Was passiert im Zeitalter der Echtzeitberichterstattung mit Informationen und mit uns?

Vorbemerkung 2024

Der folgende Beitrag von Wolf-Rüdiger Wagner ist 30 Jahre alt. Er reflektiert die Veränderungen in der Fernseh-Kriegsberichterstattung am Beispiel des Golf-Krieges zu Beginn der 90er Jahre. Der Beitrag ist somit ein Dokument für die kritische medienpädagogische Auseinandersetzung mit der damals aktuellen Berichterstattung und liefert uns für die Gegenwart Anregungen, was sich in den folgenden 30 Jahre verändert und zur gegenwärtigen Art und Weise der Kriegsberichterstattung – z.B. im Ukraine-Krieg – geführt hat.

Der Beitrag fordert auf, über die „Qualität“ von Nachrichten-Informationen und ihr Zustandekommen nachzudenken, weit darüber hinaus, ob man den jeweiligen inhaltlichen Aussagen zustimmt oder nicht.

Detlef Endeward, März 2024


Zuerst abgedruckt: GMK-Rundbrief Nr. 36/1994, S, 65 – 72

Medien-Wirklichkeit im Fernseh-Zeitalter

Kriegs- und Krisenberichterstattung ist eine besondere „Spielart“ von RealityTV. Im Zeitalter von Satellitenkommunikation und digitaler Nachrichtentechnik lässt uns das Fernsehen „live“ an den Schrecken der Wirklichkeit teilhaben.

Deutlich wurde die neue Qualität der elektronischen Berichterstattung während des Golfkrieges.

Diese Zäsur in der Geschichte der Berichterstattung ist mit dem amerikanischen Nachrichtensender CNN und seinem Modell der „Live-Berichterstattung “ verbunden.

Der Übergang von der Aktualität zur Echtzeitberichterstattung zwingt uns dazu, unsere Einstellung zu Informationen, unseren Umgang mit Informationen sowie unsere Vorstellungen von „Information“ neu zu durchdenken.

Doch bevor diese Überlegungen weiter ausgeführt und begründet werden, einige Anmerkungen zu den eher „klassischen Aspekten“ der Inszenierung von Wirklichkeit während des Golfkrieges.

Über die Militärzensur und die Rolle der Medien während des Golfkrieges ist inzwischen viel geschrieben und diskutiert worden – und sicherlich ist Zensur eine der direktesten Versuche, die Vermittlung von Wirklichkeit zu inszenieren.

Weniger Aufmerksamkeit ist einem anderen Aspekt der “ Inszenierung “ des Golfkrieges zuteil geworden. Der Golfkrieg war der erste Krieg, der nicht mehr nach dem Kalten-Kriegs-Schema begründet werden konnte. (1)

Die Bush-Administration griff auf das Interpretationsmodell „II. Weltkrieg“ zurück und verstand es, dieses Interpretationsmodell in den westlichen Medien weitgehend durchzusetzen.

Nach diesem Interpretationsmodell ergeben sich folgende Analogien: Wie das nationalsozialistische Deutschland überfällt der Irak unter Bruch des Völkerrechts Nachbarstaaten. Der Irak begeht Genozid an Minderheiten im eigenen Land. Saddam Hussein wird mit Hitler, der Personifikation des Bösen, gleichgesetzt – bis zum Führerbunker wird diese Parallele durchgespielt. Die Bedrohung der westlichen Zivilisation durch die irakische Armee – einer Armee, die als viertstärkste in der Welt dargestellt wird, ausgestattet mit Massenvernichtungsmitteln aller Art – kann nur durch den totalen Sieg beseitigt werden. Daher kommt es zu einer „Wiederbelebung“ der „II. Weltkriegs-Koalition“ zur Bekämpfung des Bösen.

Damit waren konkurrierende Interpretationsmodelle ausgeschaltet. Wäre es doch möglich gewesen, die Krise am Golf als einen nachkolonialen Regionalkonflikt zu interpretieren oder das Eingreifen der USA durch „strategische Interessen“ bzw. durch die Notwendigkeit, Rohstoffquellen zu sichern, zu erklären. Im Interpretationsrahmen ‚II. Weltkrieg“ wurden alle Einwände gegen die Politik der Bush-Administration, die auf Verhandlungen und Kriegsvermeidungen zielten, zur „Appeasement- Politik“ , zum Nachgeben gegenüber einem neuen Hitler.

Über diese eher „klassische Inszenierupg“ durch Politik und Militärzensur hinaus, bleibt der Golfkrieg vor allem interessant, weil es der erste Krieg war, über den „live“ berichtet werden konnte und ansatzweise trotz Zensur auch “ live “ berichtet wurde.


