Medienpädagogische Überlegungen zur Kriegsberichterstattung in den Medien
Fragen zum „Nachrichtenwert“ von Kriegen und Konflikten
Die Ausgangsthese des Internet-Projekts „Ein Welt voller Kriege“ lautet: „Die Massenmedien berichten nur über Ausbrüche, Abschlüsse und eventuell besondere Ereignisse. Das ‚alltägliche Grauen‘ ist uninteressant, weil es nicht aktuell und aufregend ist.“
Mit dem Gegensatz von „alltäglich“ zu „aktuell und aufregend“ wird jedoch nur ein Faktor benannt, der die Nachrichtenauswahl in den Medien steuert. Das „Aktuelle“ mit neu und unbekannt gleichzusetzen, ist zu kurz gegriffen. „Aktuell“ ist nur dann etwas, wenn ihm eine Person kognitiv und emotional Bedeutung zuweist.
Medienkompetenz setzt die Einsicht voraus, dass jeder kommunikative Akt Selektionen verkettet. Nicht dass dies geschieht, sondern wie dies geschieht, muss untersucht und erklärt werden. (Vgl. LUHMANN 1975, S. 22) Individuelle Wahrnehmung und medial vermittelte Kommunikation sind dabei an vergleichbare Prozesse der Auswahl und Sinnzuweisung gebunden. Dass diese Selektionsketten nicht vom Zufall gesteuert werden, sondern bei aller Variationsfreiheit nach erkennbaren Mustern ablaufen, lässt sich an der Selektion und Verarbeitung von Nachrichten zeigen.
Die Aussagen der Nachrichtenforschung zu Nachrichtenwerten und Nachrichtenfaktoren legen die Baugesetze frei, nach denen ein wesentlicher Teil der Medienrealität konstruiert wird. Kriterien der Nachrichtenselektion stellen ein brauchbares Instrumentarium dar, um sich das Fehlen bzw. Auftauchen von Nachrichten zu erklären und sich somit einen Zugang zum Verständnis und zur Kritik der „Weltkommunikationsordnung“ zu verschaffen.
(M1 Zur Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien)
Die Aussagen über die allgemeine Berichterstattung sind mit entsprechenden Präzisierungen auch auf die Berichterstattung über Kriege und Konflikte übertragbar.
(M2 Wann wird ein Krieg als berichtenswert eingestuft?)
Wie wird über Kriege berichtet?
Neben der Frage, wann über Kriege und Konflikte berichtet wird, muss auch der Frage nachgegangen werden, wie berichtet wird.
Im Zusammenhang mit dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien fand im Februar 1997 in Bern eine Diskussion zum Thema „Medienkrieg in Europa – Kriegsberichterstattung und das Bild Jugoslawiens in den Medien“ statt. Die als Ausgangspunkt der Diskussion formulierten Thesen sind „nicht als Journalisten-
Schelte oder als Urteil über einzelne Medien oder Medienschaffende gedacht, sondern sie versuchen, Entwicklungstendenzen auf einen – manchmal polemischen – Punkt zu bringen“.
Diese kritischen Anmerkungen zur Berichterstattung zum Krieg im ehemaligen Jugoslawien bieten einen Einstieg in die Analyse von Kriegs- und Konfliktberichterstattung.
(M3 Medien und Krieg – Thesen)
Wie sollte über Kriege berichtet werden?
Eine kritische Auseinandersetzung mit den Medien kann nicht nur von den Mängeln und Fehlern ausgehen, sondern auch von Vorstellungen über eine angemessene Berichterstattung. Einen derartigen Versuch unternehmen die Friedensforscher Richard C. Vincent und Johan Galtung in ihren „Zehn Vorschläge für eine andere Kriegsberichterstattung“.
(M4 Zehn Vorschläge für eine andere Kriegsberichterstattung)
Der Bildschirm als Feldherr
Die Medien folgen in der Berichterstattung über Kriege und Konflikte nicht nur bestimmten Regeln, sie sind zugleich auch aktive „Mitspieler“, die im Extremfall der Politik die Regeln des Handelns diktieren können – und dies nicht erst, seitdem es das Fernsehen gibt.
