Medienpädagogische Überlegungen zur Kriegsberichterstattung in den Medien

Fragen zum „Nachrichtenwert“ von Kriegen und Konflikten

Die Ausgangsthese des Internet-Projekts „Ein Welt voller Kriege“ lautet: „Die Massenmedien berichten nur über Ausbrüche, Abschlüsse und eventuell besondere Ereignisse. Das ‚alltägliche Grauen‘ ist uninteressant, weil es nicht aktuell und aufregend ist.“

Mit dem Gegensatz von „alltäglich“ zu „aktuell und aufregend“ wird jedoch nur ein Faktor benannt, der die Nachrichtenauswahl in den Medien steuert. Das „Aktuelle“ mit neu und unbekannt gleichzusetzen, ist zu kurz gegriffen. „Aktuell“ ist nur dann etwas, wenn ihm eine Person kognitiv und emotional Bedeutung zuweist.

Medienkompetenz setzt die Einsicht voraus, dass jeder kommunikative Akt Selektionen verkettet. Nicht dass dies geschieht, sondern wie dies geschieht, muss untersucht und erklärt werden. (Vgl. LUHMANN 1975, S. 22) Individuelle Wahrnehmung und medial vermittelte Kommunikation sind dabei an vergleichbare Prozesse der Auswahl und Sinnzuweisung gebunden. Dass diese Selektionsketten nicht vom Zufall gesteuert werden, sondern bei aller Variationsfreiheit nach erkennbaren Mustern ablaufen, lässt sich an der Selektion und Verarbeitung von Nachrichten zeigen.

Die Aussagen der Nachrichtenforschung zu Nachrichtenwerten und Nachrichtenfaktoren legen die Baugesetze frei, nach denen ein wesentlicher Teil der Medienrealität konstruiert wird. Kriterien der Nachrichtenselektion stellen ein brauchbares Instrumentarium dar, um sich das Fehlen bzw. Auftauchen von Nachrichten zu erklären und sich somit einen Zugang zum Verständnis und zur Kritik der „Weltkommunikationsordnung“ zu verschaffen.
(M1 Zur Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien)

Die Aussagen über die allgemeine Berichterstattung sind mit entsprechenden Präzisierungen auch auf die Berichterstattung über Kriege und Konflikte übertragbar.
(M2 Wann wird ein Krieg als berichtenswert eingestuft?)

Wie wird über Kriege berichtet?

Neben der Frage, wann über Kriege und Konflikte berichtet wird, muss auch der Frage nachgegangen werden, wie berichtet wird.

Im Zusammenhang mit dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien fand im Februar 1997 in Bern eine Diskussion zum Thema „Medienkrieg in Europa – Kriegsberichterstattung und das Bild Jugoslawiens in den Medien“ statt. Die als Ausgangspunkt der Diskussion formulierten Thesen sind „nicht als Journalisten-

Schelte oder als Urteil über einzelne Medien oder Medienschaffende gedacht, sondern sie versuchen, Entwicklungstendenzen auf einen – manchmal polemischen – Punkt zu bringen“.

Diese kritischen Anmerkungen zur Berichterstattung zum Krieg im ehemaligen Jugoslawien bieten einen Einstieg in die Analyse von Kriegs- und Konfliktberichterstattung.
(M3 Medien und Krieg – Thesen)

Wie sollte über Kriege berichtet werden?

Eine kritische Auseinandersetzung mit den Medien kann nicht nur von den Mängeln und Fehlern ausgehen, sondern auch von Vorstellungen über eine angemessene Berichterstattung. Einen derartigen Versuch unternehmen die Friedensforscher Richard C. Vincent und Johan Galtung in ihren „Zehn Vorschläge für eine andere Kriegsberichterstattung“.
(M4 Zehn Vorschläge für eine andere Kriegsberichterstattung)

Der Bildschirm als Feldherr

Die Medien folgen in der Berichterstattung über Kriege und Konflikte nicht nur bestimmten Regeln, sie sind zugleich auch aktive „Mitspieler“, die im Extremfall der Politik die Regeln des Handelns diktieren können – und dies nicht erst, seitdem es das Fernsehen gibt.

Ein historisches Beispiel hierfür liefert die Pressekampagne, mit der das New York Journal und sein Verleger William Randolph Hearsts Druck auf die US-Regierung ausübten, Spanien wegen Kuba den Krieg zu erklären.1 Die aktive Rolle, die das New York Journal dabei übernahm, kommt in den Telegrammen zum Ausdruck, die zwischen dem Reporter Remington und seinem Verleger Hearst gewechselt wurden:

„Everything is quiet. There is no trouble here. There is no war. I Wish to return. – Remington “Please remain. You furnish the pictures and I‘ll furnish the war. –
W.R. Hearst“

Als kurz darauf das amerikanische Schlachtschiff Maine im Hafen von Havanna explodierte, startete Hearst eine Pressekampagne, die mit dazu beitrug, die Amerikaner davon zu überzeugen, dass ein Krieg mit Spanien unausweichlich sei. Obwohl selbst der amerikanische Präsident McKinley davon ausging, dass die Explosion auf der Maine durch einen Unfall in den eigenen Magazinen verursacht wurde, hielt das New York Journal an seiner Version fest, dass Spanien den Befehl gegeben hatte, das Schiff zu zerstören. Das New York Journal widmete der Story täglich durchschnittlich acht Seiten und diffamierte jeden, der für den Frieden eintrat, als „Verräter“ oder „Wallstreet-Profitjäger”.

Zeitgleich mit einem Putschversuch in Moskau kommt es am 4. Oktober 1993 in Somalia zu Kämpfen, bei denen ein amerikanischer Kampfhubschrauber abgeschossen wird und amerikanische Soldaten – tot und verwundet – in die Hände der Soldaten von Aidid fallen. Präsident Clinton befand sich in diesen Tagen in Kalifornien, um für seine Gesundheitsreform zu werben. Clinton brach seine dreitägige Reise nicht ab, musste jedoch ständig auf den Ablauf der Ereignisse in Moskau und Somalia reagieren.

„In einem Interview sagte Clinton, er zögere immer mehr, die US-Verbände weiter unter einer UNO-Struktur einsetzen zu lassen, die nicht ‚die Hilfe bietet, die wir brauchten, um unsere Truppen zu schützen‘. Die Bilder des verwundeten, gefangenen Hubschrauberpiloten sowie Szenen, in denen ein Mob amerikanische Gefallene durch die Straßen zerre, machten ihn, so der Präsident, ‚wirklich wütend‘.“ 2)

Abgesehen davon, wie „persönlich“ diese Wut war, werden ihn die Meinungsumfragen zum Handeln getrieben haben. Wir leben nicht nur in einer Welt der „ultraschnellen Bilder“, sondern auch in einer Welt der repräsentativen Blitzumfragen samt sofortiger Computerauswertung: In einer Stimmungsdemokratie können die Bilder einer Live-Berichterstattung zu stürmischen Ausschlägen auf dem Meinungsbarometer führen. Nicht umsonst ist in der Debatte um den UNO-Einsatz deutscher Soldaten immer wieder die Rede von der „Angst vor den ersten Bleisärgen“.

Über Public Relations-Maßnahmen und die Einschaltung entsprechender Agenturen versuchen die Konfliktpartner inzwischen die öffentliche Meinung systematisch zu beeinflussen. Ein Beispiel für die Wirkung solcher Medienkampagnen liefert der Golfkrieg. Über 100 Mitarbeiter allein der PR-Agentur Hill & Knowlton, die enge Kontakte zur US-Regierung pflegte, waren 1990/ 91 im Einsatz, um alle relevanten Medien und Entscheidungsträger mit z.T. gezielter Propaganda einschließlich gefälschter Meldungen zugunsten Kuwaits zu versorgen.

