Berlin: Die Sinfonie der Großstadt (1927)
von GFS-Admin_2021 · Veröffentlicht · Aktualisiert
Zum Film
Der experimentelle Stummfilm ist das bedeutendste Werk des deutschen Filmregisseurs Walther Ruttmann (1887 – 1941). Er dokumentiert den Tagesablauf der Metropole Berlin der späten 1920er Jahre. Zur Zeit dieser Aufnahmen hatte sich Deutschland gerade ein wenig von den schlimmsten Folgen des ersten Weltkrieges erholt, war die große Wirtschaftskrise noch einige Jahre entfernt und Hitler zu dieser Zeit noch kein Thema. Berlin war Deutschlands weltoffenste Stadt, zusammen mit Paris und London war Berlin das kulturelle Zentrum Europas.
Filmanssicht beim Berlin Channel
Interaktive Lernbausteine bei Vision Kino
- Filmographische Angaben
- Der Regisseur zu seinem Film
- Zeitgenössische Filmkritiken
- Retrospektive Filmkritiken
- Dokumentation zum Film bei filmportal.de
Originaltitel | Berlin – Die Sinfonie der Großstadt |
Produktionsland | Deutschland |
Originalsprache | Deutsch |
Erscheinungsjahr | 1927 |
Länge | 64 Minuten |
Stab |
|
Regie | Walter Ruttmann |
Drehbuch | Karl Freund, Carl Mayer, Walter Ruttmann |
Musik | Edmund Meisel (bei der Uraufführung) |
Musikalische Leitung | Edmund Meisel (bei der Uraufführung) |
Kamera | Robert Baberske, Reimar Kuntze, Karl Freund, László Schäffer |
Schnitt | Walter Ruttmann |
Mitwirkung | Bernard Etté |
Produktionsfirma | Deutsche Vereins-Film AG (Berlin) im Auftrag von Fox-Europa-Produktion (Berlin) |
Herstellungsleitung | Karl Freund |
Erstverleih | Deutsche Vereins-Film AG (Berlin) |
Im Programmheft zur Premiere im Tauentzienpalast schrieb Ruttmann über sein Anliegen u.a.:
Der Berlin-Film gab mir Gelegenheit zu beweisen, daß es heute möglich ist, Filmkunst ohne jede Kompromisse zu zeigen. Mit manchem mußte gebrochen werden. Hier sollten keine Darsteller spielen, sondern die erschütternde Gebärde des sich unbeobachtet glaubenden Menschen mußte eingefangen werden, Das konnte natürlich nur dadurch gelingen, daß ich mich an die ahnungslose Menschheit heranschlich wie der Jäger an sein Wild. Die zweite Forderung war: straffste 0rganisation des Zeitlichen nach streng musikalischen Prinzipien. Dieser streng musikalische Charakter im Aufbau des Films gab dem Komponisten Edmund Meisel die Möglichkeit, in bahnbrechender Weise die filmische Sinfonie durch eine musikalische zu ergänzen und zu steigern, so daß hier zum ersten Mal Filmmusik selbständiger Faktor des Gesamtwerkes wurde. Ich hoffe, daß es mir gelungen ist, mit diesem Rüstzeug zu zeigen, daß Leben, alltägliches Leben, spannend, eigenartig und dramatisch ist, auch ohne Literatur und Theater.“
Zitiert nach: Hans Borgelt: Die Ufa – ein Traum. Berlin 1993, S. 104
Die Dokumentation zum Film auf filmportal.de enthält zahlreich online verfügbare zeitgenössische Filmkritiken, darunter auch die von S. Kracauer aus der Frankfurter Zeitung, Nr. 856, 17.11.1927, in der er die Oberflächlichkeit und die damit einhergehende soziale Blindheit des Films – vergleichbar zu Frfiedländer – kritisiert: „Während etwa in den großen russischen Filmen Säulen, Häuser, Plätze in ihrer menschlichen Bedeutung unerhört scharf klargestellt werden, reihen sich hier Fetzen aneinander, von denen keiner errät, warum sie eigentlich vorhanden sind.“
«Ruttmanns Film ist keine Sammlung fotografischer Aufnahmen Berlins. Diese grosse Stadt ist als Schauplatz eines unendlich differenzierten Lebens erfühlt, das in seiner Gesamtheit dieses berauschende, überwältigende Gefühl ‹Weltstadt› ergibt. Dieses Gefühl zu einem mächtigen Akkord anschwellen zu lassen, ist die ästhetische Aufgabe dieses Films, der sich nicht mit Unrecht als ‹Symphonie› bezeichnet. Denn sein Aufbau ist durchaus kompositorisch gedacht – Akkorde, Dämpfungen, Prestissimos, Adagios wie in der Musik. Die Menschen sind in einer Nähe belauscht, wie es noch kein Film vermocht hat. Erschreckt, amüsiert, verdutzt betrachtet man den Vorgang, wie sich ein Mann eine Zigarre anzündet. Er hat von seiner Aufnahme mit dem kleinen, kaum sichtbaren Pathé-Apparat nichts gewusst und lässt sich gehen. Vor diesem Film hat kein Mensch gewusst, kein Mensch darauf geachtet, welch ein groteskes, wandlungsreiches Schauspiel dieser Vorgang ist.»
