Kinoneubauten nach 1950 – Die zweite Generation
Peter Struck (2023)
Auf die Wiedererrichtung der großen Vorkriegskinos und die Wiederinbetriebnahme oder Neueinrichtung von kleineren Vorstadtkinos in ehemaligen Wirtshaussälen von 1945 bis 1950 folgt ab etwa 1950 eine neue Generation von Lichtspielhäusern, die den neuesten Entwicklungen Rechnung tragen und im Sinne einer funktionalen Kinoarchitektur auch gestalterisch umsetzen. Im Vergleich zu den Vorkriegshäusern und ihren Nachfolgebauten zelebrieren viele Kinoneubauten der fünfziger Jahre eine geradezu organische Formensprache in der Raumgestaltung.
Auffällig ist dabei die geringe Zahl an neuen Großkinos in den fünfziger Jahren. Die von 1948 bis 1950 wieder aufgebauten großen Häuser decken den Bedarf vorerst ab, und so bildet die Errichtung des Theater am Aegi 1953 eine absolute Ausnahme, die darin begründet liegt, dass sich der Film das Haus mit Varieté und Operette teilen muss. Auf die Vorhut um 1950 (Hochhaus-Lichtspiele 1949, Grenzburg-Lichtspiele 1950, Kleefelder Lichtspiele 1951) folgen die beiden »geburtenstarken« Jahrgänge 1953 (Esplanade-Lichtspiele, Filmstudio am Thielenplatz, Luna-Lichtspiele, Theater am Aegi und Theater am Kröpcke) und 1955 (Camera-Lichtspiele, City-Theater, Filmpalast am Schwarzen Bären, Residenz-Theater und Ring-Theater), bevor die zweieinhalb Häuser Rivoli-/Roxy-Lichtspiele und Savoy-Theater 1958 den Neubauboom beenden.
Der Wiederaufbau einiger Vorkriegstheater, vor allem aber die Neu- und Umbauten der Nachkriegskinos werden in der Hauptsache von einer Handvoll Architekten ausgeführt. Es sind die namhaften Architekturbüros von Ernst Friedrich Brockmann (City-Theater, Grenzburg-Lichtspiele), Adolf Falke (Kleefelder Lichtspiele, Regina-Lichtspiele), Alfred Goetsch (Capitol-Lichtspiele, Esplanade-Lichtspiele, Europa-Palast, Kleefelder Lichtspiele, Luna-Lichtspiele, Palast-Theater, Schwanenburg-Lichtspiele), Hans Klüppelberg und Gerd Lichtenhahn (Kröpcke-Theater, Schauburg Linden, Theater am Aegi, Theater am Damm), Arnold Leisler (Adler-Lichtspiele, Central-Theater, Goethehaus-Lichtspiele, Posthorn-Lichtspiele, Rex am Steintor), Dieter Oesterlen (Filmstudio am Thielenplatz, Hochhaus-Lichtspiele, Uhlenhorst Kulturfilmstudio), Kurt Rietdorf (Camera-Lichtspiele, Hochhaus-Lichtspiele, Residenz-Theater) und Adolf Springer (Gloria-Palast, Goethehaus-Lichtspiele, Ring-Theater, Weltspiele sowie die Projekte der Skala-Lichtspiele in Kleefeld und des Titania-Palastes in Kleefeld und Vahrenwald).
Äußerlich erscheinen die meisten Kinobauten der fünfziger Jahre unspektakulär. In der Regel sind die Kinosäle in einen größeren Baukomplex eingebunden, oft liegen sie auf dem Hinterhof. An der Fassade tritt das Kino meist kaum in Erscheinung, lediglich bei der Gestaltung des Eingangsbereichs durch Vitrinen und Werbeflächen. Nur selten sorgen hier große Fensterflächen, ausladende Treppen und schlanke Stützen für Dynamik, Leichtigkeit und Transparenz, meist hebt lediglich ein auskragendes, mit Leuchtschrift versehenes Vordach den Eingang des Filmtheaters hervor. Von hier aus führen lang gezogene Passagen tief durch das Gebäudeinnere zum Kinosaal. Auf diesem Weg entfernt sich der Besucher allmählich vom Alltag: Wie bei einer Initiation stimmen ihn dort Schaukästen, Lichtreklamen und Leuchtskulpturen auf die Traumwelt des Kinos ein. Das Passieren dieser »Stimmungsschleusen« lässt sich mit einer subtilen Lichtdramaturgie oder über die Inszenierung von Treppen noch zusätzlich steigern, wie wir beim Filmstudio am Thielenplatz oder den Hochhaus-Lichtspielen sehen werden.
Vor allem der Kinosaal wird jetzt zum Experimentierfeld für neuartige Raumschöpfungen: Dynamische Raumkompositionen mit plastischen Kurvaturen von Decke, Rangbrüstung und Wandgestaltung formen eine organische Einheit, die den Zuschauerraum überwölbt. »In Zusammenhang mit der großen Bedeutung, die Film und Kino für die Freizeitgestaltung der Deutschen in der Zeit des Wiederaufbaus und des Beginns der Konsumgesellschaft besaßen, spiegeln die oft höchst originellen und eigenständigen Architekturerfindungen im Kinobauwesen wie kaum ein anderes bauliches Zeugnis in erstklassiger Weise das Lebensgefühl und die Alltagskultur jener Jahre wieder« (Klein-Wiele, S. 150/151)
Im folgenden wollen wir die Bandbreite der gestalterischen Möglichkeiten dieser »bewegten Architektur« für »bewegte Bilder« an einigen Beispielen aus Hannover veranschaulichen. Gemessen an der Anzahl der Kinos gibt es hier vergleichsweise wenig Extreme oder gewagte Experimente, und doch lohnt es sich, sieben Neubauten etwas genauer zu betrachten: die Hochhaus-Lichtspiele (1949), die Grenzburg-Lichtspiele (1950), das Theater am Aegi und das Filmstudio am Thielenplatz (1953), schließlich das City-Theater, das Ring-Theater und das Residenz-Theater (1955).