Größter Coup war die frei erfundene Brutkasten-Story: Danach hätten irakische Soldaten 312 Babys aus ihren Brutkästen gerissen, um sie auf dem kühlen Krankenhaus-Fußboden von Kuwait-Stadt sterben zu lassen. Mit tränenerstickter Stimme wurde diese Propagandageschichte im amerikanischen Kongress von einer jungen Frau vorgetragen, von der sich erst nachträglich herausstellte, dass es sich dabei um die Tochter des kuwaitischen Botschafters in den USA handelte. Nach dieser über TV-Kanäle in Millionen von US-Haushalten transportierten Horrorgeschichte schnellte die Zustimmungsrate für einen Militärschlag gegen die irakischen Barbaren enorm in die Höhe. (Vgl. hierzu Beham1996, S.Ê150ff.)

Die Beschäftigung mit solchen spektakulären Beispielen von Nachrichtenmanipulation führt höchst wahrscheinlich zu der eher hilflosen Reaktion, ein generelles Misstrauen gegen jede Art von Berichterstattung zu entwickeln. Ein generelles Misstrauen muss letztlich entpolitisierend wirken, da wir für die Wahrnehmung der Welt auf Erfahrungen aus zweiter Hand angewiesen sind.

Über das Internet kann man nicht nur auf eine Vielzahl von Medien schnell und gezielt zugreifen, sondern im Internet haben auch Gruppierungen eine Chance, sich zu artikulieren, die keinen Zugang zu den etablierten Medien haben. Dies erhöht einerseits die Schwierigkeit, sich zu orientieren, eröffnet andererseits aber auch die Möglichkeiten, in aktuellen Konflikten unterschiedliche Interpretationen und Darstellungen auf ihre Plausibilität zu überprüfen.

Wer Zugang zum Internet hat, ist – zumindest zurzeit – keinem Meinungsmonopol staatlicher oder privatwirtschaftlicher Art ausgeliefert. Dem aktiven Vergleich, dem Aufdecken von Widersprüchen, der eigenen Bewertung unterschiedlicher Nachrichtenquellen kommt sicherlich ein didaktisch höherer Stellenwert zu, als der Demonstration von gelungenen Manipulationsversuchen.

Moral im Global Village?

Wir leben in „Einer Welt“. Jenseits aller moralischen Appelle, entspricht diese Aussage der politischen, ökonomischen, ökologischen und kulturellen Realität. „Indizien“ hierfür finden sich zwar überall in unserem Alltag, doch letztlich erschließt sich uns das globale Beziehungsgeflecht, in dem wir leben, nicht über unsere unmittelbare Wahrnehmung und Erfahrung.

In der Mediendiskussion wird dieser Grundtatbestand zumeist übersehen, auf den Arnold Gehlen schon in den 50er Jahren aufmerksam gemacht hat:

„In der Agrarperiode hatte ein Bauer mit seiner Arbeit die Probleme von 80 % der Bevölkerung mit verstanden, aber die unendlich komplizierten Gesellschaften von heute müssen dem einzelnen in dem Wie und Womit ihres Zusammenspiels ein Rätsel sein,… Wir müssen daher über alles, was jenseits unseres sehr kleinen unmittelbaren Berufs- und Erfahrungshorizonts liegt, unterrichtet werden, wir erhalten darüber Informationen: wir lesen Zeitungen oder hören am Radio von Regierungswechseln, Produktionszahlen, Gesetzesbeschlüssen, neu entstehenden Staaten und tausenderlei Vorgängen, die wir nicht unmittelbar miterleben.“

Aus diesen Informationen bildet sich in unserer Vorstellung das, was Gehlen „Erfahrung zweiter Hand“ nennt. Wir sind zwangsläufig auf diese „Erfahrungen aus zweiter Hand“ angewiesen, mit denen uns die Medien als „gesellschaftliche Wahrnehmungsorgane“ versorgen. Medienabstinenz käme dem Rückzug aus der Realität gleich, denn die „Reichweite dieser Erfahrungen zweiter Hand erstreckt sich um den Erdball und insofern entspricht sie auch wirklich dem Aktionsradius tatsächlicher Großereignisse, denn wir wissen, dass solche Großereignisse wie Kriege oder Wirtschaftskrisen erster Ordnung nicht mehr lokalisierbar sind und sich bis in unser Haus hinein auswirken können.“ (GEHLEN 1993, S.Ê135)

Gehlen stellt in diesem Zusammenhang eine Reihe von weiterführenden Überlegungen an. Zum einen geht er davon aus, dass gerade die Informationen über die für uns wichtigen „Großereignisse“ aus dem Kontext herausgelöst sind, so dass wir nur „umrisshaft“ erfahren, „was überhaupt vorgeht, und von den Ketten der Ursachen und den intimeren Umständen gar nichts.“ (ebd. S. 134)

Weiterhin geht Gehlen davon aus, dass die zunehmende Undurchsichtigkeit und Abstraktheit der globalen Zusammenhänge die „Fassungskraft des Normalmenschen“ überfordere. Das „Bombardement mit Informationsbruchstücken“ zwinge den Menschen als ein „Wesen mit hoher Reizzugänglichkeit“ zu Vereinfachungen. (ebd. S.Ê135)

Zur intellektuellen Überforderung kommt – zumindest vorläufig – die moralische Überforderung. Während die Nächstenliebe durchaus auf „instinktiven Fundamenten“ wie der Zuwendung zu kleinen Kindern usw. basiere, erfordere die Herausbildung einer Weltgesellschaft die Entwicklung einer „Fernemoral“, „die sich bis an die Informationsperipherie erstreckt“.

Wobei Gehlen – als er 1961 diese Gedanken in einem Vortrag entwickelte – durchaus Anzeichen für Herausbildung einer „Ferneethik“ zu erkennen glaubte.

Gehlen verweist auf das Missverhältnis zwischen der Ausweitung unseres Informationshorizonts und den engen Grenzen unserer Einflussmöglichkeiten: „Der einzelne hat keinerlei geringste Chance der wirklichen, d.h. aktiven Reaktion auf diese Veränderungen, er weiß aber, dass irgendwelche Folgen morgen bei ihm zur Tür hereinkommen können.“ (GEHLEN 1993, S. 135) (M5 Erfahrung und Moral aus zweiter Hand)

Von moralischer Überforderung spricht auch Hans Magnus Enzensberger in seinem Essay „Aussichten auf den Bürgerkrieg“. (Enzensberger 1993) Durch das

Fernsehen sind wir zu Zuschauern geworden. Die Verbrechen des Dritten Reichs fanden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. „Heute dagegen sind die Mörder gerne bereit, sich interviewen zu lassen, und die Medien sind stolz darauf, dabei zu sein, wenn getötet wird. Der Bürgerkrieg wird zur Fernsehserie.“ (S. 75) Die Berichterstattung provoziert Schuldgefühl. Um nicht zum bloßen Voyeur zu werden, müsste man etwas gegen all diese Verletzungen der Menschenrechte unternehmen. Doch schon die bloße Menge der Informationen „widersetzt sich jeder sinnvollen Verarbeitung“ (S. 77) und für den normalen Fernsehzuschauer sind die „Handlungsmöglichkeiten (…) eng begrenzt“ (S. 78). Enzensberger sieht die Gefahr, dass diese ständige moralische Überforderung eine „innere Notwehr“ provoziert: „Moralische Forderungen, die in keinem Verhältnis zu den Handlungsmöglichkeiten stehen, führen am Ende dazu, dass die Geforderten gänzlich streiken“. (S. 79) (M6 Innere Notwehr gegen moralische Überforderung/M7 Abschalten bei Überforderung)

Moral ist gut, Vernunft ist besser?