(Rudolf Kurtz, Lichtbildbühne, 24.9.1927)
„Ein guter Gedanke: die Großstadt zu fassen, wie sie ist, Aufnahmen zu machen, die nicht ,,gestellt“ sind. Sehenswert, was dem Regisseur Ruttmann und den vorzüglichen Operateuren gelungen ist. Und doch ein durchgehender Fehler. Ein Fehler, der bewirkt, daß alle“, was wir sehen, lrgendwie chaotisch, sinnlos erscheint. Ein Fehler, der auch die äußeren Mängel verursacht. Denn trotz des sausenden, buntwechselnden Inhalts, des ,,Tempos“, empfindet man manches als Längen, besonders den Verkehr. Es fehlt die Leitidee. Es fehlt die Handlung der Großstadt. Die Großstadt Berlin erscheint hier ohne ihren geschichtlichen Charakter, ohne konkreten Zweck. Die Autoren wollten ohne Tendenz darstellen. Aber die Wirklichkeit ist verkörperte Tendenz. Berlin ist eine kapitalistische Großstadt. Der Kapitalismus gibt ihr sein Gepräge: die Jagd nach Profit. Jede Minute in dieser Stadt ist ausgefüllt von Klassengegensatz und Klassenkampf. Und diese geschichtliche Tendenz muß erfaßt und dargestellt werden. Wer das nicht tut, filmt bloß Fassade. Die ,,Objektivität“ schlägt in ihr Gegenteil um. (Besonders, wenn der einzige politische Moment des Films ein – Hindenburg-Moment ist.). . .“
Rote Fahne, 25.09.1927; zitiert nach Weimarer Republik: a.a.O., S. 483
Einführung
Der Film ist bei Wikipedia in der Liste der bedeutenden deutschen Filme aufgenommen, ebenso in die Liste der wichtigsten deutschen Filme bei filmportal.de.
Der Filmdienst schreibt zum Film:
Eine klassische Bildreportage über 24 Stunden im Leben der Metropole Berlin des Jahres 1927 – ganz mit den Augen der (u.a. in einer Litfaßsäule versteckten) Kamera gesehen. Ein ungemein eindringlicher und informativer Stummfilm von großem zeitdokumentarischem Wert. Bei der Uraufführung im Tauentzienpalast wurde zur genauen Übereinstimmung von Bild und Musik erstmals das Musik-Chronometer von Carl Robert Blum verwendet.
„Ein Klassiker des goldenen Zeitalters des Stummfilms und ein überzeugendes Dokument des Berliner Lebens in der Zwischenkriegszeit.“
„Berlin – Die Sinfonie der Großstadt“ hat die Jahrzehnte überdauert und ist ein Film, der auch Jahrzehnte nach seiner Premiere, noch beeindruckt.“
„Ein musikalisches und filmisches Meisterwerk – einschalten am 30. November auf ARTE lohnt sich!“
Aussagen dieser Art sind kennzeichnend für die meisten Beiträge zum Film auf Veranstaltungs- und/oder Filmportalen.
Die Vorankündigung verspricht ein „Werk, das mit allem bricht, was der Film bisher gezeigt hat. Es spielen keine Schauspieler, und doch handeln Hunderttausende. Es gibt keine Spielhandlung, und es erschließen sich doch ungezählte Dramen des Lebens. Es gibt keine Kulissen und keine Ausstattung, und man schaut doch in der hundertpferdigen Flucht die unzähligen Gesichter der Millionenstadt. Paläste, Häuserschluchten, rasende Eisenbahnen, donnernde Maschinen, das Flammenmeer der Großstadtnächte, Schulkinder, Arbeitermassen, brausender Verkehr, Naturseligkeiten, Großstadtsumpf, das Luxushotel und die Branntweindestille, der mächtige Rhythmus der Arbeit, der rauschende Hymnus des Vergnügens, der Verzweiflungsschrei des Elends und das Donnern der steinernen Straßen – alles wurde vereinigt zur Sinfonie der Großstadt“.
Am Freitag, den 23. September 1927, war der Tauentzien-Palast gut besucht. Es stand eine Premiere auf dem Programm, die reichlich Aufmerksamkeit auf sich zog: „Berlin – Die Sinfonie der Großstadt“ wurde, begleitet von einem großen Orchester, uraufgeführt. Der Film wurde schnell zu einem großen Publikumserfolg. Heute ist das Werk von Walter Ruttmann der Klassiker des Berlin-Films und ein Meilenstein der Filmgeschichte. Ruttmanns Werk ist ein Film über den Großstadtrhythmus, den Rhythmus der modernen Zeit. In rasantem Tempo beschreibt er einen Tag im Leben der vibrierenden Metropole, von den frühen Morgenstunden bis in die späte Nacht. Das Berlin der Zwanzigerjahre ist für den Regisseur die Stadt der Zukunft und des Fortschritts, ein riesenhafter und rastloser Organismus. Die Stadtreportage faszinierte vor allem durch ihre Bildsprache und die Dynamik der Bildmontage (mit über 1000 Einstellungen in etwas mehr als 60 Minuten). Neben enthusiastischen Jubel gab es aber auch Kritik: der Stummfilm sei oberflächlich und vernachlässige die soziale Wirklichkeit. Der Schriftsteller, Theaterkritiker und Journalist Alfred Kerr schrieb etwa: „Ein Rausch für die Pupille, aber kein Menschen-Film“. „Berlin – Die Sinfonie der Großstadt“ hat die Jahrzehnte überdauert und ist ein Film, der auch Jahrzehnte nach seiner Premiere, noch beeindruckt.
Berlin – Die Sinfonie der Großstadt – Trailer, Kritik, Bilder und Infos zum Film (prisma.de)
Berlin – Die Sinfonie der Großstadt des deutschen Regisseurs Walther Ruttmann, der 1933 den Propagandafilm Blut und Boden für die nazifizierte UFA inszenierte, entwirft das dynamisch-rhythmische Bild einer kruden Urbanität, das von der in fünf Akte gegliederten Musik von Edmund Meisel angetrieben wird.