(1) Vgl. zum folgenden Elihu Katz, The End of Journalism? Notes on Watching the War, in:
Journal of Communicatron H. 3/1992,’5.5 – 13

Nach dem amerikanischen Nachrichtenmagazin Time wurde der Kriegsausbruch auch im Weißen Haus am Bildschirm miterlebt. „

Die ersten Nachrichten erfuhr die Welt von westlichen Fernsehkorrespondenten aus dem Al Rasheed Hotel im Zentrum Bagdads. Sie berichteten, dass man Luftschutzsirenen höre, Leuchtspurgeschosse sah und die Explosionen der Luftabwehr den schwarzen Himmel er- leuchteten. Einige Augenblicke lang waren jedoch keine Bombenexplosionen zu hören. George Bush, der im Weißen Haus dem Fernsehen zuhörte und zusah, begann unruhig zu werden. Endlich vernahm man über die für Korrespondenten noch offene Telefonleitung ein Geräusch, das unzweifelhaft von einer Bombenexplosion stammte … ‚Genau, wie geplant‘, kommentierte Bush und schickte seinen Pressesprecher Marlin Fitzwater los, um den Reportern mitzuteilen:‘ Die Befreiung Kuwaits hat begonnen‘. “ (2)

 

Für die Glaubwürdigkeit dieser Szene spricht, dass CNN in Krisensituationen inzwischen zur bevorzugten Informationsquelle für Politiker geworden ist – und mehr als das. Über diesen Nachrichtensender wird Politik gemacht. Erklärungen und Interviews in CNN ersetzen klassische Formen der Diplomatie. Und dies nicht erst seit dem Krieg am Golf. Gleichzeitig liefert diese Szene ein anschauliches Bild für die Paradoxien dieses Krieges und der Berichterstattung über diesen Krieg.

Der amerikanische Präsident konnte einerseits dank der weltweiten Satellitenkommunikation über die Medien „live“ mitverfolgen, wie seine Anordnungen und Befehle ausgeführt werden. Andererseits zeigten diese Medien den Krieg nicht, obwohl es oder gerade weil es sich um den ersten Live-Fernseh-Krieg gehandelt hat. Auf dem Bildschirm erschienen nur ein Standbild, eine Karte des Iraks und Fotos der in Bagdad anwesenden CNN-Korrespondenten.


(2) „The outside world got the first news from western television correspondents at the Al Rasheed Hotel in downtown Baghdad, who told of heraring air-raid sirens and seeing tracer bullets and antiaircraft bursts lightning up the black skies. For a while, though, no bomb explosions could be heard; George Bush, listening to and watching TV in the White House, started to get a bit edgy. Finally, a noise that was indisputably a bomb blast could be heard over an open telephone line to correspondents at just about 7 p.m. Est – 3a.m. Thursday in Baghdad. Just the way it was scheduled, noted Bush, who dispatched spokesman Marlin Fitzwater to tell reporters, „The liberation of Kuwait has begun. “ (Time, 28, Januar 1991, So Far, So Good, 17118)

Zensur in Kriegszeiten hatte schon immer eine doppelte Zielsetzung, schon immer ging es auch um die „Moral“ der eigenen Bevölkerung. So auch im Krimkrieg, 1853 bis 1856, als es zur ersten Militärzensur im modernen Sinn kam. Die offizielle Begründung hierfür war die Beschleunigung der Berichterstattung durch die Telegrafie. Die Nachrichten über militärische Operationen träfen so schnell in London und Paris ein, dass die Zeitungen zu einer wichtigen Informationsquelle des Feindes würden.

Der Times-Korrespondent William Howard Russell befragte nach dem Krimkrieg den russischen Kommandanten der Festung Sewastopol, ob ihm die Times-Berichte genutzt hätten. „‚Ich habe aus Ihren Berichten nichts erfahren, was ich nicht längst schon durch unsere Spione wusste‘, war die Antwort.“ (3)

Russell wurde dadurch in seiner Auffassung bestätigt, dass sich die Zensur in erster Linie gegen seine schonungslosen Frontberichte richtete, die in England einen Sturm der Entrüstung über die unfähige Armeeführung entfachten. Nicht nur der Einsatz der Telegrafie war neu, sondern auch das Konzept von Öffentlichkeit und unabhängiger Berichterstattung, zu dem es wesentlich gehörte, dass sich die Times-Korrespondenten ihre Informationen selbst beschafften und nicht nur Berichte der militärischen Stellen weitergaben. (4)

Neu an der Diskussion über die Militärzensur im Golfkrieg ist, dass unter der Berufung auf die „Lehren“ aus dem Vietnamkrieg relativ offen eingestanden wurde, dass es vor allem um die Moral der eigenen Bevölkerung ging.