Ein historisches Beispiel hierfür liefert die Pressekampagne, mit der das New York Journal und sein Verleger William Randolph Hearsts Druck auf die US-Regierung ausübten, Spanien wegen Kuba den Krieg zu erklären.1 Die aktive Rolle, die das New York Journal dabei übernahm, kommt in den Telegrammen zum Ausdruck, die zwischen dem Reporter Remington und seinem Verleger Hearst gewechselt wurden:
„Everything is quiet. There is no trouble here. There is no war. I Wish to return. – Remington “Please remain. You furnish the pictures and I‘ll furnish the war. –
W.R. Hearst“
Als kurz darauf das amerikanische Schlachtschiff Maine im Hafen von Havanna explodierte, startete Hearst eine Pressekampagne, die mit dazu beitrug, die Amerikaner davon zu überzeugen, dass ein Krieg mit Spanien unausweichlich sei. Obwohl selbst der amerikanische Präsident McKinley davon ausging, dass die Explosion auf der Maine durch einen Unfall in den eigenen Magazinen verursacht wurde, hielt das New York Journal an seiner Version fest, dass Spanien den Befehl gegeben hatte, das Schiff zu zerstören. Das New York Journal widmete der Story täglich durchschnittlich acht Seiten und diffamierte jeden, der für den Frieden eintrat, als „Verräter“ oder „Wallstreet-Profitjäger”.
Zeitgleich mit einem Putschversuch in Moskau kommt es am 4. Oktober 1993 in Somalia zu Kämpfen, bei denen ein amerikanischer Kampfhubschrauber abgeschossen wird und amerikanische Soldaten – tot und verwundet – in die Hände der Soldaten von Aidid fallen. Präsident Clinton befand sich in diesen Tagen in Kalifornien, um für seine Gesundheitsreform zu werben. Clinton brach seine dreitägige Reise nicht ab, musste jedoch ständig auf den Ablauf der Ereignisse in Moskau und Somalia reagieren.
„In einem Interview sagte Clinton, er zögere immer mehr, die US-Verbände weiter unter einer UNO-Struktur einsetzen zu lassen, die nicht ‚die Hilfe bietet, die wir brauchten, um unsere Truppen zu schützen‘. Die Bilder des verwundeten, gefangenen Hubschrauberpiloten sowie Szenen, in denen ein Mob amerikanische Gefallene durch die Straßen zerre, machten ihn, so der Präsident, ‚wirklich wütend‘.“ 2)
Abgesehen davon, wie „persönlich“ diese Wut war, werden ihn die Meinungsumfragen zum Handeln getrieben haben. Wir leben nicht nur in einer Welt der „ultraschnellen Bilder“, sondern auch in einer Welt der repräsentativen Blitzumfragen samt sofortiger Computerauswertung: In einer Stimmungsdemokratie können die Bilder einer Live-Berichterstattung zu stürmischen Ausschlägen auf dem Meinungsbarometer führen. Nicht umsonst ist in der Debatte um den UNO-Einsatz deutscher Soldaten immer wieder die Rede von der „Angst vor den ersten Bleisärgen“.
Über Public Relations-Maßnahmen und die Einschaltung entsprechender Agenturen versuchen die Konfliktpartner inzwischen die öffentliche Meinung systematisch zu beeinflussen. Ein Beispiel für die Wirkung solcher Medienkampagnen liefert der Golfkrieg. Über 100 Mitarbeiter allein der PR-Agentur Hill & Knowlton, die enge Kontakte zur US-Regierung pflegte, waren 1990/ 91 im Einsatz, um alle relevanten Medien und Entscheidungsträger mit z.T. gezielter Propaganda einschließlich gefälschter Meldungen zugunsten Kuwaits zu versorgen.
Größter Coup war die frei erfundene Brutkasten-Story: Danach hätten irakische Soldaten 312 Babys aus ihren Brutkästen gerissen, um sie auf dem kühlen Krankenhaus-Fußboden von Kuwait-Stadt sterben zu lassen. Mit tränenerstickter Stimme wurde diese Propagandageschichte im amerikanischen Kongress von einer jungen Frau vorgetragen, von der sich erst nachträglich herausstellte, dass es sich dabei um die Tochter des kuwaitischen Botschafters in den USA handelte. Nach dieser über TV-Kanäle in Millionen von US-Haushalten transportierten Horrorgeschichte schnellte die Zustimmungsrate für einen Militärschlag gegen die irakischen Barbaren enorm in die Höhe. (Vgl. hierzu Beham1996, S.Ê150ff.)
Die Beschäftigung mit solchen spektakulären Beispielen von Nachrichtenmanipulation führt höchst wahrscheinlich zu der eher hilflosen Reaktion, ein generelles Misstrauen gegen jede Art von Berichterstattung zu entwickeln. Ein generelles Misstrauen muss letztlich entpolitisierend wirken, da wir für die Wahrnehmung der Welt auf Erfahrungen aus zweiter Hand angewiesen sind.