Ein Film ganz Musik und Rhythmus: berauschend und überwältigend in seiner Wirkung auf den Zuschauer, mechanisch und von minutiöser Präzision in seiner Machart. Abseits von allen Konventionen des Spielfilms der 20er Jahre ist „Berlin. Die Sinfonie einer Großstadt“ Experiment, Vision und Dokumentation zugleich.
‚Berlin – Die Sinfonie der Großstadt‘, veröffentlicht 1927, ist ein Klassiker des goldenen Zeitalters des Stummfilms und ein überzeugendes Dokument des Berliner Lebens in der Zwischenkriegszeit.
Der Film wird als ein Tag im Leben Berlins präsentiert, aber Walter Ruttmann hat über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr aufgezeichnete Aufnahmen, die zum großen Teil mit versteckten Kameratechniken aufgenommen wurden, zu einem wunderschönen Film zusammengeschnitten.
In fünf verschiedenen Akten präsentiert, ‚Berlin – Die Sinfonie der Großstadt‘ hat den zusätzlichen Reiz, eine nicht mehr existierende Stadt im Film zu konservieren. Weniger als 20 Jahre später wurden viele der charmanten Gebäude der Hauptstadt der Weimarer Republik, die hier zu sehen waren, durch alliierte Bombenangriffe eingeebnet.
Obwohl ich sehr genau hinsah, erkannte ich nur sehr wenige Straßen und Gebäude, aber es ist die Einsicht, die der Film zu dieser Zeit in das Leben in der Stadt bietet, die für mich so faszinierend ist. Die Transportmöglichkeiten der Epoche sind in allen Akten stark vertreten; Es gibt Züge, Straßenbahnen, Pferdekutschen, Busse, Autos, und Flugzeuge.
Moderne Deutsche, die gerne auf den Ampelmann warten, werden entsetzt sein, wie die Leute kreuz und quer über die Straße rennen und Autos und Fahrrädern ausweichen.
Altmodische Busse mit Treppen auf der Außenseite, die Schreibmaschinen und Drehwahltelefone dieser Zeit brachten ein Lächeln in mein Gesicht. Ich musste auch über die Szene eines jungen Mädchens, das mit Löwenbabys spielt, lachen – in diesen Tagen würden Zoobesucher nicht bis auf wenige Meter heran kommen, geschweige denn in der Lage sein, einen am Schwanz zu ziehen. Halten Sie auch Ausschau nach den feinen Herren Berlins mit den Bärten, die Baristas heute in ‚third wave hipster Cafés‘ tragen.
Das Original ‚Berlin – Die Sinfonie der Großstadt‘ wurde zu einem Orchester-Soundtrack, der von Edmund Maisel komponiert wurde, geschnitten und von diesem begleitet, aber die YouTube-Version ist völlig still. Ich empfehle, den originalen Soundtrack auf Spotify nachzusehen – die Synchronisation passt nicht ganz, aber es gibt zumindest ein Gefühl für die Präsentation des Originalfilms.
Sonntags Doku: Berlin – Die Sinfonie der Großstadt – Berlin Love (withberlinlove.com)
Musikalisch verwobene Bilder
Wie eng Bild und Musik miteinander verwoben sein können, demonstriert Walter Ruttmanns zu recht als „künstlerisch wertvoll“ ausgezeichneter Stummfilm „Berlin. Die Sinfonie einer Großstadt“. Fast auf den Tag genau 80 Jahre nach seiner Weltpremiere am 23. September 1927 wurde das Werk sorgfältig restauriert und in exzellenter Bildqualität im Berliner Friedrichstadtpalast wiederaufgeführt.
Die eindringliche, von Edmund Meisel komponierte Filmmusik konnte nur noch als Klavierauszug überliefert werden. Im Auftrag des ZDF instrumentierte der Mainzer Komponist Bernd Thewes das vorhandene Material jedoch neu. Das Berliner Rundfunk-Sinfonieorchester unter Leitung von Frank Strobel untermalte die Bilder auf der Leinwand somit in Originalbesetzung live und eindrucksvoll synchron zum Film.
Dass Film und Musik bei „Berlin. Die Sinfonie einer Großstadt“ in gemeinsamer Arbeit entstanden sind, haben Ruttmann und Meisel vor 80 Jahren bekundet. Diese Kooperation ist in jeder Sequenz deutlich wahrnehmbar: Das Orchester imitiert musikalisch die dargestellten Vorgänge, beispielsweise vorbeifahrende S-Bahnen oder gestresst wirkende Menschen in U-Bahn-Schächten. Der Rhythmus verschmilzt also ganz und gar mit der Bewegung der Bilder.
Der Film ist in fünf Akte unterteilt und zeigt einen kompletten Tag im Vorkriegs-Berlin – vom Morgengrauen bis zum ausschweifenden Nachtleben mit Leuchtreklamen in Kneipen und Varietés. Ruttmann schien es wichtig, die unterschiedlichen Facetten der Großstadt mit seiner Kamera einzufangen: Gegensätze zwischen Arm und Reich, Schulkinder und alte Menschen, Arbeiterkieze und High Society, industrielle Produktion und Bürotätigkeiten, Freizeitvergnügen und als verknüpfendes Element immer wieder der öffentliche Nahverkehr in Bussen, Straßenbahnen, ersten elektrisch betriebenen U-Bahnen und S-Bahnen mit Dampf-Lokomotiven. Berlin wird sowohl als Maschine als auch als riesengroßer Rummelplatz dargestellt. Immer wiederkehrende Marsch-Rhythmen unterstreichen den Alltagstrott, während Tanzmusik im Can-Can-Stil beispielsweise die Varieté-Szenen, wo Revuetänzerinnen ihre langen Beine schwingen lassen, beherrscht. Der Rausch der Bewegung steht im Mittelpunkt des Films, dessen schneller Schnitt bereits an zeitgenössische Kunstfilme erinnert.