Während des Vietnamkrieges sei die Moral der „Heimatfront“ durch die authentischen Schilderungen des Kriegsgeschehens untergraben worden, letztlich sei der Krieg „im Fernsehen“ verloren worden. Der Vergleich mit dem Vietnamkrieg, so naheliegend er sein mag, trifft aber nicht zu, weil er zu kurz greift.

Während des Krimkrieges führte ein verändertes Konzept von Öffentlichkeit und kritischer Berichterstattung zu realistischen Berichten über das Kriegsgeschehen. Im Golfkrieg wäre es technisch möglich gewesen, zum ersten Mal das Konzept der Live-Berichterstattung – bisher nur „spielerisch“ bei der weltweiten Übertragung von Tennisturnieren und ähnlichen Anlässen verwirklicht – auf einen Krieg zu übertragen.

Filmberichte vom Vietnamkrieg erforderten ca. 30 Stunden Bearbeitungszeit, bevor sie ausgesendet werden konnten. (5) Selbst die Qualität der Telefongespräche war damals so schlecht, dass die telefonisch übermittelten Berichte der Korrespondenten aufgeschrieben und abgelesen werden mussten.6

Der Vergleich mit dem Vietnamkrieg verdeckt also die potentiell neue Qualität der Berichterstattung, die darin zu sehen ist, dass Raketen noch ihr Ziel suchen, wenn sie „live“ auf dem Bildschirm zu sehen sind.

Live-Berichte von Raketenangriffen wurden von der israelischen Zensur verboten. Über Satellitenverbindungen strahlte CNN derartige Berichte in andere Regionen aus. Daher kam es immer wieder vor, „dass besorgte Zuschauer im Ausland Freunde und Verwandte in Israel anriefen, um ihnen zu sagen, dass eine Rakete eingeschlagen war und welchen Schaden sie verursacht hatte. “ (7)

Nicht nur im Nachrichtenmagazin Time wurde darüber nachgedacht, ob unter Bedingungen der Echtzeitinformation Kriege nur noch bei strikter Zensur geführt werden können. Noch erscheint es undenkbar, dass man zu Hause in seinen vier Wänden „live“ verfolgt, ob der eigene Vater, Sohn, Freund oder Nachbar von der anfliegenden Rakete, dem angreifenden Panzer zerfetzt wird oder miterleben kann, wie er noch einmal davonkommt.

„Aus Algerien stammend, notierte Albert Camus zum Algerienkrieg sinngemäß folgendes: „Wenn man meine Mutter bedroht, übernehme ich für nichts mehr die Verantwortung.“ Der Kommentar des französischen Philosophen Virilio zu Camus‘ Bemerkung verweist auf das qualitativ Neue an der Situation: „Stellen wir uns jetzt vor, dass man sie in Direktübertragung vor seinen Augen umbringt!“ (8)

Zwar gab es selten Live-Berichte, doch nahezu immer wurde die Technik zusammen mit den Korrespondenten ins Bild gesetzt. Zu den typischen Bildern dieses Krieges zählt die Einstellung „Korrespondent vor mobiler Satellitenantenne“.


(3) Zitiert nach: Michael Haller: Alles Schreiben oder den Mund halten? – William Howard Russell, der erste Frontreporter, in: Die Zeit Nr. 11/1991, S. 21 – 24
(4) Russell suchte die Sammelstellen für Verwundete auf, befragte die gerade aus der Schlacht herbeigetragenen Soldaten, beschaffte sich von Ärzten Detailinformationen, betrieb also nach damaligen technischen Standards „Live “ -Berichterstattung.
(5) So Elihu Katz: Das Ende des Journalismus. Reflexionen zum Kriegsschauplatz Fernsehen, in: Bertelsmann Briefe Oktober 1991, S.7
(6) Winfried Scharlau: Zwischen Anpassung und Widerstand. Auslandskorrespondenten im Geflecht der Weltmedienordnung, in: Media Perspektiven H. 2/1989, S. 57
(7) Elihu Katz: Das Ende des Journalismus. Reflexionen zum Kriegsschauplatz Fernsehen, in: Bertelsmann Briefe Oktober 1991,  S. 10
(8) Paul Virilio: Krieg im Fernsehen, München und Wien, 1993, S. 47

Von „Realzeit- oder Echtzeitbetrieb“ spricht man in der Prozessdatenverarbeitung, wenn es sich um die Überwachung und Steuerung zeitkritischer Prozesse handelt. Bei technischen Prozessen wie der Steuerung eines Fließbandes, einer Werkzeugmaschine oder einer Ampelanlage muss der Rechner sofort, d. h. in „Echt- oder Realzeit“ die über Eingabegeräte erhaltenen Daten berechnen und auf sie reagieren. Dabei ist es unter Umständen nötig, dass die Berechnung der Ergebnisse innerhalb einer Zeitschranke, die im Millisekundenbereich liegen kann, abgeschlossen sein muss. (9)