Der amerikanische Präsident Clinton hat im Juni 1999 bei einem Besuch von Kfor-Truppen auf dem Flugplatz von Skopje die programmatische Erklärung abgegeben, „dass künftig nirgendwo auf der Welt Menschenrechtsverletzungen größeren Ausmaßes mehr toleriert würden: ‚Wir werden das verhindern, sofern es in unserer Macht steht.‘ Was das ‚Wir‘ betrifft, so machte Clinton die üblichen Einschränkungen: Eingedenk des Abseitsstehens beim Völkermord in Ruanda erklärte er unverbindlich, man könne eben nicht überall alles tun.“

An diese Clinton-Doktrin knüpfte der Generalsekretär Kofi Annan im September 1999 in seiner Rede vor der UN-Vollversammlung an, wenn er mit Hinweis auf die Globalisierung erklärte, „die ‚neue Welt‘ dulde keine systematischen Menschenrechtsverletzungen und keinen Völkermord, und zwar nirgendwo.“

Diese Forderung nach universeller Gültigkeit der Menschenrechte gerät in Widerspruch zum Prinzip der Souveränität der Staaten: „Ein bekannter amerikanischer Experte erklärte (…): ‚Wer es mit den Menschenrechten ernst meint, muss in die Staaten hineingehen!‘ – gemeint ist: auch gegen Widerstand der betroffenen Regierungen.“3

Welche Konsequenzen hätte diese „Dauerbereitschaft zum Krieg für die Gerechtigkeit“, und wäre es politisch vernünftig, einen Großteil unserer Welt unter ein „UN-Zwangsprotektorat“ stellen zu wollen? (M8 Moral ist gut, Vernunft ist besser).

Die Annahme liegt nahe, dass der Nachrichtenwert von Kriegen und Konflikten und die Bereitschaft zur Intervention eng miteinander zusammenhängen bzw. denselben Regeln folgen!

Literatur

  • Beham, Mira: Kriegstrommeln. Medien, Krieg und Politik, München 1996
  • Enzensberger, Hans Magnus: Aussichten auf den Bürgerkrieg, Frankfurt am Main 1993
  • Gehlen Arnold., Anthropologische und sozialpsychologische Untersuchungen, Reinbek 1986

Projekt „Eine Welt voller Kriege“

Der Nachrichtenwert eines Ereignisses

Wenn ein Ereignis bestimmte Merkmale aufweist, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass ein Ereignis zur Nachricht wird. Je mehr dieser „Nachrichten-Merkmale“ ein Ereignis aufweist, desto größer wird die Chance, dass es zur Nachricht wird. Treffen nur ein oder zwei Merkmale zu, dann müssen sie sich durch hohe Intensität auszeichnen, damit das Ereignis zur Nachricht wird.

  1. Dauer und Zeitpunkt des Ereignisses

Dauer und Zeitpunkt des Ereignisses müssen mit dem Erscheinungsrhythmus des Mediums übereinstimmen. In täglich erscheinenden Medien haben kurze und kurzfristig abgeschlossene Ereignisse den größten Nachrichtenwert. Langfristige Entwicklungen werden dagegen kaum wahrgenommen.

Beispiel: Der Staudammbau wird selten, die Staudammeinweihung wird eher zur Nachricht. Die schleichende Krise wird selten, der Staatsstreich wird eher zur Nachricht. Selbst die Tageszeit, an der Reden gehalten werden und Pressekonferenzen stattfinden, ist im Hinblick auf Erscheinungsrhythmus und Redaktionsarbeit wichtig.

  1. Aufmerksamkeitsschwelle

Aus der Fülle der Ereignisse muss ein Ereignis durch seine Größenordnung und Intensität hervorstechen. Beispiel: Je größer der Staudamm, desto eher eine Nachricht über die Einweihung. Je gewaltsamer der Staatsstreich, desto „unwichtiger“ darf das Land ansonsten sein.

  1. Eindeutigkeit

Die Bedeutung eines Ereignisses muss klar und eindeutig sein, um zur Nachricht zu werden. Ereignisse, deren Bedeutung noch nicht abzusehen ist, haben kaum eine Chance, zur Nachricht zu werden.
Beispiel: Man erfährt selten etwas über diplomatische Kontakte, aber „Durchbrüche“ und Verhandlungserfolge werden zur Nachricht.

  1. Bedeutung

4.1 Kulturelle Nähe

4.2 Auswirkung

Um zur Nachricht zu werden, müssen Ereignisse für das Publikum wichtig sein und direkt erkennbare Auswirkungen haben.

  1. Übereinstimmung mit Erwartungen

Ereignisse, die man erwartet hat, haben eine größere Chance, wahrgenommen zu werden als andere. Dies ergibt sich bereits daraus, dass sich die Medien technisch und organisatorisch auf derartige Ereignisse/ Pressekonferenzen, Wahlen, Sportereignisse – vorbereiten können

  1. Überraschung

6.1 Unvorhersehbarkeit

6.2 Seltenheit

Daher haben Katastrophen eine „größeren Nachrichtenwert“ als langsam ablaufende Prozesse. Diese Merkmale stehen zum Teil im Widerspruch zu den vorhergehenden Merkmalen, treffen aber auch auf die Ereignisse zu, die man „erwartet“ hat.
Beispiel: Präsident Clinton zögert lange, eine erwartete Maßnahme zu ergreifen. Handelt er, wird es zur Nachricht. Handelt er völlig unvorhergesehen, dann steigt der Nachrichtenwert.

  1. Themenkarriere: Kontinuität/Fortsetzung

Hat ein Ereignis einmal die Nachrichtenschwelle überschritten, dann bleiben diese Themen und verwandte Meldungen so lange in den Medien, bis der Neuigkeitswert erschöpft ist. Wenn keine Entwicklungen eintreten, die erneut die Aufmerksamkeit wecken, verschwindet das Thema jedoch aus den Medien, selbst wenn das Problem weiter bestehen bleibt.
Beispiel: Tschernobyl

  1. Themenvarianz: Abwechslung/Nachrichtendramaturgie

Man bringt nie nur einen Nachrichtentyp, sondern versucht, für Abwechslung zu sorgen. In einer Tagesschauausgabe mit vielen Auslandsmeldungen hat eine relativ unbedeutende Inlandsmeldung eher eine Chance, aufgenommen zu werden, als wenn die Nachrichtenverteilung umgekehrt aussieht

  1. Bezug auf „Elite-Nationen“
  1. Bezug auf „Elite-Personen“
  2. Personalisierung

Nachrichtenmedien bevorzugen Ereignisse, in denen Menschen als handelnde Subjekte hervortreten. Dieses Auswahlkriterium steht im Zusammenhang mit der westlichen Weltanschauung, wird aber noch verstärkt durch die Art der Nachrichtentechnik. Personen können interviewt, fotografiert und gefilmt werden. Durch Personalisierung lassen sich komplexe, schwer darstellbare Zusammenhänge über das Schicksal von Betroffenen leichter darstellen: Arbeitslosigkeit, Umweltschäden.

  1. Negativismus

”Nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten.“ Die Bevorzugung von negativen Ereignissen erklärt sich aus den vorher aufgeführten Merkmalen.

  1. Die Selektion erfolgt auf jeder Stufe des massenmedialen Kommunikationsprozesses

„Je mehr dieser Nachrichtenfaktoren und je stärker sie durch den Inhalt einer Nachricht angesprochen werden, desto größer ist die Chance, dass diese Nachricht von Journalisten ausgewählt wird und ferner, dass sie – denn auch die Rezeption der Leser folgt den gleichen wahrnehmungspsychologischen Prinzipien – von Menschen gelesen bzw. gehört oder gesehen wird.“

Diese Auswahl erfolgt auf jeder Stufe des massenmedialen Kommunikationsprozesses gleichermaßen, mit der Folge, dass „somit am Ende des Prozesses der Nachrichtenauswahl nur solche Informationen publiziert werden, die die Nachrichtenfaktoren in besonderem Maße erfüllen (Replikation). Hinzu kommt, dass Journalisten nicht nur Nachrichten nach diesen Prinzipien auswählen, sondern vielmehr die Bestandteile von Nachrichten so bearbeiten – d.h. weglassen oder betonen – , dass der Nachrichtenwert insgesamt erhört wird (Distorsion oder Verzerrung).“ (Hermann 1999, S. 17)

Methodische Möglichkeiten

  • Die Nachrichten auf der Titelseite einer Tageszeitung bzw. in der Tagesschau den Merkmalen zuordnen.
  • Durchspielen, welche Merkmale zusammenkommen müssen, damit ein Bankraub, eine Dürrekatastrophe usw. in unseren Medien auftauchen. (Beispiel: Scheckfälschung eines prominenten Politikers wäre eine Nachricht. Wie spektakulär muss ein Bankraub durch Mister Nobody sein, um zur überregionalen oder internationalen Nachricht zu werden?)