Die Bewegung hatte auch Meisel im Vorfeld seiner Kompositionen eingehend studiert, wie er im Artikel „Beim Erfinder der Geräuschmaschine“ deutlich machte: „Ich lauschte Stunden um Stunden in den Großstadtlärm hinein, notierte mir die Tempi der Geräusche, das Klingeln der Straßenbahnen, das Hupen der Autos, den Rhythmus nächtlicher Schienenarbeit.“
So griff er auf bekannte musikalische Muster – wie etwa Marsch, Swing oder Foxtrott – zurück, um damit Alltagsszenen mit Hilfe der Töne nachzuzeichnen. Dabei dominieren im Orchester besonders Bläser und Schlagwerk. Der Film entpuppt sich auf diese Weise als Doppel-Sinfonie, bei der die beiden dicht verzahnten Komponenten Musik und Film nur zusammen eine Einheit bilden können.
Berlin/Friedrichstadtpalast: Berlin. Die Sinfonie der Großstadt / Online Musik Magazin (omm.de)
Vor 75 Jahren fand die Uraufführung von Walter Ruttmanns BERLIN. DIE SINFONIE DER GROßSTADT (1927) statt. Der Film hat unsere Sicht auf die moderne Großstadt und ihre filmische Darstellung radikal verändert. Er ist kein populärwissenschaftlicher Kulturfilm, kein Städteporträt mit Postkartenansichten – eher ein Dokument denn ein Dokumentarfilm, den es als Genre noch nicht gab. Nach der Uraufführung am 23. September 1927 lobte die Kritik vor allem seine neuartige Form: der einer Sinfonie nachempfundene Querschnitt durch den Ablauf eines Tages, die den Rhythmus betonende Montage, der Verzicht auf eine Spielhandlung und auf Zwischentitel. Anhand präzise beobachteter Einzelerscheinungen erforscht Ruttmann das Wesen der Stadt. Er verzichtet dabei auf eingefahrene Ansichten und Wiedererkennbarkeit und verweigert sich vor allem der „Belehrungstaktik“ des zeitgenössischen Kulturfilms. Viele Bildfolgen von BERLIN. DIE SINFONIE DER GROßSTADT sind heute Metaphern für die Zwanziger Jahre, den Rhythmus und das Tempo Berlins, die Lebensform Großstadt. Hergestellt wurde Ruttmanns Berlin-Film von der Fox Europa Produktion, der deutschen Filiale der amerikanischen Fox Film Corporation – ihr Produktionsleiter Karl Freund war einer der fähigsten Kameramänner des deutschen Films und Carl Mayer, der die Idee zu dem Film beisteuerte, einer seiner kreativsten Drehbuchautoren.
Berlin. Die Sinfonie der Großstadt 1927 (angestellten.de)
Im Jahr 1927 eroberte ein Film die deutschen Kinos, dessen Star keine Stummfilmdiva und kein expressionistisches Monster des noch jungen Horrorgenres1 war. Der Regisseur und Autor Walter Ruttmann machte die Großstadt Berlin zum Hauptdarsteller seines Filmes „Berlin – Die Sinfonie der Großstadt“. Darin dokumentierte er das alltägliche Leben in der Metropole im Verlauf eines Tages.
Berlin an einem Tag
Als der Tag beginnt, füllen sich die Straßen, Menschen strömen in die Fabriken und das Leben in der Stadt wird zunehmend hektischer. Der Rhythmus des Tages wird vor allem durch zwei Stilmittel erzeugt: die von Edmund Meisel komponierte Begleitmusik und die dynamische Bildfolge. Die Einstellungen sind sehr kurz geschnitten oder zeigen Dinge in Bewegung. Diese Form der Bildsprache hat ihren Ursprung in Ruttmanns künstlerischem Schaffen, das sich vor allem der Animation abstrakter Motive widmete.2 Später wandte er sich dann der gegenständlichen Darstellung zu:
„Während der langen Jahre meiner Bewegungsgestaltung aus abstrakten Mitteln ließ mich die Sehnsucht nicht los, aus lebendigem Material zu bauen, aus den millionenfachen, tatsächlich vorhandenen Bewegungsenergien des Großstadtorganismus eine Film-Sinfonie zu schaffen.“3
Das „lebendige Material“ fand Ruttmann in Berlin reichlich: der schon damals halsbrecherische Verkehr in den Straßen, die monotone Unrast der Maschinen in den Fabriken, Menschen bei der täglichen Arbeit. Die Großstadt ist ein hektischer Ort – daran lässt Ruttmann keinen Zweifel – und zeitweise wirkt die Stadt selbst wie eine einzige große Maschine. Mechanisierung, Produktion, Verkehr und Kommunikation sind die Faktoren, die der Stadt ihre Bedeutung als moderne Metropole verleihen und eine bessere Zukunft versprechen.
