Neue Sachlichkeit
„Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts ist exotischer als unsere Umwelt, nichts ist fantasievoller als die Sachlichkeit. Und nichts Sensationelleres in der Welt gibt es, als die Zeit, in der man lebt.“
(Vorwort aus: Der rasende Reporter von Egon Erwin Kisch, 1925.)
Die Lage wird dadurch so kompliziert, daß weniger denn je eine einfache »Wiedergabe der Realität« etwas über die Realität aussagt. Eine Photographie der Kruppwerke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute. Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht. Die Verdinglichung der menschlichen Beziehungen, also etwa die Fabrik, gibt die letzteren nicht mehr heraus. Es ist also tatsächlich »etwas aufzubauen«, etwas »Künstliches«, »Gestelltes«. Es ist also ebenso tatsächlich Kunst nötig. Aber der alte Begriff der Kunst, vom Erlebnis her, fällt eben aus. Denn auch wer von der Realität nur das von ihr Erlebbare gibt, gibt sie selber nicht wieder. Sie ist längst nicht mehr im Totalen erlebbar.“
(Bertold Brecht: Gesammelte Werke 18. Frankfurt/M. 1967, S. 161f)
Der Begriff „Neue Sachlichkeit“ bezeichnet eine kulturelle Strömung ab der Mitte der Zwanziger Jahre und ist eine Reaktion auf den Expressionismus zu sehen. Ihr Hauptmerkmal ist eine vermeintlich „sachliche“ Betrachtung der politischen und gesellschaftlichen Situation.
Die Neue Sachlichkeit kann man als Rückbesinnung auf die Welt des Sichtbaren verstehen. Das bedeutet, dass sich die Exponenten der Neuen Sachlichkeit nicht in Traum- oder Gefühlswelten flüchtete, sondern ein beobachtendes Bild von der gesellschaftlichen und politischen Situation zeichnete. Diese Strömung charkterisiert nicht nur die bildende Kunst und lIteratur in der zweiten Hälfte der 20er Jahre, sie prägt auch den ambitionierten Film.
Film in der Nachkriegszeit (1918-1924),
Film in der Stabilisierungszeit (1924-1929)
Film in der präfaschistischen Zeit (1930-1933)
Neue Sachlichkeit und Film
Die Mitte der 20er Jahre neu auftretnden Regisseure wagten eine weitgehende Abkehr vom Expressionismus und wollten sich direkt mit der Wirklichkeit auseinandersetzen. Bei Kaes ist das die Wende vom Kammerspielfilm zum Straßenfilm. Es entstanden nun auch Filme mit sozialkritisch-realistischer Thematik. Vielmehr drücktendie Filme allerdings ein ambivalentes Lebensgefühl zwischen Sicherheit und Unsicherheit aus. Trotzdem wurden sie wegen ihrer sozialkritischen Tendenzen häufig auch Opfer einer konservativen Filmzensur. Georg Wilhelm Pabsts Die freudlose Gasse (1925) wird zu den ersten Filmen der Neuen Sachlichkeit gerechnet. Neben Pabst gehörte auch Gerhard Lamprecht zu den wichtigen Vertretern der Neuen Sachlichkeit.
Neben dieser mehr sozialkritischen Richtung etablierte sich mit dem sog. Querschnittfilm eine nicht-fiktionale Filmform, die einem assoziativen Montageprinzip folgte, ohne konkrete Ereignisse oder Protagonisten zu fokussieren. Die Haltung der neuen Sachlichkeit fand ihren reinsten Ausdruck in diesen Filmen, „die nicht das individuelle Leben sondern das Leben der großen Zahl in den Mittelpunkt stellten, die Vielfalt an Eindrücken. Die Filme sind Versuche, Abbilder der Wirklichkeit zu liefern, „so wie sie“ bzw. so wie sie wahrnehmbar, erlebbar ist: Vor allem die Phänomene der modernen Großstadt geraten in den Blick der dokumentarischen Kamera: Sport, Mode, Kino… Das Leben von Großstadtmenschen, die Atmosphäre der Großstadt . Die Filme zeigen, sie erklären nicht. In ihrer Schein-Objektivität und Gleichgültigkeit nehmen sie trotzdem Stellung zur gesellschaftlichen Realität. Prototyp dieser scheinbar neutral montierten Betrachtungsweise war w. Ruttmans Berlin. Die Sinfonie der Großstadt (1927)
„Das Sujet eines Querschnittfilms ist als abstrakt-ästhetische Darstellung bestimmter Räume zu lesen. Als narrative Struktur kann beispielsweise eine chronologische Folge von nicht im direkten Zusammenhang stehender Handlungen fungieren.“ (wikipedia, 20.05.2022)
„Im letzten Drittel der zwanziger Jahre wurde die „neusachliche“ Tendenz zurückgenommen in eine Interpretation der Naturphänomen. Bei Regisseuren, die vorher mit Dokumentarspielen eine besondere Facette der „Neuen Sachlichkeit“ geboten hatten, wurde die Natur nunmehr zum Handlungsträger. Filme wie A. Fanck’s Der heilige Berg (1927) stilisierte die Berge zu Symbolen „urtümlicher Gewalten, deren Anruf der Mensch sich nicht zu entziehen vermag.“ (Stoss: a.a.O., S: 493)
Siegfried Kracauer zu Neue Sachlichkeit
Gustav Hartlaub, Direktor des Mannheimer Museums, prägte 1924 den Begriff »Neue Sachlichkeit«, um den neuen Realismus in der Malerei zu definieren. » Er bezog sich [sagte er über diesen Realismus] auf das allgemeine zeitgenössische Gefühl der Resignation und des Zynismus in Deutschland nach einer Zeit überschwänglicher Hoffnungen (die im Expressionismus ein Ventil gefunden hatten). Zynismus und Resignation sind die negativen Seiten der Neuen Sachlichkeit; die positive Seite drückt sich in Enthusiasmus für die unmittelbare Realität aus, als Resultat der Sehnsucht, die Dinge völlig objektiv auf ihre materielle Basis zu beziehen, ohne sie sofort mit übertragenen Bedeutungen zu besetzen. « Hartlaub und nach ihm Fritz Schmalenbach betonen die Desillusionierung als emotionale Quelle der neuen Strömung.