Zu derartigen zeitkritischen Abläufen, die Echtzeitbetrieb erfordern, zählen die elektronischen Steuerungssysteme der “ intelligenten “ Waffensysteme. Ausgestattet mit einem Computergedächtnis, d. h. einer Datei mit Satellitenaufnahmen des Ziels, und einer digitalen Kamera als elektronischem Auge, steuern diese „intelligenten“ Raketen, einmal auf die ungefähre Anflugbahn gesetzt, ihr Ziel selbstständig an. Die im Anflug auf das Ziel über das elektronische Auge aufgenommenen Ansichten werden mit den Bildern im Computergedächtnis verglichen und aus dem Vergleich die notwendigen Kurskorrekturen berechnet. Die Verarbeitung der Daten muss in Bruchteilen von Sekunden ablaufen, da die Kurskorrekturen in „Realzeit“ vorgenommen werden müssen.

In einer Zeit, als sich die Infanterie noch mit vier Stundenkilometern vorwärtsbewegte, blieben Informationen einen Tag, eine Woche oder noch länger aktuell. Die elektronische Kriegsführung stößt dagegen auf das Problem der Datenmenge. Die Größe der Gefechtsfelder, die Mobilität der Kampfeinheiten, die Perfektion der Sensoren- und Radarsysteme, die Informations- und Kommunikationssysteme, zu denen alle Arten von Satelliten zählen, und die Waffensysteme selbst liefern eine derartige Fülle von Daten, dass ihre Verarbeitung nur noch automatisch über “intelligente Programme“ zu leisten ist.


(9) Vgl. dazu Duden. „lnformatik“. Ein Sachlexikon für Studium und Praxrs, Mannheim, Wien und Zürich, 1988, Stichwort „Realzeitbetrieb
(Echtzeitbetrieb)‘ S. 78 und Stichwort „Prozeßdatenverarbeitun g“ S. 475

  1. Oktober 1993: Das Thema auf dem amerikanischen Nachrichtenkanal “ Die Krise in Rußland“. Gegen 11.00 Uhr – Moskauer Ortszeit – erscheint während der laufenden Live-Berichterstattung eine Unterzeile. Die CNN-Zuschauer werden darüber informiert, dass die übliche Sendung „Newsroom“ wegen der aktuellen Berichterstattung aus Moskau ausfällt. Als Ersatz wird die laufende Sendung angeboten: „Use of this news coverage is encouraged “ und der Kommentator ergänzt aus dem „off „: „We are all learning a great deal about the shape of Russian history right now. “ Eine der vielfältigen Variationen auf das Versprechen: Bei CNN bekommt der Zuschauer “ History as it happens“ ins Haus geliefert.

Wer sich an einem Tag wie dem 4. Oktober bei CNN einschaltet, muss kein „News-Junkie“ sein, um in den Sog der Live-Berichterstattung zu geraten, um immer wieder der Versuchung zu erliegen, „kurz“ einzuschalten, um auf dem „laufenden“ zu bleiben.

Auf Video konserviert kann man dann feststellen, dass „Fast News“ nur “ heiß“ genießbar sind, abgestanden löst sich ihr „Informationswert“ in nichts auf. Was soll man, wenn die Aktualität vorbei ist, mit Sequenzen wie dieser anfangen:

9.20 Ortszeit Moskau: Man sieht im Bild das Weiße Haus in Moskau, dazu die Kommentatorin: “Aus dieser Kameraposition sehen wir eine Menge Rauch. Das ist hinter dem russischen Weißen Haus. Da ist der Balkon, von dem wir viele, viele unserer Aufnahmen gemacht haben. Der Rauch kommt jetzt dort heraus, wo wir letzte Woche unsere ‚Live-Position‘ hatten. (10)

Dann weitere „Informationen “ über die vielen Fenster des Weißen Hauses, die bis auf einige „Schießscharten“ alle verhangen sind, Das folgende – ebenso vielsagende Gespräch mit einem Experten aus einem Studio in Amerika – wird plötzlich unterbrochen. „Greg, ich möchte Sie nicht abwürgen, bitte bleiben Sie dran. Ich möchte Eileen O’Connor in Moskau fragen: Wir sehen jetzt eine riesige Menge Rauch aufsteigen, kommt der aus dem Teil, von dem Sie gesagt haben, er würde als Bunker benutzt?“ Antwort von Eileen O’Connor, „Das kommt wohl im Moment aus dem Weißen Haus selbst. Der Rauch kommt wohl doch aus der Bunkergegend.“

Dieses Herumraten endete in Spekulationen, ob nicht eher ein LKW in Brand geschossen wurde, den man zuvor dort hinfahren sah. Dann der Moderator aus dem Studio: „Rauch im Himmel über Moskau, in Moskaus Straßen eine Schlacht. Der Kampf um das Weiße Haus zur Stunde in vollem Gange. Die Krise in Moskau geht weiter.“ Dies heißt im “ Klartext“: Nicht abschalten, wir unterbrechen unsere Übertragung nur kurz für einige Werbespots und schalten sofort zurück zum aktuellen Schauplatz der Weltgeschichte.