Über das Internet kann man nicht nur auf eine Vielzahl von Medien schnell und gezielt zugreifen, sondern im Internet haben auch Gruppierungen eine Chance, sich zu artikulieren, die keinen Zugang zu den etablierten Medien haben. Dies erhöht einerseits die Schwierigkeit, sich zu orientieren, eröffnet andererseits aber auch die Möglichkeiten, in aktuellen Konflikten unterschiedliche Interpretationen und Darstellungen auf ihre Plausibilität zu überprüfen.
Wer Zugang zum Internet hat, ist – zumindest zurzeit – keinem Meinungsmonopol staatlicher oder privatwirtschaftlicher Art ausgeliefert. Dem aktiven Vergleich, dem Aufdecken von Widersprüchen, der eigenen Bewertung unterschiedlicher Nachrichtenquellen kommt sicherlich ein didaktisch höherer Stellenwert zu, als der Demonstration von gelungenen Manipulationsversuchen.
Moral im Global Village?
Wir leben in „Einer Welt“. Jenseits aller moralischen Appelle, entspricht diese Aussage der politischen, ökonomischen, ökologischen und kulturellen Realität. „Indizien“ hierfür finden sich zwar überall in unserem Alltag, doch letztlich erschließt sich uns das globale Beziehungsgeflecht, in dem wir leben, nicht über unsere unmittelbare Wahrnehmung und Erfahrung.
In der Mediendiskussion wird dieser Grundtatbestand zumeist übersehen, auf den Arnold Gehlen schon in den 50er Jahren aufmerksam gemacht hat:
„In der Agrarperiode hatte ein Bauer mit seiner Arbeit die Probleme von 80 % der Bevölkerung mit verstanden, aber die unendlich komplizierten Gesellschaften von heute müssen dem einzelnen in dem Wie und Womit ihres Zusammenspiels ein Rätsel sein,… Wir müssen daher über alles, was jenseits unseres sehr kleinen unmittelbaren Berufs- und Erfahrungshorizonts liegt, unterrichtet werden, wir erhalten darüber Informationen: wir lesen Zeitungen oder hören am Radio von Regierungswechseln, Produktionszahlen, Gesetzesbeschlüssen, neu entstehenden Staaten und tausenderlei Vorgängen, die wir nicht unmittelbar miterleben.“
Aus diesen Informationen bildet sich in unserer Vorstellung das, was Gehlen „Erfahrung zweiter Hand“ nennt. Wir sind zwangsläufig auf diese „Erfahrungen aus zweiter Hand“ angewiesen, mit denen uns die Medien als „gesellschaftliche Wahrnehmungsorgane“ versorgen. Medienabstinenz käme dem Rückzug aus der Realität gleich, denn die „Reichweite dieser Erfahrungen zweiter Hand erstreckt sich um den Erdball und insofern entspricht sie auch wirklich dem Aktionsradius tatsächlicher Großereignisse, denn wir wissen, dass solche Großereignisse wie Kriege oder Wirtschaftskrisen erster Ordnung nicht mehr lokalisierbar sind und sich bis in unser Haus hinein auswirken können.“ (GEHLEN 1993, S.Ê135)
Gehlen stellt in diesem Zusammenhang eine Reihe von weiterführenden Überlegungen an. Zum einen geht er davon aus, dass gerade die Informationen über die für uns wichtigen „Großereignisse“ aus dem Kontext herausgelöst sind, so dass wir nur „umrisshaft“ erfahren, „was überhaupt vorgeht, und von den Ketten der Ursachen und den intimeren Umständen gar nichts.“ (ebd. S. 134)
Weiterhin geht Gehlen davon aus, dass die zunehmende Undurchsichtigkeit und Abstraktheit der globalen Zusammenhänge die „Fassungskraft des Normalmenschen“ überfordere. Das „Bombardement mit Informationsbruchstücken“ zwinge den Menschen als ein „Wesen mit hoher Reizzugänglichkeit“ zu Vereinfachungen. (ebd. S.Ê135)
Zur intellektuellen Überforderung kommt – zumindest vorläufig – die moralische Überforderung. Während die Nächstenliebe durchaus auf „instinktiven Fundamenten“ wie der Zuwendung zu kleinen Kindern usw. basiere, erfordere die Herausbildung einer Weltgesellschaft die Entwicklung einer „Fernemoral“, „die sich bis an die Informationsperipherie erstreckt“.