Quellen:

Die Thesen zum Nachrichtenwert eines Ereignisses wurden zusammengestellt nach:

  • Winfried Schulz, Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien, München 1976
  • Galtung/Ruge, The Structure of Foreign News, in: Journal of Peace Research Bd. 2, 1965, S. 65 – 91
  • Georg Ruhrmann, Zeitgeschehen a la carte, in: DIFF (Hrsg.), Funkkolleg Medien und Kommunikation, Studienbrief 6, Weinheim und Basel 1991, S. 58 ff
  • Hermann, Michael C.: Jugend, Politik und Massenmedien, in: Informationen für den Geschichts- und Gemeinschaftskundelehrer Heft 57/1999, S. 5 – 25
  • Wolf-Rüdiger Wagner, Zur Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien – der Nachrichtenwert eines Ereignissen, in: Landesmedienstelle Niedersachsen (Hrsg.). Öffentliche Meinung, Gewaltbereitschaft und Massenmedien, Hannover 1994, S. 29 – 31

Kriege, Konflikte und Krisen erfüllen – wie durch Inhaltsanalysen der Kriegsberichterstattung belegt werden konnte (…) eine Reihe der Kriterien, die aus Ereignissen Nachrichten machen. Ob ein Krieg als berichtenswert eingestuft wird (oder unsichtbar und unbeobachtet bleibt), hängt u.a. ab

  • vom Grad der Betroffenheit (des eigenen Landes)
  • der Beteiligung von Elite-Nationen,
  • der Möglichkeit von Anschlusskommunikation an berichtete Ereignisse im Inland,
  • dem Grad der Überraschung,
  • der kulturellen, politischen und ökonomischen Distanz
  • sowie der Möglichkeit den Krieg zu personalisieren.

Im Zeitalter der Bildschirmmedien kommt als weiteres entscheidendes Kriterium hinzu, ob eine Krise oder ein Krieg ausreichende Visualisierungsmöglichkeiten bietet.


Löffelholz, Martin: Krisenkommunikation. Probleme, Konzepte, Perspektiven, in: Löffelholz, Martin (Hrsg.): Krieg als Medienereignis.
Grundalgen und Perspektiven der Krisenkommunikation, Opladen 1993, S.19

Die folgenden Überlegungen sind nicht als Journalisten-Schelte oder als Urteil über einzelne Medien oder Medienschaffende gedacht, sondern sie versuchen, Entwicklungstendenzen auf einen – manchmal polemischen – Punkt zu bringen, um sie so zur Diskussion zu stellen.

Medien sind ereignisorientiert. Jede Bombe, jeder Gewaltakt ist ein Ereignis. Frieden und Friedensarbeit sind keine Ereignisse und finden damit auch kaum mediale Öffentlichkeit. Wenn eine Granate fällt und zehn Menschen sterben, dann ist das eine große Schlagzeile wert. Wenn mitten im Krieg Tausende von Menschen trotz verschiedenem ethnischem Hintergrund weiterhin friedlich zusammenleben und sich gemeinsam gegen die Kriegshetzer wehren, hat das keinen News-Wert. Wenn nicht über diese Menschen berichtet wird, existieren sie und ihr Widerstand einfach nicht. Mögliche Optionen der weiteren Entwicklung werden verhindert, indem sie von der Berichterstattung ausgeschlossen werden.

„Der Zwang nicht nur zum Bild, sondern zum spektakulären Bild, ist beim Fernsehen quasi total.“ (…). Bilder suggerieren Wahrheit: „Ich hab‘s mit eigenen Augen gesehen!“ Nicht vermittelt wird, was keine Bilder liefert. Nicht hinterfragt wird, welche Bedeutung die bebilderten Ereignisse haben gegenüber den Ereignissen ohne Bilder. Spektakuläres Geschehen statt hintergründigem Wissen sind das Resultat davon. Der US-amerikanische Fernsehproduzent Dani Schechter meint dazu: „Was wir sehen, ist, was gedreht wird; was auf der Strecke bleibt, ist die Wahrheit.“ CNN treibt diese Berichterstattung auf die Spitze: jederzeit jederort jedes Bild. Verstehen ist unwichtig, dabei sein ist alles.

Medien halten ihre Öffentlichkeit oft für dumm. Immer wieder weisen Chefredaktoren Beiträge zurück, die nicht einfach eine klare Welt der Guten und der Bösen abbilden. Differenzierte Beiträge seien zu kompliziert, könnten vom Publikum nicht nachvollzogen, nicht verstanden werden. Als ehernes Gesetz der medialen Vermittlung von Kriegen gilt: Der Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist der große Simplifikator alles Sozialen. Er reduziert die vielfältigsten gesellschaftlichen Spannungen auf eine Konfliktlinie, zieht alle und alles in seinen Bannkreis, entindividualisiert die Beteiligten zu Täter- und Opfergruppen, Aggressoren und Verteidigern, Helden und Verrätern. Er produziert Charismaträger, verlangt waffenstarrend nach moralischen Urteilen polarisierenden Charakters und spitzt die Erwartungen aller auf Sieg oder Niederlage zu. Zum Bannkreis des Krieges gehören auch die Medien. Krieg wird in ihnen kolportiert, personifiziert, legitimiert und entlegitimiert. Die Darstellung von Krieg gerät oft zum Bestandteil seiner selbst, womit die Reproduktionsfunktion der Medien zum Produktionsfaktor des Krieges wird.“ (Medien und Krieg – Krieg in den Medien, Klappentext)  Die Entwicklung hin zu immer stärkerem Druck kommerzieller Sender auf die öffentlichen Sender, die Jagd nach Einschaltquoten und Werbeminuten verschärft diese Entwicklung und verflacht weiter die Berichterstattung.

Die wirtschaftlichen und sozialen Probleme im Westen verschärfen die Probleme einer guten Medienberichterstattung zusätzlich: Je größer das Krisen- Selbstverständnis hier, umso weniger wollen die westlichen Leserinnen und Leser von Krisen und Kriegen andernorts hören. Je unsicherer die Zukunft im Westen, umso klarer soll der Rest der Welt erscheinen. Je verlorener die eigene Identität, umso mehr Orientierungskraft anhand vereinfachter Freund-Feind-Bilder fordert man von den Medien.

Journalisten, die hintergründig recherchieren und arbeiten können, werden immer seltener, da die finanziellen Spielräume immer enger werden. Es gibt kaum noch Journalistinnen und Journalisten mit Spezialgebieten, die auch auf diesen Themen arbeiten können. Der Journalist, der direkt zurück von Algerien für einen Bericht ins Bundeshaus nach Bern geschickt wird, um dann für eine Reportage über die Wahlen in den USA zu berichten und anschließend in zwei Tagen eine Story in Bosnien abzudrehen hat, dieser Journalist ist heute der Normalfall. Das Fehlen von Hintergrundwissen und längerfristigen Erarbeitungsmöglichkeiten führen zur weiteren Verflachung und häufig genug zur Verfälschung der Berichte.