Später im Verlauf des Nachrichtentages platziert man die Werbespots „cooler“. Man nutzt aktuell entstehende ‚Cliffhanger“: Die Kamera zeigt Soldaten, die als „Black Berets“ vorgestellt werden. Die Soldaten sammeln sich und marschieren in Richtung Weißes Haus. Der Anmarschweg ist berechenbar, also Zeit für Werbung: „Our coverage will continue right after this“ – Bleiben Sie dran, gleich zeigen wir lhnen, wohin sie marschieren, auf wen sie schießen. Nach der Werbung geht es zurück zu den „Black Berets“ mit einer Zusammenfassung und dem „aktuellen Spielstand“ für neu dazugekommen Zuschauer.

Überraschend die Parallelen zur Sportberichterstattung: Bei der Ankunft neuer Truppenteile berichtet der Experte – nicht aus dem Trainingslager oder über Spielerkarrieren – aber über die Haltung der Truppenteile während des letzten Putschs und wo sie stationiert sind. Falls man im entscheidenden Augenblick etwas verpasst hat, kann man sich darauf verlassen: Wie beim Sport werden die Höhepunkte in Wiederholung gezeigt, und die Zusammenfassung gibt es

auch noch.

Damit die Spannung nicht nachlässt, der Ausgang offen bleibt: Immer wieder Hinweise auf die vielen Waffen im Weißen Haus, die unübersichtlichen Treppenaufgänge und Flure, die zahlreichen Scharfschützen.

Dann um ca. 9.45 Moskauer Ortszeit endlich etwas Spektakuläres: Während eines Studiogespräches plötzlich der Zwischenruf: „Oh, haben Sie das gesehen, ein Panzer hat zweimal auf die Vorderseite des Weißen Hauses gefeuert.“ Sofort schwenkt die Kamera auf den Schauplatz. Man sieht noch dicke Rauchschwaden. Zur Orientierung erhält der Zuschauer die „Information“, dass die Schüsse wahrscheinlich in der Nähe des Raums eingeschlagen haben, in dem Rutzkoj seine Pressegespräche abhielt: „Einige unserer Zuschauer kennen diesen Raum aus unseren Übertragungen.“ Diese Einstellung wird kurz darauf zum ersten Mal wiederholt: „Diese zwei Sekunden Videotape vermitteln Ihnen vielleicht einen Eindruck, warum im Inneren des Weißen Hauses ein Meinungswandel stattfindet. Jetzt sind wir wieder live auf Sendung. Das ist nicht mehr Videotape. Sie sehen, wie sich eine Schlacht in den Straßen Moskaus entwickelt. „

Wenn man nicht „live“ bedient werden kann, dann werden die Höhepunkte als „unedited videotape“ gereicht, nicht aus Zeitdruck, sondern dem Stil entsprechend.

Wer sich einen Tag „Live-Berichterstattung“ antut, stellt fest, wie visuelle Höhepunkte gegen noch prägnantere visuelle Höhepunkte ausgewechselt werden. lm Laufe einer mehrstündigen Berichterstattung mit ihren Wiederholungen und Zusammenfassungen werden so visuelle Symbole für das Ereignis geschaffen: „Weißes Haus unter Kanonenbeschuss“ – „Weißes Haus in Flammen“ – „Arzt(?) schlägt auf kapitulierende Putschisten ein“ – „Leichen“.

Haften bleiben Bilder von der Oberfläche.

Alles, was sich auf die aktuellen Abläufe bezieht, löst sich in Vermutungen und Spekulationen auf: „Vorhin haben Sie gesagt, dass sich Fallschirmjäger im Gebäude befinden und sich Stockwerk für Stockwerk vorkämpfen – Will you outline for us – as best as you can – what you think is going on in there. „

Ganz zu schweigen von Hintergründen und Zusammenhängen verstellt die Live-Aufnahme selbst den Blick auf die aktuellen Abläufe.

