Voraussetzung der politischen Kommunikation in der Demokratie nicht kündigen.

Die Etablierung einer argumentativen „Streitkultur“ als Aufgabe des Fernsehens

Wertgeladene politische Sprache legt es darauf an, pragmatische Positionen in der politischen Außendarstellung zu „Fundamentalgegensätzen“ zu polarisieren. Eine diskursive Vermittlung politischer Positionen wird durch das Pathos der Absolutheit erschwert, mit dem Argumente in Lager einsortiert werden, die sich nach Freund und Feind scheiden. Fernsehjournalismus bildet diese Kommunikationsbarrieren ab. Eine weiterführende Dienstleistung an einer offenen Meinungsbildung läge in dem Versuch, die konkurrierenden Positionen in ein Gespräch miteinander zu bringen und dabei Wege zu finden, die die Kommunikationsbarrieren politischer Sprache Überwinden helfen. Dabei ist nicht zu verkennen, daß es keine leichte Aufgabe sein dürfte, eine argumentative „Streitkultur“ mit Experten für politische Public Relations zu etablieren.

Eine Dramaturgie des Schlagabtausches geht auf Kosten der inhaltlichen Substanz

Im Fernsehen läßt sich z. T. eine dazu gegenläufige Tendenz beobachten.  Diskussionssendungen, insbesondere im kommerziellen Fernsehen, legen es auf das Anheizen und Zuspitzen der Polarisierung von Standpunkten an. Dabei scheint der Gewinn an dramatischer Spannung in der Interaktion der Meinungskontrahenten mit einem Verlust an inhaltlicher Substanz einherzugehen. Denn die Dramaturgie solcher Debatten ist weniger an größtmöglicher Klarheit in der Sache und in den Positionen orientiert als vielmehr an der Dramatik eines „Schlagabtausches“. In dem kommt es nicht auf das gut entwickelte Argument, sondern auf die flinkere Schlagfertigkeit an. Die Kontrahenten werden auf die Probe gestellt, wie sie sich gegen Angriffe halten. Und das im Wortsinn: Geben sie in Haltung oder Mimik zu erkennen, inwieweit sie getroffen sind, oder können sie unangreifbare Souveränität vorstellen? So werden Themen, darunter auch welche von allgemeinem Belang, zum für sich genommen beliebigen Reizmaterial für eine quasi sportive Konkurrenz herabgesetzt. Die Kultivierung eines derart gleichmütigen Verhältnisses auch zu solchen Angelegenheiten, die alle betreffen, widerspricht aber einer kompetenten Teilhabe am politischen Kommunikationsprozeß

 

* Der „Bericht zur Lage des Fernsehens“, dem damaligen Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Richard von Weizsäcker, von einer Kommission unter Leitung des ehemaligen Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Ernst Gottfried Mahrenholz, im Februar 1994 erstattet (vgl. Groebel et al. 1995), befasste sich mit den Veränderungen des Leitmediums Fernsehen. Der Bericht ist gekennzeichnet von der Sorge, dass  die aktuelle Entwicklung des Fernsehens – Mitte der 90er Jahre – dazu führen könnte, „die Einhaltung der vom Bundesverfassungsgericht formulierten Anforderungen“ an die Programmgestaltung zunehmend zu erschweren und zu Folgen
führe, „die das derzeit artikulierte ‚Unbehagen‘ begründen können“ (Bericht, S. 33)


Aus: Groebel, Jo/Hoffmann-Riem, Wolfgang/Köcher, Renate/Lange, Bernd-Peter/Mahrenholz, Ernst Gottfried/Mestmäcker, Ernst-Joachim/Scheithauer, Ingrid/Schneider Norbert (1994): Bericht zur Lage des Fernsehens für den Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Richard von Weizsäcker. Gütersloh. Hier: S. 51-59, *
[aufbereitet als „Text zur Diskussion 5/1995“ für die niedersächsische Medienberatung , Landesmedienstelle Niedersachsen]

 

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