Entwicklungstendenzen im Fernsehjournalismus (1994)
Bericht zur Lage des Fernsehens für den Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Richard von Weizsäcker *
Fernsehen als Orientierungsmittel in einer unüberschaubaren Umwelt
Das Fernsehen ist ein wichtiges Mittel der Orientierung in einer für den einzelnen unüberschaubar gewordenen Umwelt. Das „elektronische Fenster zur Welt“ eröffnet vielfach erst den Blick auf aktuelle Entwicklungen in der Gesellschaft: Es macht mit Interessen, Konzepten, Maßnahmen und Alternativentwürfen bekannt, mit denen diese Prozesse politisch gestaltet werden sollen. In Zeiten sozialer und politischer Umbrüche steigt die Nachfrage nach Orientierungshilfen des Fernsehens stark an. Diejenigen, die Informationen über Angelegenheiten von allgemeiner Bedeutung nutzen wollen, machen von den entsprechenden Programmangeboten ausgiebig Gebrauch. 1990 erreichten die öffentlich-rechtlichen Programme mit aktuellen politischen Informationsangeboten (Nachrichten und politische Magazine) 84 Prozent des Publikums, das diese Programme regelmäßig nutzt. Bei den kommerziellen Programmen waren es 74 Prozent. Auch wenn diese Reichweite sich zwischenzeitlich vermindert haben dürfte, gilt immer noch: Die Informationsangebote des Fernsehens spielen eine wesentliche Rolle für das Bedürfnis der Gesellschaftsmitglieder zu wissen, was um sie herum geschieht.
Informationsbedarf und Ausweitung der Programmangebote
Auf diesen Informationsbedarf stellen sich die Fernsehprogramme mit einer Fülle von entsprechenden Programmangeboten ein. Dies gilt vor allem für die öffentlich-rechtlichen Sender: 1992 strahlten ARD und ZDF an einem durchschnittlichen Tag jeweils über 400 Sendeminuten mit Informationsangeboten aus. Das entspricht annähernd 40 Prozent ihrer Sendezeit. Die beiden reichweitenstärksten kommerziellen Programme, Sat 1 und RTL, boten 1992 täglich circa 250 Minuten Informationen an. Das entspricht annähernd 20 Prozent der Sendezeit. In der Kernnutzungszeit von 19.00 Uhr bis 23.00 Uhr bot die ARD 85, das ZDF 100 Minuten Informationsleistung an. Bei Sat 1 waren es in dieser Zeit 32 Minuten, bei RTL 58 Minuten.
Mit der Einführung neuer Programme hat sich nicht nur die Gesamtmenge der Informationen, sondern auch ihre tageszeitliche Verfügbarkeit erweitert. Dazu trugen ARD und ZDF erheblich bei. Die öffentlich-rechtlichen Veranstalter haben mit Blick auf die kommerzielle Konkurrenz ihre Angebote an tagesaktueller Berichterstattung durch zusätzliche Nachrichtensendungen und aktuelle Sondersendungen vergrößert.
Programmerweiterung verführt zum Unterhaltungsslalom
Zugleich hat die Vermehrung der Fernsehprogramme die Gelegenheiten vervielfacht, diese Informationsangebote zu „umfahren“. Die Chance, daß der gewohnheitsmäßige Gebrauch des Mediums Zuschauer automatisch mit politischen Informationen in Kontakt bringt, hat abgenommen. Fernsehen kann als reines Unterhaltungsmedium gebraucht werden. Ein nicht unerheblicher Teil des Publikums ist von der politischen Berichterstattung des Fernsehens nicht erreichbar.