Als eine Art Bindeglied zwischen den wieder aufgebauten Filmpalästen der Vorkriegszeit und den Neubauten der fünfziger Jahre fungieren die Hochhaus-Lichtspiele in der Planetariumskuppel des Anzeiger-Hochhauses. Ein Kino in der Kuppel gibt es bereits seit 1928. Doch noch kurz vor Ende des Krieges brennt mit dem Planetarium auch die Kulturfilmbühne aus, nur die äußere Kuppel hält dem Feuer stand. Im Dezember 1949 werden dort die Hochhaus-Lichtspiele eingerichtet. Der komplett neu konzipierte Kinosaal ist in einem gedämpften Goldton getäfelt und wird durch Lichtleisten in der dreifach gestuften, organisch geschwungenen Rabitz-Decke indirekt beleuchtet.
Ihre außergewöhnliche Ausstrahlung erhalten die Hochhaus-Lichtspiele vor allem durch zwei Komponenten: Der runde Saal unter der Kuppel formt den Zuschauerraum zu einem Dreiviertelkreis, die geschwungenen Sitzreihen korrespondieren mit der Gestaltung der Decke. Dadurch erinnert der Saal eher an einen traditionellen Theaterzuschauerraum als an einen länglichen Kinosaal mit abschließender Leinwand. Auch der Europa-Palast in Döhren verfügt über einen runden Zuschauerraum. Doch verglichen mit seinen über 900 Sitzplätzen erscheinen die Hochhaus-Lichtspiele mit ihren 400 Plätzen geradezu intim. Vor allem aber sorgt die organische Anordnung der Sitze für gute Sicht und fördert das Gemeinschaftserlebnis der Zuschauer. Ein vergleichbares Erlebnis ermöglicht ab 1953 der ovale, »im Halbkreis schwingende Zuschauerraum« der Esplanade-Lichtspiele in der Südstadt.
Ausschlaggebend für seine einzigartige Aura ist die Position des Kinos fast 35 Meter über dem brodelnden Verkehr, hoch über den Dächern der Stadt. Schon zu Beginn, als der Saal vor allem als Planetarium dient, ist seine Lage »dem Himmel nahe, an sich gewiß schon ein glücklicher, wenn man will, in dieser prosaischen Zeit sogar ein poetischer Gedanke«, aber noch heute liegt ein von den herkömmlichen, zu ebener Erde liegenden Kinos »nicht genutztes suggestives Stimmungselement darin, den Besucher zunächst einmal der gewohnten Alltagssphäre zu entheben« (Westheim, S. 21), um ihm dann eine Welt oberhalb und außerhalb seines Alltags zu eröffnen. Eine derart metaphorische Reise in die Traumwelt des Kinos ist wohl nie sinnreicher konzipiert worden.
Außergewöhnlich ist auch die organische Gestaltung der Grenzburg-Lichtspiele. Da das Kino in einer ehemaligen Kegelbahn eingerichtet wird, hat der Kinosaal lediglich eine Höhe von 7,30 Meter und liegt etwa 1,5 Meter unter dem Straßenniveau. Architekt Brockmann »ist bei der Gestaltung eigenwillige, neue Wege gegangen. Die Straßenebene bildet die Mitte des Raumes; wenige Schritte hinab führen den Besucher ins Parkett, wenige Stufen hinauf, und man hat den Rang erklommen. Außer den Begrenzungen der Leinwand und des Bühnenausschnittes wird man vergeblich nach geraden Linien suchen; die Umrisse des Gesamtraumes sind tropfenförmig abgerundet, die Emporenbrüstung und Sitzreihen elegant geschwungen.« Als kuriose Besonderheit »weist das Kino […] eine geradezu surrealistische Deckenbeleuchtung auf, die als Kreis und Strich, als Scheibe und Schlangenlinie scheinbar wahllos verstreut worden ist. Eine originelle Idee!« (HAZ vom 16.2.1950)
1951 erhält Kleefeld endlich sein lang ersehntes Stadtteilkino. Durch die konvexe Eingangsfassade heben sich die Kleefelder Lichtspiele von Adolf Falke von den üblichen Standard-Theatern ab. Im Innern wird dieser gelungene architektonische Auftakt bedauerlicherweise nicht adäquat weiter geführt, etwa als origineller Grundriss in Form eines Tortenstücks. Ein Mehr an Aufwand hätte dem Theater gut getan, denn erst bei der Renovierung 1958 durch Alfred Goetsch erhält der in schlichtem Grau gehaltene Zuschauerraum farbige Akzente – mit einem blauen Bühnenvorhang und einer Wandbespannung in Gelb und Braun.