„lm Gegensatz zu dem Eindruck, den die Fernsehkameras am 4. Oktober der Welt vermittelten, wurde der Sturm aufs Weiße Haus operativ nicht von der Armee geführt. Die eigentliche Aktion lag in den Händen der Spezialeinheiten

Alpha und Wympel. Die Antiterror-Einheit Alpha, die früher der 7. Abteilung des KGB unterstellt gewesen war, hatte beim August- Putsch 1991 den Sturm auf Jelzins Weißes Haus verweigert und bildet seither die spezielle Sicherheitstruppe des Präsidenten. Alpha hatte die Initiative bei der Einnahme der entscheidenden unteren Stockwerke und dirigierte die so dramatisch wirkenden Salven der zwölf Armeepanzer in die oberen Stockwerke – zur Einschüchterung. (11)

„Ganz dicht dran ist zu dicht dran“: Wird das Fernsehen zur „Sensationsmaschinerie“ (12) lösen sich Informationen zugunsten des Erlebnis- und Ereignischarakters in nichts auf.


(10) Übersetzung des O-Tons der CNN-Berichterstattung durch den Verfasser
(11) Christian Schmidt-Häuer:: Kalkuliertes Chaos – Hat Präsident Jelzin den kommunistischen Aufrührern in Moskau Anfang Oktober eine
Falle gestellt?, in: Die Zeit Nr. 47/1993, S. 4
(12) Uwe Kammann: Die Bildermacht – Zur Kriegs- und Krisenberichterstattung, in:epd/Kirche und Rundfunk Nr. 90/1992,5.7

Früher musste man sich vor Ort befinden, um etwas unmittelbar und direkt mitzuerleben. „Der Ort definierte einst eine sehr spezielle Kategorie der Kommunikation.“ (14) Das Hören, Lesen oder Anschauen eines Berichtes weist dem Medienkonsumenten eine andere Rolle zu, als das medial vermittelte Miterleben.

Das Wort reportare bedeutet im Lateinischen sowohl zusammentragen als auch zurückbringen. Der Reporter als Geschichtenerzähler, Augenzeugen und Berichterstatter vermittelte zwischen den Ereignissen in der Ferne und dem Leser/Zuhörer. Bei „Live“ entfällt die Vermittlung – sieht man von der Filterfunktion der Technik ab. „Live“ hebt die räumliche und zeitliche Distanz auf. Die Direktheit von Ton und Bild gestatten den Anschein unmittelbarer

Teilhabe am Geschehen.

Dieses Leitbild vom Reporter als “ Überbringer“ von Nachrichten wurde in den 60er und 70er Jahren vielfach kritisch „hinterfragt“. Letztlich wurde die „Gatekeeper-Funktion“ der Journalisten in Frage gestellt. Auswahl und Bearbeitung von Nachrichten waren einem grundsätzlichen Manipulationserdacht ausgesetzt.

Damit wir nicht orientierungslos der Informationsflut der Live-Berichterstattung ausgesetzt sind, muss man heute Auswahl und Bearbeitung einfordern. Das Problem liegt heute darin, dass Journalisten in der Echtzeitberichterstattung ihrer Funktion als „Gatekeeper“ nicht mehr gerecht werden können. Der fehlende Abstand zu den Ereignissen führt zur Unterwerfung unter die äußeren Abläufe, macht eine Analyse unmöglich und überlässt den Zuschauer einem ununterbrochenen Nachrichtenfluss ohne erkennbare Hierarchie.

Der Golfkrieg hat deutlich gemacht, dass es keine “ natürliche“ Verbindung zwischen “ Realität-Ereignis“ und „Information“ gibt. (15)

Die Echtzeitberichterstattung à la CNN, die auf bisherige gewohnte Inszenierung der Berichterstattung verzichtet, macht deutlich, dass es keine Nachricht, keine Information ohne Inszenierung gibt, dass „lnstant News“ in Echtzeit zu Nachrichtenmüll werden:

„Es gibt jedoch auch ein paar nachdenkliche Stimmen, welche die technischen Möglichkeiten relativieren, darin auch ein Danaergeschenk erkennen. ZDF-Chefredakteur Klaus Bresser fragt beispielsweise, ob Aktualität um jeden Preis nicht letztlich einen zu hohen Preis bedeutet: indem die Einordnung erschwert, vielleicht sogar unmöglich gemacht wird. Der Verlust an Bearbeitungszeit bedeutet auch Verlust an Nachdenklichkeit, an Strukturierung.

Den Zuschauern wird pausenlos Bild-Schutt ins Haus gekippt, der besinnungslos macht.