Diejenigen, die sich von den Informationsofferten ansprechen lassen, zeigen Anzeichen von „Überlastung“. Die enorme Vervielfältigung der Präsenz und des Volumens von Informationen in Verbindung mit einer rapiden Beschleunigung in der Aktualisierung der „Informationslage“ bringen eine neuartige Unübersichtlichkeit. Von ihr bleiben selbst diejenigen nicht verschont, die etwa auf der Basis einer höheren schulischen Bildung und ausgefeilter Techniken im Umgang mit einem Media-Mix die angebotenen Informationen gut zu ‚erarbeiten und zu nutzen vermögen. Für die Mehrheit jener Zuschauer mit weniger gut integriertem Wissen scheint die – auf den ersten Blick paradoxe – Situation zu entstehen, daß die enorme Zunahme der Informationsangebote mit dem Verlust der Qualität der Informiertheit einhergeht. Der Nürnberger Kommunikationswissenschaftler Winfried Schulz weist auf die Gefahr von „Orientierungsproblemen“, „Ratlosigkeit“ und „Mißtrauen“ hin, was zu politischer Entfremdung führen könne. Informationsüberlastung könne in eine Art „medieninduzierte gelernte Hilflosigkeit“ gegenüber einer gesellschaftlichen Welt münden, die dem Individuum in teils bestürzenden Bildern und alarmierenden Botschaften naherückt, ohne daß es sich noch sicher fühlen kann, Übersicht und Kontrolle zu behalten, vermutet der Schweizer Medienforscher Heinz Bonfadelli
Medieninduzierte Hilflosigkeit als Folge von Informationsüberlastung
Es wäre verfehlt, dem Fernsehen die alleinige Verantwortung für Orientierungsverlust und Entfremdung in der Gesellschaft zuzuschreiben. Dennoch bleibt zu fragen, welche Rolle die Informationsangebote des Fernsehens bei der Verarbeitung eigener Erfahrungen spielen, wenn sie als Orientierungshilfe in Anspruch genommen werden.Einen Anhaltspunkt für den Gebrauchswert der Informationsleistungen im Fernsehen bietet die Unterscheidung von Informationsformaten (Nachrichtensendung, politisches Magazin, serviceorientiertes Magazin, Gesprächs- oder Diskussionssendung usw.). Sie stecken einen je unterschiedlich dimensionierten Rahmen für Informationsqualitäten wie Sachgerechtheit, Verständlichkeit, Redundanz oder Begründetheit ab. Die Reportage in einem politischen Magazin bietet mehr Gestaltungsspielraum als die konventionalisierte, knappe Nachrichtenform. Die Bündelung unterschiedlicher journalistischer Beitragsformen in einer monothematischen Sendung (z. B. „Brennpunkt“) schafft mehr Voraussetzungen für eine facettenreiche Behandlung des Themas als der Einzelbeitrag in einem Magazin. Insofern hat die Erkundigung Sinn, inwieweit mit verschiedenen Informationsformaten die Möglichkeit von variablen, in ihrer Komplexität abgestuften und komplementären Formen der Behandlung von aktuellen Themen im Programm zur Verfügung steht.
Die vergleichende Analyse von Programmstrukturen zeigt, daß bei öffentlich-rechtlichen wie kommerziellen Programmen die Nachrichtensendungen an der ersten Stelle der Informationsangebote stehen. ARD und ZDF ergänzen dies in erheblichem Umfang mit „politischen Informationssendungen“ und Angeboten mit wirtschaftlichen, kulturellen oder alltagsbezogenen Fragen. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen bietet damit ein vergleichsweise dichtes Netz unterschiedlich akzentuierter journalistischer Formate, die eine qualitative Variation in den Vermittlungsleistungen ermöglichen.
Echt-Leid in Echt-Zeit
Die Informationsangebote der beiden reichweitenstärksten kommerziellen Programme haben eine andere Struktur. Die tagesaktuelle Nachrichtengebung wird in vergleichsweise geringem Umfang um Sendungen ergänzt, deren Format die Darstellung von Hintergründen erlauben. Besonders RTL bietet statt dessen Sendungstypen, die nach Themenwahl und Präsentationsform eher eine unterhaltende Funktion haben. Es läßt sich – trotz neuer Sendungen, wie zum Beispiel bei RTL mit der werktäglichen Nachtausgabe von „RTL-Aktuell“ und einer monothematischen 50-Minuten-Sendung – feststellen, daß die kommerziellen Programme eine beschränkte Variation der Themenaufbereitung bieten. Was bedeutet dies für den informationellen Gebrauchswert der Programme? Wie informiert das Fernsehen?