Westliche Medien verlassen sich trotz mangelndem Hintergrundwissen auf die eigenen Leute und sind selten bereit, sich unabhängigen oder oppositionellen Medien im Konfliktgebiet zu öffnen. Obwohl z.B. im ehemaligen Jugoslawien eine Vielzahl unabhängiger Zeitungen, Zeitschriften, einige Radiostationen und einzelne Fernsehstationen und -programme existieren, finden diese kaum je eine Tribüne bei den westlichen Medien – außer sie selber werden wieder wegen staatlicher Druckversuche oder anderen Zwischenfällen zum Ereignis, über das dann die westliche Journaille sich auslassen kann. Kaum je finden sich Artikel oder Sendebeiträge hier, in denen lokalen Medienschaffenden das Wort länger erteilt wird als für ein simultan übersetztes 30-Sekunden-Statement. Damit verschwindet wieder ein Teil der Realität aus der medialen Wirklichkeit. Während die Aussagen der Machthaber stunden- und seitenweise dokumentiert und die Meldungen der offiziellen Presseagenturen überall zitiert werden, kommen Oppositionelle nicht zu Wort und lokale Medienleute kaum zum westlichen Publikum.

Medien folgen in ihrer Berichterstattung mehr den eigenen Clichees als den Realitäten vor Ort. Das Bild der mordenden Banden auf dem Balkan, des Jahrhunderte alten Hasses der Völker, des ethnisch bedingten Bruderkrieges oder schlicht und einfach des Bösen im Menschen überhaupt zeugt mehr von Unwissen und Vorurteilen westlicher Medienschaffender als von den Problemen, mit denen diese Länder und Leute wirklich konfrontiert sind. Genau gleich entspricht die Hoffnung auf einen Frieden für Bosnien durch das Dayton-Abkommen mehr dem Erfolgsdruck der westlichen Militärs und ihrer Politiker und dem Wunschglauben ihrer Berichterstatter als den Entwicklungen vor Ort. Während die militärischen Truppen und humanitären Organisationen aus dem Westen alles daran setzen, den potemkinschen Staat aufrechtzuerhalten und mit Millionen und Milliarden Demokratie implementieren, wie sie zuvor den Frieden implementiert haben, um ihre eigene Erfolgsstory im Westen an die gläubigen Wählerinnen und Wähler verkaufen zu können, glauben die Menschen vor Ort immer weniger an den hektischen Aktivismus dieser gutbezahlten Helfer. Der Westen versucht in Bosnien, sich selber – und vor allem seine Armeen – zu retten. Der Auftrag der Medien ist, sich selber zu retten, indem sie sich verkaufen. So wäscht eine Hand die andere. Die Menschen, über die berichtet wird, sind dabei eigentlich nebensächlich.

Quellen:

  • Beham, Mira, Kriegstrommeln. Medien, Krieg und Politik, München 1996. Eine Besprechung von Roland Brunner findet sich in: MOMA, Monatsmagazin für neue Politik, 7/8.96.
  • Imhof, Kurt / Schulz, Peter, Medien und Krieg – Krieg in den Medien, Zürich 1995. Besprochen in: MOMA 7/8.96.
  • Lohoff, Ernst, Der Dritte Weg in den Bürgerkrieg. Jugoslawien und das Ende der nachholenden Modernisierung, 1996.
  • Meeuwis, Michael, Nationalist ideology in news reporting on the Yugoslav crisis: A pragmatic analyse. In: Journal of Pragmatics No. 20, 1993.
  • Reporters and Media in Ex-Yugoslavia, Organisation internationale des Journaliste, cahier de l‘OIJ No. 2, März 1993.
  • The more we watch and listen, the less we know. Krieg und Medien in Ex-Jugoslawien. Tagungsbericht der Medienhilfe Ex-Jugoslawien von Eva Geel und Roland Gysin, in: MOMA 1.95.
  • Thompson, Mark, Forging War. The Media in Serbia, Croatia and Bosnia-Herzegovina, Published by Article 19, the International Center against Censorship, London 1994.

Die Thesen waren Ausgangspunkt einer Diskussion zum Thema „Medienkrieg in Europa – Kriegsberichterstattung
und das Bild Jugoslawiens in den Medien”, die am 3. Februar 1997 in Bern stattfand. Diskussionsteilnehmer waren: Hans Peter Spörri, Auslandredaktor „Der Bund“, Rosmarie Gerber, Auslandredaktorin „Berner Zeitung“, Rita Emch, Auslandredaktorin „Schweizerische Depechenagentur“ SDA, Diskussionsleitung: Roland Brunner, Medienhilfe Ex-Jugoslawien

Erstens: In jedem Krieg sollte der Journalist sich bemühen, seine Story von allen Seiten zu beleuchten. Es ist zwar wichtig, einen Standpunkt zu haben; wichtiger als alles andere ist aber, bei allen Fakten korrekt zu sein. Genauigkeit ist der Schlüssel zu einer fairen und verantwortlichen Berichterstattung. (S. 183) Bei Nachrichten geht man implizit von Wahrheit und Genauigkeit aus. Zuschauer und Leser interpretieren sogar bestimmte Berichterstattungstechniken als Zeichen von Aufrichtigkeit – etwa die Präsentation opponierender Ansichten, Tatsachenprotokolle von Ereignissen, Berichte ohne vorsichtig versteckten Kommentar, redaktionell unbearbeitete Videos und Filme. Dieser Techniken sollten Journalisten sich bewusst sein und sie verantwortungsvoll nutzen. Mit den neuen Medien wächst jedoch die Gefahr, dass der alte Grundsatz des Journalismus – die Betonung der Genauigkeit – geopfert wird dem Eifer von Reportern oder Nachrichtenorganisationen, einen „Knüller“ zu landen. Mit der „Augenblicksberichterstattung“ von Hörfunk und Fernsehen erscheint das umso wahrscheinlicher: Berichte stützen sich möglicherweise auf nicht eindeutig bestätigte Aussagen und werden nicht hinreichend auf ihre Genauigkeit geprüft. (S. 184)

Zweitens: Im Krieg sollten die Medien darauf drängen, Zugang zu Ereignissen, Menschen und Themen zu bekommen. Das kann schwierig sein, wenn man berücksichtigt, dass viele nur widerwillig Interviews geben und Militär- und Regierungsverantwortliche auch immer Sicherheitsrisiken sehen. Trotzdem, Quellenvielfalt ist das wirksamste Werkzeug von Journalisten. (S. 186) Ein weiterer Genauigkeitsfehler ist die durch Auslassungen verzerrte Berichterstattung: Bestimmte Nachrichten werden betont, andere Fragen bleiben jedoch unbeantwortet. Journalisten haben die Aufgabe, eigene thematische Schwerpunkte zu setzen, nicht der Agenda anderer zu folgen. (S. 187)

Drittens: Um eine umfassende Berichterstattung zu gewährleisten, sollten Journalisten Eliten nicht übermäßig als Quellen nutzen, sondern bestrebt sein, verschiedene „Autoritäten“ und „Experten“ ausfindig zu machen. (S. 190)

Viertens: Es wäre vernünftig, wenn die Medien in ihrer Kriegsberichterstattung eine Glorifizierung der Technologie vermeiden würden. Zugegebenermaßen ist das schwierig. Journalisten neigen dazu, Technologie als wichtig anzusehen; der ganze Berufsstand verdankt seine Existenz der Technologie. (S. 192)
Die Berichterstattung über den Golfkrieg erwies sich als klassischer Fall. Die Öffentlichkeit war von der Computerchip-Waffentechnologie derart gebannt, dass es schien, die Journalisten hätten den Blick für die eigentliche Story verloren. Fernsehzuschauer konnten verfolgen, wie „intelligente“ Raketen abgefeuert und auf ihr Ziel gelenkt wurden. Die gesendeten Beiträge zeigten immer einen perfekten Einschlag, während Menschen und ihr Leiden im Zielgebiet kaum zu sehen waren. (S. 193)