Wobei Gehlen – als er 1961 diese Gedanken in einem Vortrag entwickelte – durchaus Anzeichen für Herausbildung einer „Ferneethik“ zu erkennen glaubte.
Gehlen verweist auf das Missverhältnis zwischen der Ausweitung unseres Informationshorizonts und den engen Grenzen unserer Einflussmöglichkeiten: „Der einzelne hat keinerlei geringste Chance der wirklichen, d.h. aktiven Reaktion auf diese Veränderungen, er weiß aber, dass irgendwelche Folgen morgen bei ihm zur Tür hereinkommen können.“ (GEHLEN 1993, S. 135) (M5 Erfahrung und Moral aus zweiter Hand)
Von moralischer Überforderung spricht auch Hans Magnus Enzensberger in seinem Essay „Aussichten auf den Bürgerkrieg“. (Enzensberger 1993) Durch das
Fernsehen sind wir zu Zuschauern geworden. Die Verbrechen des Dritten Reichs fanden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. „Heute dagegen sind die Mörder gerne bereit, sich interviewen zu lassen, und die Medien sind stolz darauf, dabei zu sein, wenn getötet wird. Der Bürgerkrieg wird zur Fernsehserie.“ (S. 75) Die Berichterstattung provoziert Schuldgefühl. Um nicht zum bloßen Voyeur zu werden, müsste man etwas gegen all diese Verletzungen der Menschenrechte unternehmen. Doch schon die bloße Menge der Informationen „widersetzt sich jeder sinnvollen Verarbeitung“ (S. 77) und für den normalen Fernsehzuschauer sind die „Handlungsmöglichkeiten (…) eng begrenzt“ (S. 78). Enzensberger sieht die Gefahr, dass diese ständige moralische Überforderung eine „innere Notwehr“ provoziert: „Moralische Forderungen, die in keinem Verhältnis zu den Handlungsmöglichkeiten stehen, führen am Ende dazu, dass die Geforderten gänzlich streiken“. (S. 79) (M6 Innere Notwehr gegen moralische Überforderung/M7 Abschalten bei Überforderung)
Moral ist gut, Vernunft ist besser?
Der amerikanische Präsident Clinton hat im Juni 1999 bei einem Besuch von Kfor-Truppen auf dem Flugplatz von Skopje die programmatische Erklärung abgegeben, „dass künftig nirgendwo auf der Welt Menschenrechtsverletzungen größeren Ausmaßes mehr toleriert würden: ‚Wir werden das verhindern, sofern es in unserer Macht steht.‘ Was das ‚Wir‘ betrifft, so machte Clinton die üblichen Einschränkungen: Eingedenk des Abseitsstehens beim Völkermord in Ruanda erklärte er unverbindlich, man könne eben nicht überall alles tun.“
An diese Clinton-Doktrin knüpfte der Generalsekretär Kofi Annan im September 1999 in seiner Rede vor der UN-Vollversammlung an, wenn er mit Hinweis auf die Globalisierung erklärte, „die ‚neue Welt‘ dulde keine systematischen Menschenrechtsverletzungen und keinen Völkermord, und zwar nirgendwo.“
Diese Forderung nach universeller Gültigkeit der Menschenrechte gerät in Widerspruch zum Prinzip der Souveränität der Staaten: „Ein bekannter amerikanischer Experte erklärte (…): ‚Wer es mit den Menschenrechten ernst meint, muss in die Staaten hineingehen!‘ – gemeint ist: auch gegen Widerstand der betroffenen Regierungen.“3
Welche Konsequenzen hätte diese „Dauerbereitschaft zum Krieg für die Gerechtigkeit“, und wäre es politisch vernünftig, einen Großteil unserer Welt unter ein „UN-Zwangsprotektorat“ stellen zu wollen? (M8 Moral ist gut, Vernunft ist besser).
Die Annahme liegt nahe, dass der Nachrichtenwert von Kriegen und Konflikten und die Bereitschaft zur Intervention eng miteinander zusammenhängen bzw. denselben Regeln folgen!
Literatur
- Beham, Mira: Kriegstrommeln. Medien, Krieg und Politik, München 1996
- Enzensberger, Hans Magnus: Aussichten auf den Bürgerkrieg, Frankfurt am Main 1993
- Gehlen Arnold., Anthropologische und sozialpsychologische Untersuchungen, Reinbek 1986