Der Dokumentarfilm als Genre
Als Ruttmann 1926 seine Aufnahmen von Berlin machte, war der Erste Weltkrieg gerade erst acht Jahre her und Deutschland hatte noch lange mit dessen Konsequenzen zu kämpfen. Wirtschaftliche Einbrüche der Kriegsjahre, Reparationszahlungen und Inflation führten zu sozialen Missständen; politische Unruhen, Arbeitslosigkeit und Wohnungsmangel bestimmten bis Mitte der 20er Jahre das Tagesgeschehen. Nun, in der Phase der relativen Stabilisierung (1924-29), waren die schwierigen Anfangsjahre überwunden. Diese Rückkehr zur Normalität zeigt sich in den alltäglichen Bildern des Films. Ein langer Abschnitt widmet sich dann auch der Darstellung von kulturellem Leben und Freizeitgestaltung; Erholung im Grünen und Sport sind ebenso präsent wie die neu aufblühenden Kinos, Revuen und die nächtlichen Leuchtreklamen.
Bei der Umsetzung der Filmideen wurde Walter Ruttmann vor allem von einem Vorsatz geleitet: der Authentizität. „Keine gestellten Szenen. Menschliche Vorgänge und Menschen wurden ‚beschlichen‘. Durch dieses ‚Sich-unbeobachtet-glauben‘ entstand Unmittelbarkeit des Ausdrucks.“4 Damit folgte er auch dem Ideal der „Neuen Sachlichkeit“.5 Um das umsetzen zu können, wurde nie offen gefilmt. Stattdessen verbarg man die Kamera hinter Plakatwänden, in Kisten oder in Lastwagen. Eine wichtige Bedeutung kommt bei diesem Projekt vor allem dem Kameramann Karl Freund zu, der die bereits in „Der letzte Mann“ eingesetzte Technik der „entfesselten Kamera“ perfektionierte: Mit der Kamera vor der Brust oder an einem Kran konnte Freund lebendiger und unauffälliger filmen.
Der damit verbundene Anspruch auf Objektivität der Aufnahmen war in dieser Zeit ein Novum. So gilt der Film heute als ein Pionierwerk des Dokumentarfilms, eine Kategorie, die es in den 1920er Jahren noch nicht gab. Nicht-fiktionale Filme wurden bis dahin als Lehr- oder Kulturfilme bezeichnet. Die Mischung aus alltäglich Gesehenem und der ungewöhnlichen Präsentation als dynamische Kollage in „Berlin“ gefiel dem Publikum. So schrieb zum Beispiel die Vossische Zeitung nach der Premiere:
„Es blieb dem Zuschauer nicht nur das Gefühl kalten Staunens ob dieses technischen Meisterstücks, man wurde vielmehr innerlich gepackt, mitgerissen von dem optischen Tempo dieser jüngsten und kuriosesten Weltstadt.“6
Ruttmanns Blick auf die Berliner
Aber auch kritische Stimmen wurden laut: Einige beklagten die mangelnde Eindeutigkeit bei der Darstellung Berlins.7 Tatsächlich sind im Film kaum Wahrzeichen der Stadt zu erkennen; somit handelt es sich sicher nicht um ein Porträt Berlins, vielmehr ist es eine exemplarische Darstellung des Typus Großstadt. Ein anderer Punkt, den Zeitgenossen an Ruttmanns Umsetzung bemängelten, war die zu wenig auf die Menschen bezogene Betrachtung. So heißt es, dass Carl Meyer, Autor und Ideengeber des Films, mit Walter Ruttmann in Streit geriet, da er einen Film über die Menschen von Berlin geplant hatte, während Ruttmann einen eher technischen Film im Sinn hatte.8 Ob diese Anekdote stimmt, kann nicht eindeutig belegt werden.
Nach dem Scheitern der Weimarer Republik und der Machtergreifung der Nationalsozialisten blieb Ruttmann eine feste Größe im deutschen Filmgeschäft. Zwischen 1933 und seinem Tod im Jahr 1941 drehte er auch Propagandafilme wie „Blut und Boden“ (1933) oder „Deutsche Waffenschmieden“ (1940) und unterstützte Leni Riefenstahl bei ihrer Arbeit an „Triumph des Willens“ (1935). Optisch knüpfen diese späteren Werke an die Bewegungsgestaltung seines frühen Schaffens an; über seine politische Einstellung zur Ideologie der Nationalsozialisten ist allerdings nichts bekannt. Seine eher menschenferne Sicht in „Berlin – die Sinfonie der Großstadt“ wird als frühes Indiz für seine spätere Verbindung mit den Nationalsozialisten und „deren gut geölten, seelenlosen Maschinen“ gewertet.9
Zu klären bleibt die Frage, ob Ruttmanns Darstellung wirklich so weit weg von den Menschen ist. Sicher stehen im Film keine Einzelschicksale im Mittelpunkt. Dennoch versucht Ruttmann mit Akribie alle Facetten des Lebens einzufangen. Neben den unterschiedlichen Beschäftigungen dokumentiert er dabei auch verschiedenste Gesellschaftsschichten, vom Bettler über die Prostituierte bis hin zur feinen Gesellschaft, die sich zum Mittagessen eine Portion Austern gönnt. Besonders signifikant ist auch hier die Schnitttechnik, denn Ruttmann erzeugt durch Bildanschlüsse ganz bewusst Kontraste. So wechselt die Einstellung von einem reichlich gedeckten Tisch zu einem ebenso gut gefüllten Abfallbehälter mit Essensresten, der dann durch eine Mutter abgelöst wird, die im Müll nach Essbarem für ihre Kinder sucht. Auf diese Weise weist der Film ganz subtil auf Missstände hin. Kritik wird nicht mit dem erhobenen Zeigefinger geübt; sie entsteht letztendlich beim Betrachter selbst. Die Schicksale der Menschen werden dabei aber tatsächlich der Interpretation des Zuschauers überlassen und haben so, ähnlich wie die Stadt Berlin, etwas Stereotypes.