Fünftens: So inhuman es auch scheinen mag, die Medien sollten nicht darauf verzichten, auch drastisch anschauliches Material (“blood and guts”-Storys) zu verwenden, nur weil einige so etwas als abstoßend empfinden. Obwohl sie natürlich abstoßend sind, vermitteln derartige Szenen doch ein wirklicheres Bild von den Schrecken des Krieges. Krieg ist nicht schön, und seine Kosten (in Bezug auf Geld und Menschenleben) können unglaublich hoch sein. Werden solche Szenen gezeigt, wird die Öffentlichkeit gezwungen, sich der hässlichen Realität des Krieges zu stellen. Natürlich müssen Journalisten auch dabei abwägen, ob mit derartigen Präsentationen die Regeln des guten Geschmacks unnötig verletzt werden. Denn es sollte keine Möglichkeit gegeben werden, durch die Veröffentlichung sensationellen Materials aus dem Krieg Profit zu schlagen. Boulevard-Journalismus ist von uns nicht gemeint. (S. 193f)

Sechstens: Die Medien sollten sinnvolle und gut geschriebene Berichte über „normale Leute“ anbieten. Denn damit können sie eine personalisierte Darstellung des Krieges präsentieren, die auch angebracht ist. Während wir oben die Nutzung non-elitärer Quellen begründet haben, geht es in diesem Fall um etwas anderes – nämlich um Human-Interest-Storys über Menschen, die normalerweise nicht im Scheinwerferlicht stehen. Ob sie nun Opfer oder unbeteiligte Beobachter sind, ihr Leben wird durch den Krieg in Unordnung gebracht. (…) Solche Kriegsnachrichten bieten emotionale Bezugspunkte: Kriegserfahrungen können von allen nachgefühlt werden, Kriegsopfer bekommen plötzlich Gesichter, der Krieg ist nicht mehr länger ein unbestimmtes Ereignis in irgendeinem fernen Land. (S. 198f.)

Siebtens: Die Medien können eine Vielzahl von Storys anbieten – und das schließt Hintergrundberichte ausdrücklich ein. Gerade wenn Journalisten sich nicht einfach nur auf die Ereignisse der letzten 24 Stunden beschränkten, könnte das dazu beitragen, die Vermittlungsfunktion der Medien für das Publikum zu verbessern. Möglichkeiten für Hintergrundberichterstattung bieten historische Skizzen über Kulturen, Geopolitik, Militärgeschichte oder tiefer reichende Analysen gegenwärtiger Probleme und Diskussionen. (S. 201)

Achtens: Die Medien müssen sich bewusst sein, dass „Nachrichtenmacher“ versuchen, sie zu manipulieren…. Vieles, was jeden Tag berichtet wird, fällt in die Kategorie „Verlautbarungsjournalismus”: Nachrichten, die „Nachrichtenmachern“ präpariert werden und via Pressemitteilungen in die Medien gelangen oder eigens konstruierte Ereignisse wie Pressekonferenzen, geplante Reden und Informationsgespräche. (S. 202)

Neuntens: Es ist eine Gefahr, wenn Medien oder Journalisten selbst zur Nachricht werden… Das Problem liegt in der Ablenkung der öffentlichen Aufmerksamkeit von den wahren Problemen des Krieges. Obwohl die Frage, wie die Medien über den Krieg berichten, durchaus berechtigt ist, muss man aufpassen, dass sie nicht zur eigentlichen Story wird oder die anderen Probleme überschattet. (S. 207)

Zehntens: Es ist wichtig, dass Nachrichtenmedien in ihrer Berichterstattung Friedensinitiativen thematisieren und fördern. Die Presse kann eine zentrale Rolle bei Konfliktlösungsversuchen spielen und friedliche Lösungen fördern. Mit den Möglichkeiten des Agenda-Setting sind die Massenmedien in einer Position, von der aus sie ein wesentliches Mittel kontrollieren können, um die öffentliche Meinung zu formen. (S. 208)


Vincent, Richard C./Galtung, Johan: Krisenkommunikation morgen. Zehn Vorschläge für eine andere Kriegsberichterstattung,
in: Löffelholz, Martin (Hrsg.): Krieg als Medienereignis. Grundlagen und Perspektiven der Krisenkommunikation, Opladen 1993, S. 177 – 210

 

Erfahrung zweiter Hand

„In der Agrarperiode hatte ein Bauer mit seiner Arbeit die Probleme von 80 % der Bevölkerung mit verstanden, aber die unendlich komplizierten Gesellschaften von heute müssen dem einzelnen in dem Wie und Womit ihres Zusammenspiels ein Rätsel sein, sie erfordern ja auch zu ihrem Verständnis eigene schwierige Wissenschaften wie die Volkswirtschaftslehre und die Soziologie. Wir müssen daher über alles, was jenseits unseres sehr kleinen unmittelbaren Berufs- und Erfahrungshorizonts liegt, unterrichtet werden, wir erhalten darüber Informationen: wir lesen Zeitungen oder hören am Radio von Regierungswechseln, Produktionszahlen, Gesetzesbeschlüssen, neuentstehenden Staaten und tausenderlei Vorgängen, die wir nicht unmittelbar miterleben.“ (S. 134)

„Jeder trägt im Kopfe eine imaginäre Welt unsinnlicher Informationsbestände mit sich herum, die nur locker zusammenhängen, die nur aus Umrissen von Resultaten und Vorgängen bestehen, deren objektive Wichtigkeit und wirkliche Substanz man unmöglich beurteilen kann, die aber dringlich und aktuell zu sein scheinen. Die Reichweite dieser Erfahrung zweiter Hand erstreckt sich um den Erdball, und insofern entspricht sie auch wirklich dem Aktionsradius tatsächlicher Großereignisse, denn wir wissen, dass solche Großereignisse wie Kriege oder Wirtschaftskrisen erster Ordnung nicht mehr lokalisierbar sind und sich bis in unser Haus hinein auswirken können.“ (S. 134f.)

Moralische Überforderung des Individuums

Seit nämlich die technisierten und industrialisierten Massenkriege ganze Bevölkerungen engagieren, ist es denkbar und nachfühlbar geworden, jedem einzelnen die Mitverantwortung für gewaltige Ereignisketten zu übertragen. Dieser einzelne hatte nicht die mindeste Chance, die Vorgänge und Kausalketten auch nur im Geringsten zu beeinflussen, und folglich wird bereits seine gesinnungsmäßige, ideelle Einstellung zu den Großereignissen selbst für zurechenbar befunden… Aus solchen Unmöglichkeiten kann man doch nur schließen, dass hier etwas im Grundsätzlichen nicht stimmt, sondern dass eine moralische Überforderung des einzelnen Menschen aus der falschen Perspektive heraus erfolgt ist, sein moralisches Organ sei für Ereignisse von Weltdimension überhaupt zuständig. Früher nahm man das nur von Gott an. In Wirklichkeit ist es nicht wahr, dass das menschliche moralische Organ denselben Kompetenzumfang hat wie das weltumspannende Informationssystem, es ist auf Naheliegendes eingestellt, wenigstens primär, und es sieht so aus, als ob eine neuentstehende Ferneethik sich erst im Stadium der Versuche und Irrtümer befindet.“ (S. 137)

Entwicklung einer ‚Moral zweiter Hand‘

„Ich beschrieb vorhin den ungeheuren Umfang unseres Informationsbereichs, und ihm scheint nun unser Verantwortungsgefühl nachzuwachsen, es ist wohl so etwas wie eine Fernemoral im Entstehen, die sich bis an die Informationsperipherie erstreckt und die sich übrigens keineswegs religiös versteht.“ (S. 138)

„Es handelt sich sozusagen um eine ‚Moral zweiter Hand‘, die aber erlebnismäßig als unmittelbare zur Geltung kommt, was übrigens auch von unseren Meinungen gilt. So beginnen wir heute, uns nicht so sehr für das Seelenheil unbekannter Menschen als für ihr vernünftiges und menschenwürdiges Wohlbefinden verantwortlich zu fühlen und sind bereit, dafür auch Opfer zu bringen. Wenn also die öffentliche Meinung reicher Länder für Hilfeleistung an entwicklungsbedürftige Völker eintritt, denen Lebensmittel und Arzneimittel geschenkt werden sollen und denen man darüber hinaus Investitionen und Produktionschancen eröffnen will, dann sprechen dabei nicht allein Motive politischer Klugheit und Voraussicht und das Interesse an der Unterbringung einer Überproduktion mit, sondern es handelt sich darum, dass ein Sozialeudämonismus geradezu als Verpflichtungsgefühl auftritt; es handelt sich um die vorhin erwähnte Verwerfung des Hinnehmens nur noch passiv zu erleidender Zustände. Diese Erscheinung ist auch insofern vollständig neuartig, als es sich dabei um abstrakte Informationspartner handelt, keiner von uns hat von diesen Völkern eine unmittelbare Kenntnis, von seltenen Ausnahmen abgesehen, auch kann kein einzelner von uns selbst und direkt im eigentlichen Sinne tätig werden, und dennoch ist hier etwas wie ein gemeinsames und übrigens bemerkenswert populäres Verantwortungsgefühl im Entstehen.“ (S. 138f.)