Technischer Fortschritt mitsamt der folgenden Beschleunigung und Druck der Konkurrenz verstärken so von zwei Seiten den Druck auf diejenigen, die Denkräume für eine Voraussetzung verantwortungsvoller Berichterstattung halten, die Distanz – zeitliche, räumliche, ordnende – als unabdingbar ansehen, um Zugang zur Wirklichkeit zu vermitteln und damit auch ein Urteil ermöglichen. Erst dann, so die weitere Überlegung, bekommen oder behalten auch die starken, die spektakulären Bilder ihren Eigenwert, der zugleich immer stellvertretend ist für eine Situation. Erst dann werden sie exemplarisch, erst dann können sie aufrütteln.“ (16)


(13) Ulrich Stock: Tagesschau mit Turbo – Plädoyer gegen das ultraschnelle Fernsehen, in: Die Zeit – Nr. 39/1990, S. 19
(14) Joshua Meyrowitz: Die Fernseh-Gesellschaft. Wirklichkeit und Identität im Medienzeitalter, Weinheim und Basel, 1987, S. 94
(15) Dominique Walton: War Game. L‘ information et la guerre, Paris 1991, S. 87
(16) Uwe Kammann: Die Bildermacht – Zur Kriegs- und Krisenberichterstattung, in: epd/Kirche und Rundfunk Nr. 90/1992,5.7

Echtzeitinformationen sind für Akteure notwendig. Wer nicht eingreifen kann, wird durch den Strom der unbeeinflussbaren Ereignisse überfordert. „Live“ wendet sich nicht an die Vernunft, sondern an das Gefühl. Der fehlende Abstand zu den in Bild und Ton auf dem Bildschirm ablaufenden Ereignissen behindert die Reflexion und verlagert das Gewicht auf die Reaktion. Die Anspannung, die emotionale Mobilisierung, das Ohnmachtserlebnis (ver)führen zu symbolischen Handlungen: Demonstrationen, Aktionen.

Demgegenüber mag es zweitranging sein, dass dieser „Informationsstress“ durch die medienspezifische Inszenierung der Berichterstattung über Ereignisse wie den Golfkrieg noch zusätzlich verstärkt wurde:

„Die Bilder und Berichte, die uns von CNN vermittelt wurden, waren auf militärische Vorgehensweisen bezogen, erschienen unnötig spektakulär, wenn Journalisten mit hastig übergestreiften Gasmasken aus einem Not-Studio in Jerusalem berichteten oder aus einem Hotelzimmer in Bagdad über das aus dem Hotelzimmer gehaltene Mikrophon die Donnerschläge der Bomben akustisch zu vermitteln versuchten. “ (17)

Zur zusätzlichen Dramatisierung der Berichterstattung trägt die Atmosphäre bei, die durch Programmunterbrechungen, Sondersendungen, ständiges Hin- und Herschalten von einem Schauplatz zum anderen, Kennzeichnung von Sendungen mit speziellen Symbolen – Logos – usw. erzeugt wird.

Grundsätzlicher auf die Medienverfassung zielt der Einwand, spezialisierte Nachrichtenkanäle wie CNN führten zwangsläufig zu einer Verzerrung. Man könne nur 24 Stunden, rund um die Uhr, „Neuigkeiten“ verkaufen, wenn man dramatisiere, Spannung erzeuge, Information als Show inszeniere. Im Kriegsfall gibt es dann nichts als Krieg. Ziel ist eine ständige Mobilisierung des Publikums, um es vom Um- und Abschalten abzuhalten.

Nachweislich haben sich Menschen im Umgang mit Medien schon an vieles gewöhnt. Man denke nur an die Reaktion des Publikums auf einen der ersten Filme der Filmgeschichte. In dem Film “ Die Ankunft eines Zuges im Bahnhof von La Ciotat“ sieht man auf der Leinwand, wie eine Lokomotive, die aus der Tiefe der Leinwand auftaucht, immer größer wird und dicht an der Kamera „vorbeirast“. Diese Laufbilder versetzten – so wird berichtet – das Publikum vor hundert Jahren in panischen Schrecken. Seitdem haben wir viel dazu gelernt im Umgang mit Medien. (*)

Falls wir uns jedoch auch an die „Live-Bilder“ des Tötens und Sterbens gewöhnen sollten, hätte dies eine völlig andere Qualität. Da es sich nicht um Gewöhnung in dem Sinne handeln würde, zwischen medialer Abbildung/Fiktion und Realität zu unterscheiden, könnte es sich doch wohl nur um Gewöhnung im Sinne von Abstumpfung handeln.

Das Leiden und Sterben von Menschen am Bildschirm in “ Echtzeit“ ohne emotionale Anspannung mitzuerleben, wurde völlig neue Verarbeitungs- und Distanzierungsmechanismen voraussetzen. Dazu reichte der alltägliche „Informationszynismus“, von dem Sloterdijk angesichts des ungewichteten Nebeneinanders von Glanz und Elend spricht, noch nicht aus:

„Ohne ein jahrelanges Abstumpfungs- und Elastizitätstraining kann kein menschliches Bewusstsein mit dem zurechtkommen, was ihm beim Durchblättern einer einzigen umfangreicheren Illustrierten zugemutet wird; ohne intensive Übung verträgt keiner, will er nicht geistige Desintegrationserscheinungen riskieren, dieses pausenlose Flimmern von Wichtigem und Unwichtigem, das Auf und Ab von Meldungen, die jetzt eine Höchstaufmerksamkeit verlangen und im nächsten Augenblick total desaktualisiert sind.“ (18)