Heute ist der Film ein lebhaftes Zeugnis einer vergangenen Zeit und einer Stadt, die es so nicht mehr gibt. Besonders durch die von Ruttmann angestrebte ungestellte Wiedergabe des Geschehens werden die Aufnahmen zu einer wertvollen Quelle. Jedoch beschränkt sich der Blick auf das öffentliche Leben; einen Eindruck von den Lebensumständen und Wohnsituationen der Menschen liefert der Film nicht.
Berlin 75 Jahre danach
Ein eindrucksvolles Experiment ist die Neuinterpretation „Berlin – Sinfonie einer Großstadt“ des Regisseurs und Autors Thomas Schadt aus dem Jahr 2002. 75 Jahre nach der Entstehung des Originals dokumentiert Schadt, ebenfalls in schwarz-weiß und musikalisch untermalt, einen Tag im modernen Berlin. Besonders im Mittelpunkt stehen hier die Jahre, die zwischen beiden Filmen liegen: die Wunden im Stadtbild durch die Bombardierungen des Zweiten Weltkrieges, die Spuren der Besatzungsmächte wie der „Checkpoint Charlie“ und die Relikte der Teilung in West und Ost in Form von Mauerstücken und Grenztürmen. „Ruttmann sieht mehr nach vorn, ich schaue eher zurück. […] Ich wollte überprüfen, was aus seiner Vision von Stadt geworden ist.“10 Tatsächlich widmet sich Schadt weit mehr als Ruttmann den Schattenseiten der Metropole. Er zeigt soziale Außenseiter in einer Suppenküche und von Lethargie gezeichnete Menschen mit obligatorischer Bierflasche.
Im Ganzen wirkt die neue Großstadtsinfonie gedämpfter und melancholischer als das Original. Es scheint, als habe Walter Ruttmann in seiner Zeit eine Aufbruchstimmung und Faszination für das großstädtische Leben gesehen, die in den Jahrzehnten bis 2002 einer gewissen Ernüchterung gewichen ist. Inzwischen sind wieder einige Jahre vergangen und Schadts Film wird zunehmend eine Quelle für das Leben im Berlin der Jahrtausendwende. Und auch hier wird sich die Frage stellen, ob ein Film wirklich den Zeitgeist einer Epoche einfangen kann oder letzten Endes doch nur eine Collage von Eindrücken bleibt.
Weiterführende Literatur:
- Michael Cowan, Walter Ruttmann and the Cinema of Multiplicity. Avant-Garde – Advertising – Modernity (Film Culture in Transition), Amsterdam 2014.
- Wie z.B. „Nosferatu“ oder „Das Cabinet des Dr. Caligari“. []
- Am bekanntesten sind dabei die Trick- und Animationsfilme Opus I, II, III und IV. []
- Jeanpaul Goergen, Walter Ruttmann. Eine Dokumentation, Berlin 1989, S. 80. []
- Der Filmspiegel Berlin Nr. 5 (Mai 1927), zit. n. Goergen, Walter Ruttmann, S. 79. []
- Wie z.B. Georg Wilhelm Pabst in „Geheimnisse einer Seele“. []
- Kritik von Heinz Pol, Vossische Zeitung 24.09.1927. []
- Vgl. Kritik von Leo Hirsch, Berliner Tageblatt 24.09.1927. []
- Vgl. Nora M. Alter, Berlin, Symphony of a Great City (1927). City, Image, Sound, in: Noah Isenberg (Hrsg.), Weimar Cinema. An Essential Guide to Classic Films of the Era, New York 2009, S. 193-215, hier S. 213. []
- Vgl. ebd., S. 201: „…and its well-oiled soulless machine“. []
- Lars-Olav Beier, Pulsschlag der Metropole, in: Der Spiegel 15 (2002), S. 188. []
Die Texte in der Reihe „Historische Filmkritik“ wurden von Studierenden im Rahmen einer Lehrveranstaltung an der Uni Münster im Wintersemester 2014/15 verfasst. Sie befassen sich mit Filmen aus der Zeit der Weimarer Republik in historischer Perspektive.
Für J. Toeplitz ist Symphonie einer Großstadt die beste filmische Verwirklichung der Konzeption der Neuen Sachlichkeit. H. Korte betont vor allem den großen Einfluss, den der Filma auf das spätere Filmschaffen gehabt habe. H.H.Prinzler interpretiert in seinem Beitrag den Film im Kontext seiner Entstehungszeit und stellt darin u.a. die Intention Ruttmanns der Kritik Kracauers gegenüber.