Aus: Gehlen, Arnold: Anthropologische und sozialpsychologische Untersuchungen, Reinbek 1986 (Vortrag, gehalten am 14. Januar 1961 im Freien Deutschen Hochstift, Frankfurt am Main)

„Eine Pädagogik, die ihre Schäfchen durch die Steigerung der Dosis zu sensibilisieren glaubt, ist im günstigsten Fall naiv. Sie wird ihre Adressaten im Gegenteil immun machen gegen jede Regung des Gewissens. Die psychische und kognitive Überforderung schlägt zurück. Der Zuschauer fühlt sich unzuständig und ohnmächtig; er igelt sich ein, schaltet ab. Die Botschaften werden abgewertet oder verleugnet. Diese Form der inneren Notwehr ist nicht nur verständlich; sie ist unvermeidlich. Wie eine ‚richtige‘ Reaktion auf den täglichen Massenmord aussehen sollte, weiß nämlich niemand zu sagen.

Aber das ist noch nicht alles. Der Begriff der paradoxen Reaktion ist aus der Pharmakologie bekannt: ein falsch angewandtes oder falsch dosiertes Mittel kann das Gegenteil der gewünschten Wirkungen haben. Moralische Forderungen, die in keinem Verhältnis zu den Handlungsmöglichkeiten stehen, führen am Ende dazu, dass die Geforderten gänzlich streiken und jede Verantwortung leugnen. Darin liegt der Keim einer Barbarisierung, die sich bis zur wütenden Aggression steigern kann.“


Enzensberger, Hans Magnus: Aussichten auf den Bürgerkrieg, Frankfurt am Main 1993, S.Ê79

„Man kann nichts machen, es ist ein totales Chaos, und man versteht es sowieso nicht richtig…“

Stellungnahmen zum Bosnienkrieg

Im Juli 1995 veröffentlichte die ZEIT eine Reihe von Stellungnahmen „ganz normaler Leute“ zum Krieg in Bosnien. Aus den Stellungnahmen spricht Fassungslosigkeit angesichts der sich aufdrängenden Irrationalität des Konflikts und Hilflosigkeit gegenüber den Ereignissen, da jede Handlungsperspektive zu fehlen scheint:

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„…Ich sehe nicht sehr oft Nachrichten, ich lese lieber mal ein Buch, und wenn man wie ich abends spät nach Hause kommt, da hat man keine Lust, sich auch das noch anzugucken, was da in Jugoslawien passiert. Ich persönlich kann da ja ohnehin nicht viel ausrichten, auch wenn ich mir jetzt eine Meinung bilde. Gut, ich weiß, wenn alle so denken würden, macht sich am Ende niemand mehr Gedanken, und man kann gar nichts mehr ändern. Aber die Politiker, die was ausrichten könnten, machen es ja auch nicht – weil sie zu bequem sind oder aus politischen Gründen, ich weiß es nicht. Deshalb gucke ich mir die Berichte über Jugoslawien auch gar nicht mehr oft an. Ich weiß gar nicht mehr, wer da gegen wen Krieg führt, ich glaube, das weiß keiner mehr, nicht mal mehr die, die da unten kämpfen , wissen noch: wer, warum, weshalb.“

Diana Baudisch, Augenoptikerin im brandenburgischen Oranienburg

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„…Dass allgemein das Interesse der Leute an dem Bosnienkrieg nachgelassen hat, liegt sicher an der Übersättigung. So schrecklich es ist und so sehr man mitleidet, wenn man die Bilder sieht. Im ersten halben Jahr war man noch viel entsetzter. Jetzt sieht’s doch so aus: Man kann nichts machen, es ist ein totales Chaos, und man versteht es sowieso nicht richtig…“

Dolores Jeran, 50, Hausfrau aus Hamburg

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„…Wenn ich mir dieses Hin und Her im Fernsehen anschaue, mir Berichte im Radio anhöre, dann schwanke ich zwischen Wut darüber, dass ich nicht helfen kann, und Mitleid und Trauer über das Elend der Menschen.

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Da bleibt mir manchmal keine andere Möglichkeit, als den Fernseher einfach abzuschalten, weil ich mich zu sehr über das undurchschaubare, entsetzliche Geschehen aufrege. Ich kann dann einfach nichts mehr damit anfangen…“
Nina Holzhauer, 19, Volontärin


Auszüge aus DIE ZEIT: Wie nah das ist und wie fern man sich, Nr.31/1995, S. 54

Annans Ruf nach konsequentem Schutz der Menschenrechte würde letztlich zum Dauerkrieg führen

Den gerechten Krieg mag es ja geben. Und wenn Generalsekretär Kofi Annan vor der UN-Vollversammlung dazu aufruft, massive und systematische Menschenrechtsverletzungen künftig nicht mehr zu dulden und deshalb den Schutz für Zivilisten über die Rechte souveräner Staaten zu stellen, fordert er nichts anderes als die Dauerbereitschaft zum Krieg für die Gerechtigkeit. Moralisch hat Annan damit Recht. Ruanda, der Völkermord an fast einer Million Menschen in weniger als hundert Tagen, hätte nie so teilnahmslos geschehen dürfen. Aber nicht alles, was moralisch richtig ist, ist politisch vernünftig.

Denn der Satz Annans ist äußerst gefährlich. Wenn sich das Weltgewissen wirklich ohne Ansehen des Staates überall einmischen würde, wo die Menschenrechte mit Füßen getreten werden, müsste der Großteil unserer Welt unter UN-Zwangsprotektorat gestellt werden. Da wird auch künftig die Realpolitik davor sein. Die Völkerrechtler mögen darüber streiten, ob „humanitäre Militäraktionen“ nur mit Billigung des Weltsicherheitsrates geschehen dürfen: Was im Kosovo geschah, wird nie in Chinas Tibet geschehen oder Russlands Tschetschenien. Und das ist gut so. Denn andersherum hätten wir im neuen Jahrhundert den Dauerkrieg im Namen der Moral.

Eines sind auch „gerechte“ Kriege nie: unblutig. Und wer die Menschenrechte hochhält, steht immer vor dem gleichen Dilemma. Wenn er den Tyrannen droht, muss die Drohung glaubwürdig sein. Jedem Diktator und jedem Staat muss klar sein, dass er innerhalb seiner Grenzen nicht tun und lassen kann, was er will. Wer die Menschenrechte bei sich zu Hause mit Füßen tritt, in Willkür mordet oder Menschen vertreibt, darf auch hinter seinem Grenzzaun nicht sicher sein, straffrei und an der Macht zu bleiben. Doch zugleich darf es keinen Automatismus von der Drohung zum Krieg geben.

Annan hat den Widerspruch zweier Prinzipien angesprochen: der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten und der universellen Bedeutung der Menschenrechte. Die Diskussion darüber schwelt seit langem, jetzt wird sie hoffentlich ein gutes Stück weitergeführt werden. Dabei ist das Prinzip der Nichteinmischung weit älter als die UN-Charta. Es geht zurück auf den Westfälischen Frieden von 1648. Das Prinzip der Menschenrechte wurde durch die amerikanischen und französischen Revolutionäre Ende des 18. Jahrhunderts formuliert.