(17) lngrid Volkmer: Wie arbeitet CNN? Medienpädagogische Anmerkungen zur Kriegsberichterstattung, in: GMK-Rundbrief H. 2/1991,5.4
(18) Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft, Bd. 2, FrankfurUM. 1983, 5. 563

Zeitgleich mit den Moskauer Ereignissen vom 4. Oktober 1993 kommt es in Somalia zu Kämpfen, bei denen ein amerikanischer Kampfhubschrauber abgeschossen wird und amerikanische Soldaten – tot und verwundet – in die Hände der Soldaten von Aidid fallen. Präsident Clinton befindet sich in diesen Tagen in Kalifornien, um für seine Gesundheitsreform zu werben. Clinton brach seine dreitägige Reise nicht ab, musste jedoch ständig auf den Ablauf der Ereignisse in Moskau und Somalia reagieren:

„In einem Interview sagte Clinton, er zögere immer mehr, die US-Verbände weiter unter einer UNO-Struktur einsetzen zu lassen, die nicht ‚die Hilfe bietet, die wir brauchten, um unsere Truppen zu schützen‘. Die Bilder des verwundeten, gefangenen Hubschrauberpiloten sowie Szenen, in denen ein Mob amerikanische Gefallene durch die Straßen zerre, machten ihn, so der Präsident, ‚wirklich wütend‘.“ (20)

Abgesehen davon, wie „persönlich“ diese Wut war, werden ihn die Meinungsumfragen zum Handeln getrieben haben. Wir leben nicht nur in einer Welt der ultraschnellen Bilder“, sondern auch in einer Welt der repräsentativen Blitzumfragen samt sofortiger Computerauswertung: In einer Stimmungsdemokratie können die Bilder einer Live-Berichterstattung zu stürmischen Ausschlägen auf dem Meinungsbarometer führen. Nicht umsonst ist in der Debatte um den UNO-Einsatz deutscher Soldaten immer wieder die Rede von der „Angst vor den ersten Bleisärgen „.

CNN hielt uns auch hier auf dem Laufenden. In den Umschaltungen im Laufe des Nachrichtentages wurden die Zuschauenden nicht nur ständig über die Reaktionen der Börse auf die Ereignisse in Moskau informiert, sondern immer wieder tauchte auch Clinton auf den verschiedenen Stationen seiner Reise durch Kalifornien auf, konnte man verfolgen wie ein Politiker auf Live-Ereignisse live re(a)gieren muss.


(19) Vgl. dazu Carlos Widman: Die Glotze als Feldherr. Carlos Widman über den Einfluß des Fernsehens auf Amerikas lnterventionspolitik,
in: Der Spiegel Nr. 4111993, S. 182
(20) Süddeutsche Zeitung, 7. Oktober 1993

Einspruch: Wir verlieren uns aus den Augen und flüchten in aufregende Bilder.
„Wir haben von vielem zuviel, viel zuviel, zu viele Bilder, die ich nicht brauche und nicht will. Ich brauche nicht live dabei zu sein, wenn Jelzins Jungs das Weiße Haus stürmen und dabei ebenso wie der Kameramann Kopf und Kragen riskieren. Ich will an dem voyeuristischen Zwang dieser Liveschaltungen in Krisen- und Unglücksgebiete nicht länger teilnehmen.“ (21)

Gegenrede: Die Kehrseite des TV-Voyeurismus
„Wenn sogar demokratisch legitimierte Regierungen solche Methoden der Medienlenkung für unvermeidlich halten, um einen Krieg führen zu können, dann können Fernsehjournalisten, die sich dennoch ihre Informationsfreiheit nehmen, offenbar Blutvergießen verhindern.

Ein Lehrstück dafür war der Putsch der orthodoxen Funktionäre in der Sowjetunion im August. Er ist auch an der Befürchtung der alten Männer der Junta und der jungen Männer in den Panzern gescheitert, dass bei einem Sturmangriff auf das russische Parlament Live-Bilder dieses Gemetzels um die Welt gehen würden, was einen hoffnungslosen Legitimitätsverlust bedeutet hätte.“ (22)


(21) Rainer Komers, „Zurück nach Hamburg“ Zum Tode des ARD-Kameramanns Rory Peck in Moskau, in: Die Zeit Nr. 4211993, S. 94 – Der Autor ist Filmemacher. Rory Peck berichtete als Kameramann für die ARD aus Moskau. Bei den Schießereien um das russische Fernsehzentrum Ostankino wurde er getötet.
(22) Horst Pöttker, Die Kehrseite des W-Voyeurismus, in: medium H. 3/1991, S. 5

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