Die Querschnittskonzeption lag auch dem Reportagefilm über Berlin von Walter Ruttmann Berlin. Die Symphonie einer Großstadt (1927) zugrunde. Die Idee und Szenariumsskizze für diesen Firm stammte von Carl Mayer, der damals bereits der Kammerspierfilme überdrüssig war. Mit Begeisterung begrüßte der Meister der Kamerakunst Karl Freund, der Mitschöpfer von Varieté und Der letzte Mann, die Herstellung eines Films, der sich ausschließlich auf authentisches, nicht inszeniertes Material stützte. Schon nach der Fertigstellung von Symphonie einer Großstadt sagte Freund über die dokumentarische Fotografie: ,,Es ist die einzige Fotografie, die wirklich Kunst ist. Warum? Weil man mit ihr das Leben porträtieren kann.“
Die Regie hatte die amerikanische Firma Fox, die mit dem Film Symphonie einer Großstadt einen Kontingentschein erwerben wollte, dem jungen Regiedebütanten Walter Ruttmann anvertraut. Ruttmann hatte bis dahin einige abstrakte Kurzfirme gedreht und die Traumsequenz aus Langs Nibelungen. (…)
Ruttmanns Vorliebe für abstrakt-mathematischen Bildschnitt stand in krassem Widerspruch zu den Absichten von Carl Mayer und Karl Freund. Der Film Die Symphonie einer Großstadt ist ein Beweis, daß der Konflikt zwischen den Autoren während der Arbeit nicht ausgetragen worden ist, und so fehlt der künstlerischen Konzeption dieses Streifens der gemeinsame Nenner seiner Autoren. Mayer und Freund wollten das Leben der Großstadt zeigen, Ruttmann wolle aus den Reportageelementen, aus den Szenen pulsierenden Lebens mit Hilfe der Montage eine visuelle Symphonie schaffen. Über seine Intentionen äußerte sich Ruttmann im Programmheft zum Firm:
„Hier sollten keine Darsteller spielen, sondern die erschütternde Gebärde des sich unbeobachtet glaubenden Menschen mußte eingefangen werden… Die zweite Forderung war: straffste Organisation des Zeitlichen nach streng musikalischen Prinzipien . . .“
Hieraus erklärt sich der Widerspruch zwischen dem interessanten, lebendigen und entdeckerischen Fotomaterial und seiner formalen Komposition. Die Verbindung der Aufnahmen wurde nicht von dem Inhalt der Szenen, sondern ausschließlich von der formalen Ähnlichkeit oder vom Kontrast bestimmt. Die lebendige Stadt wurde nach Ruttmanns Konzeption zu einem seltsamen, komplizierten, ewig funktionierenden Mechanismus. Ruttmann erklärt jedoch nicht die Ursachen und den Zweck dieses Funktionierens. Die Konzeption der Neuen Sachlichkeit fand in Symphonie einer Großstadt ihre beste filmische Verwirklichung.
Hier finden sich die Anbetung der Technik, die zynische Entlarvung der anarchischen Lebensweise in einer großkapitalistischen Metropole, das Gefühl der Resignation, das suggeriert, daß es doch keinen Zweck hat, die gesellschaftlichen Widersprüche zu beseitigen. Ruttmann lieferte Tausende von Fakten, ohne das gesellschaftliche, politische und ökonomische Wesen in Berlin zu verstehen. Symphonie einer Großstadt bewies die geistige Leere eines Künstlers, der sich nicht zu einer Auseinandersetzung mit der Welt, in der er lebt, entschließen kann. Der polnische Schriftsteller Józef Wittlin entzifferte Inhalt und Sinn des Films folgendermaßen, indem er fragte:
„Wohin fahren diese Züge, diese Autos und Omnibusse? Lauert hinter diesem ganzen Jahrmarkt des Lebens nicht eine entsetzliche Leere, vor der man mit keiner Untergrund- und mit keiner Hochbahn fliehen kann?“ Józef Wittlin gibt mit folgenden Worten seine Meinung über Die Symphonie einer Großstadt wieder.
„Ruttmans Film ist wirklich eine Epopöe des heutigen Tages, aber eine tragische Epopöe.“
Aus: Jerzy Toeplitz: Geschichte des Films, Bd. 1: 1918-1933, München 1987, S. 431/432
«Neben Das Cabinet des Dr. Caligari oder Metropolis lässt sich wohl bei keinem deutschen Film der zwanziger Jahre ein derartig vielfältiger und deutlicher Einfluss auf die Produktionen der Folgezeit nachweisen wie bei Ruttmanns Berlin. Der Film ist Kristallisations- und gleichzeitig Ausgangspunkt mehrerer Traditionslinien. So gilt er bis heute als der ‹sinfonische Film› schlechthin, die entscheidende Weiterentwicklung des ‹absoluten Films› auf dem Weg zum ‹filmischen (Real-)Film› oder als ein Musterbeispiel für die Möglichkeiten des künstlerisch-dokumentarischen Films.» (Helmut Korte, in: Fischer Filmgeschichte, Bd. 2, Frankfurt/Main 1991)
Carl Mayer hatte auch am Manuskript für einen der bedeutendsten abendfüllenden Dokumentarfilme der Stummzeit mitgearbeitet:
Berlin, Sinfonie der Großstadt. Walter Ruttmann (1888-1942) hieß dessen Regisseur und Initiator. Ruttmann kam vom Experimentalfilm, liebte Abstraktionen und bemühte sich erfolgreich, dem jungen Werbefilm (von dem er hauptsächlich lebte) künstlerisches Niveau zu geben. Den Berlin-Film empfand er als eine für sich neuartige Herausforderung. Er faßte ihn als Spielfilm auf, obgleich kein einziger Schauspieler darin mitwirkte. Die Großstadt, die Hauptstadt mit ihren Menschen, deren Freuden und Leiden, ihrer Arbeit und Freizeit lieferte den Stoff, der urbane Tageslauf von morgens bis abends die Dramaturgie. Mit dem musikalischen Begriff einer Sinfonie im Titel hatte Ruttmann einen Maßstab gesetzt, der hohe Anforderungen auch an das Stummfilm-0rchester stellte; Edmund Meisels Komposition ist in die Geschichte der deutschen Kinomusik eingegangen, Die Premiere im Tauentzienpalast (1927), einem späteren UFA-Haus, wurde zum Ereignis.