Nach Auflösung des alles bestimmenden Ost-West-Gegensatzes vor zehn Jahren bestimmt nun dieser Prinzipienstreit die Tagespolitik. Noch mit dem Anspruch des moralischen „Weltpolizisten” intervenierten die USA 1992 militärisch in Somalia, die UN folgten nur nach. Kaum aber mussten die Amerikaner in Mogadischu eigene Tote beklagen, zog sich der Weltpolizist zurück. Zwei Jahre später war Washington nicht mehr bereit, in Ruanda einzugreifen. Die mit der „Weltpolizisten-Rolle verbundenen Hoffnungen oder Befürchtungen mussten für immer begraben werden. Internationale Moral hat einen kurzen Atem. Denn gerade bei humanitären Militäraktionen ist die eigene Bevölkerung nur zum unblutigen Krieg bereit. Den aber gibt es nicht. …“


Birnbaum, Michael in: Süddeutsche Zeitung vom 25.09.99, S. 4

 Nach der AKUF-Definition (Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung) wurden 1998 weltweit 32 Kriege und 17 bewaffnete Konflikte geführt. Im Vergleich zu den vorhergehenden Jahren war damit erstmals wieder ein Anstieg der Anzahl der jährlich geführten Kriege zu verzeichnen. Dennoch war die Kriegshäufigkeit auch 1998 deutlich unter der in den frühen neunziger Jahren. Die weiterhin hohe Anzahl der bewaffneten Konflikte unterhalb der Kriegsschwelle verdeutlicht das anhaltend große Ausmaß politischer Gewalt.

Im Jahr 1998 kam es zum Ausbruch von insgesamt fünf neuen Kriegen. Allein auf dem afrikanischen Kontinent, der mit insgesamt vierzehn Kriegen wiederum den Spitzenplatz in der regionalspezifischen Kriegsverteilung einnimmt, waren drei neue Kriege zu verzeichnen. So ist die Demokratische Republik Kongo auch nach der Machtübernahme durch Laurent Kabila 1997 erneut zum Schauplatz eines Krieges geworden: Im August des Jahres eskalierten die Auseinandersetzungen zwischen der von ihm kontrollierten Zentralregierung in Kinshasa und verschiedenen, von benachbarten Staaten unterstützten Rebelleneinheiten. Ferner eskalierten im westafrikanischen Guinea-Buissau in der Folge eines Putsches die Auseinandersetzungen um die Regierungsgewalt zu einem Krieg. Ebenso überschritt der Grenzkonflikt zwischen Eritrea und Äthiopien 1998 die Schwelle zum Krieg. Weil der Konflikt zwischen der Regierung Perus und der Guerillaorganisation „Sendero Luminoso“ an Schärfe verloren hat, wurden 1998 in Lateinamerika nur noch zwei Kriege geführt. In der Region des Vorderen und Mittleren Orients fanden sechs Kriege statt. Neben neun fortdauernden Kriegen in Asien ist schließlich auch Europa durch die gewaltsame Eskalation im jugoslawischen Kosovo wieder zum Schauplatz eines Krieges geworden.

Bei Betrachtung der verschiedenen Kriegstypen ergibt sich folgende Verteilung. Bis auf den Krieg zwischen Eritrea und Äthiopien und die bewaffnete Intervention der USA und Großbritanniens im Irak waren alle kriegerischen Auseinandersetzungen des Jahres 1998 innerstaatlicher Natur. Dreizehn der Kriege waren Anti-Regime-Kriege, in denen um den Sturz der Regierung oder den Erhalt oder die Veränderung des politischen Systems gekämpft wurde. In zehn Kriegen war das Ziel der Kampfhandlungen die Durchsetzung der Forderung nach Autonomie oder Sezession eines Staatsteils. Lediglich in zwei Kriegen spielten weder Autonomie- und Sezessionsbestrebungen noch das Bestreben der Erlangung der staatlichen Kontrolle eine Rolle. Diese wurden als sonstige innerstaatliche Kriege eingeordnet. In sechs der 1998 geführten Kriege überschnitten sich die Kriegsziele. Aus diesem Grund wurden diese als Mischtypen erfasst.

Definition

In Anlehnung an den ungarischen Friedensforscher István Kende (1917-1988) definiert die AKUF Krieg als einen gewaltsamen Massenkonflikt, der alle folgenden Merkmale aufweist:

  1. an den Kämpfen sind zwei oder mehr bewaffnete Streitkräfte beteiligt, bei denen es sich mindestens auf einer Seite um reguläre Streitkräfte (Militär, paramilitärische Verbände, Polizeieinheiten) der Regierung handelt;
  2. auf beiden Seiten muss ein Mindestmaß an zentral gelenkter Organisation der Kriegführenden und des Kampfes gegeben sein, selbst wenn dies nicht mehr bedeutet als organisierte bewaffnete Verteidigung oder planmäßige Überfälle (Guerillaoperationen, Partisanenkrieg usw.);
  3. die bewaffneten Operationen ereignen sich mit einer gewissen Kontinuierlichkeit und nicht nur als gelegentliche, spontane Zusammenstöße, d.h. beide Seiten operieren nach einer planmäßigen Strategie, gleichgültig ob die Kämpfe auf dem Gebiet einer oder mehrerer Gesellschaften stattfinden und wie lange sie dauern. Kriege werden als beendet angesehen, wenn die Kampfhandlungen dauerhaft, d.h. für den Zeitraum von mindestens einem Jahr, eingestellt bzw. nur unterhalb der AKUF-Kriegsdefinition fortgesetzt werden.

Als bewaffnete Konflikte werden gewaltsame Auseinandersetzungen bezeichnet, bei denen die Kriterien der Kriegsdefinition nicht in vollem Umfang erfüllt sind. In der Regel handelt es sich dabei um Fälle, in denen eine hinreichende Kontinuität der Kampfhandlungen nicht mehr oder auch noch nicht gegeben ist. Bewaffnete Konflikte werden von der AKUF erst seit 1993 erfasst.

Kriegstypen

Hinsichtlich der Kriegstypen unterscheidet die AKUF zwischen fünf Typen:

A = Antiregime-Kriege: Kriege, in denen um den Sturz der Regierenden oder um die Veränderung oder den Erhalt des politischen Systems oder gar der Gesellschaftsordnung gekämpft wird.

B = Autonomie- und Sezessionskriege: Kriege, in denen um größere regionale Autonomie innerhalb des Staatsverbandes oder um Sezession vom Staatsverband gekämpft wird.

C = Zwischenstaatliche Kriege: Kriege, in denen sich Streitkräfte der etablierten Regierungen mindestens zweier staatlich verfasster Territorien gegenüberstehen, und zwar ohne Rücksicht auf ihren völkerrechtlichen Status.

D = Dekolonisationskriege: Kriege, in denen um die Befreiung von Kolonialherrschaft gekämpft wird.

E = Sonstige innerstaatliche Kriege. Zahlreiche Kriege lassen sich nicht eindeutig einem dieser Typen zuordnen, weil sich verschiedene Typen überlagern oder sich der Charakter des Krieges im Verlauf der Kampfhandlungen verändert, so dass sich Mischtypen bilden.

Ein weiteres Kriterium für die Typologisierung von Kriegen ist die Fremdbeteiligung. Als Intervention oder Fremdbeteiligung berücksichtigt die AKUF nur diejenigen Fälle, in denen die Streitkräfte eines weiteren Staates unmittelbar an den Kämpfen teilnehmen. Bloße Waffenlieferungen, finanzielle oder logistische Unterstützung und dergleichen werden nicht als Intervention gewertet.

1 = Krieg mit unmittelbarer Fremdbeteiligung

2 = Krieg ohne unmittelbare Fremdbeteiligung


http://www.sozialwiss.uni-hamburg.de/Ipw/Akuf/home.html

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