Aus: Hans Borgelt: Die Ufa – ein Traum. Berlin 1993, S. 104
„Eine absolut singuläre Wirkungsgeschichte. Berlin. Die Sinfonie der Großstadt (1927) bezeichnet einen doppelten Anfang, ist ein Pilotfilm des Dokumentarischen und eines der ersten umfassenden Stadtportraits überhaupt. Als Walter Ruttman vor der Premiere sein Projekt in der Presse propagierte, gab es noch keine Sprache, keine Begrifflichkeiten, um sein Vorhaben eindeutig zu bezeichnen. Nur als Kontrafaktur, als Gegensatz zum Gewohnten, zur Normalität des Kinodramas war dieser Film plausibel zu machen. Die Selbsterklärung Ruttmans mussten eine Leerstelle ausfüllen, eine »Unmöglichkeit« umschreiben:Ein Film ohne Handlung, ohne Liebeskonflikte, ohne happy end, ohne Schauspieler und ohne Star, es sei die Großsstadt selber , die hier eine Hauptrolle übernommen habe. Die dokumentarische Form war noch imaginär, und dennoch erlangte dieser Initiationstext auf Anhieb so etwas wie kanonische Gültigkeit. Mit einem einzigen Wurf wurde offenkundig ein universelles Modell geschaffen, das eine schier unendliche Kette von Selbstdarstellungen generierte.“
Aus: Karl Prüm: Symphonie contra Rhythmus. Widersprüche und Ambivalenzen in Walter Ruttmans Berlin-Film. In: Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland, Bd. 2 Weimarer Republik 1918-1933. Hrsg. v. K. Kreimeier, A. Ehmannn und J . Goergen. Stuttgart 2005, S. 411-434, hier: S. 411
Inhalt / Form
Entfernter als zwischen Kracauer und Ruttmann können die Vorstellungen von einem Stadtfilm, einem Berlinfilm kaum sein. Der eine – K. – will eine soziale Reportage, eine Chronik laufender Ereignisse, den großen Radius, die strukturierte Wirklichkeit, mensch-liche Anteilnahme, klare Haltung zur Realität, das dialektische Berlin. K. will vor allem: Inhalt. Der andere – R. – will unterhalten, Material und Bewegung organisieren, eine Sinfonie schaffen, komponieren. R. will vor allem: Form: „Straffste Organisation des Zeitlichen nach streng musikalischen Prinzipien. Vom zartesten Piano musste konsequent bis zum Fortissimo gesteigert werden. Moll und Dur mussten logisch ineinander übergeführt oder schroff gegeneinander gestellt werden. Ein Kontrapunkt musste entstehen aus dem Rhythmus von Mensch und Maschine. Ich glaube, daß die meisten, die an meinem Berlin-Film den Rausch der Bewegung erleben, nicht wissen, woher ihr Rausch kommt. Und wenn es mir gelingt, die Menschen zum Schwingen zu bringen, sie die Stadt Berlin erleben zu lassen, dann habe ich mein Ziel erreicht.“ Aber K. ist an Rausch und Schwingung nicht interessiert.
aus: H.H. Prinzler: BERLIN. DIE SINFONIE DER GROSSSTADT. Zuerst veröffentlicht in: Thomas Schadt: Berlin: Sinfonie einer Großstadt. Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 2002, S. 147-164.
In der Fachliteratur gelten die schriftlichen Werke Dsiga Vertovs und John Griersons
aus den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts als die ersten
Dokumentarfilmtheorien. BERLIN – DIE SINFONIE DER GROSSTADT wird in
diesem Zusammenhang als experimenteller Dokumentarfilm betrachtet, als filmische
Umsetzung für die theoretischen und philosophischen Ideen von Vertov, wie sie in
seinem Manifest KINO-OKI (1923) zusammengefasst sind.
Da sich meines Erachtens im Film jedoch weder politische noch soziokulturelle Ziele
wiederfinden, stelle ich diesen Ansatz in Frage.
weiter bei:
Hossam Wahbeh: Der Musikfilm als Form des Dokumentarfilms. Eine Untersuchung über die Erzeugung einer realistischen Illusion im Dokumentarfilm anhand einer Analyse des Musikfilms BERLIN – DIE SINFONIE DER GROSSTADT. Diss. Bauhaus-Universität Weimar 2012
Im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehen ein Film: Berlin. Die Symphonie der Großstadt von W. Ruttmann (1927), und eine zum Vergleich herangezogene, nie gedrehte Filmskizze vom Bauhaus-Lehrer L. Moholy-Nagy aus dem Jahr 1921-1922: Dynamik der Großstadt.
weiter bei:
André Combes: Die sachliche Verzauberung der Großstadt im Film. Germanica [Online], 9 | 1991, Online erschienen am: 17 Juli 2014, abgerufen am 17. Mai 2022. URL : http://journals.openedition.org/germanica/2397 ; DOI : https://doi.org/10.4000/germanica.2397
Das Thema dieser Arbeit diskutiert die Montagetechnik von Walter Ruttmann,
insbesonders seines Films Berlin, Sinfonie der Grosstadt. Mit der Technik
Ruttmanns sollen nachstehend angeführte, sich mit dem Thema „Stadt“
beschäftigende Filme einen Vergleich ermöglichen:
- Rien que les heures, Alberto Cavalcanti 1926
- Man with a Movie Camera, Dziga Vertov 1929
- A propos de Nice, Jean Vigo 193
- Douro, Faina Fluvial, Manoel Oliveira 1931
weiter bei:
Gerhard Mokesch: Die Sinfonie der Grosstadt. Mit Walter Ruttmann von Berlin 1927 nach Wien 2012. Diplomarbeit Wien 2015
(veröffentlicht: Gerhard Mokesch: Die Sinfonie der Grosstadt. Ein Vergleich von Montagetechniken mittels Systematischer Filmanalyse. Akademikerverlag 2015