Mit anderen Worten, die neue Sachlichkeit kennzeichnete einen Zustand der Lähmung. Zynismus, Resignation, Desillusion, alle diese Tendenzen weisen auf eine Mentalität, die sich jedem Engagement verweigert. Das Hauptmerkmal der Neuen Sachlichkeit ist die Weigerung, Fragen zu stellen, Stellung zu beziehen. Die Wirklichkeit wird nicht dargestellt, um Tatsachen ihre Bedeutung zu entlocken, sondern um alle Bedeutungen in einem Ozean von Tatsachen zu ertränken, wie zum Beispiel in den Ufa-Kulturfilmen.“
Siegfried Kracauer: a.a.O., S. 174/175
Rudolf Schwarzkopf: Abenteuer über Abenteuer
Abenteuer Nr. 1
Der Schriftsteller Bela Balázs dichtet einen Film ,,Abenteuer eines Zehnmarkscheines“. Es ist ein Film, aufgebaut auf einer eigenen, guten, starken und vor allem ausgesprochen filmischen Idee. „Ein faszinierender Einfall“, schrieb s. Z. Leo Lania im ‘Börsen-Courier, ,,statt privater Affären, nebensächlicher Einzelschicksale, den Querschnitt durch eine Zeit zu geben, die Unverbundenheit des modernen Großstadtmenschen, das völlige Fehlen jeder inneren Beziehung zwischen den verschiedenen Schichten oder deren Berührungspunkte an den Abenteuern einer Banknote aufzuzeigen; daneben die ,Menschwerdung‘ eines simplen Geldscheines abzuwandeln, der als bloße Nummer seine Reise antritt und auf dieser Männer, Frauen und Kinder in seinen Bann zieht, ihnen die Gesetze ihres Handelns vorschreibt, für sie zu bestimmendem Schicksal wird.“
Jawohl. Und all das war im Manuskript. Es zeigte das Wesen, also den Fluch des Geldes in der kapitalistischen Wirtschaft. Zeigte, wie das Geld das Verhältnis von Mensch zu Mensch zerstört; wie es alle guten und reinen Beziehungen vergiftet und verdirbt wie es – selbst besudelt mit Schweiß, Tränen und Blut – jeden besudelt, der damit in Berührung kommt. Bilder von schwerer geistiger und körperlicher Arbeit standen am Anfang, ein Streik am Ende. Kein einziges Bild war da, das nicht organisch mit dem Lebenslauf des Helden zusammenhing, zu dem der Dichter den unscheinbaren Zehnmarkschein erhoben hatte.
Ohne Konzessionen, ohne happy end, ohne all den Firlefanz des “Geschäfts-Films“.
Schlussapotheose (im Manuskript): rebellierende Arbeiter zerstampfen die verfluchte Banknote. . .
Abenteuer Nr. 2
“Wissen Sie, Herr Balázs so, wie der Film jetzt ist, ist er unmöglich. Wir müssen ändern. Das mit dem Streik am Schluß geht nicht, das will doch niemand wissen. Und immerzu die Banknote im Mittelpunkt, das geht schon gar nicht. Da muß richtige Handlung hinein. Eine ordentliche Liebesgeschichte, mit allem, was dazu gehört: das arme, keusche Mädchen, der reiche, raffinierte Lebemann, Sektgelage, Separée, Verführung. (Natürlich nur als Versuch mit untauglichen Mitteln. Die Tugend muß selbstverständlich siegen.) Und am Schluß sinken sich Held und Heldin beglückt in die Arme. Langer Kuß, Großaufnahme, Pipapo. . . abblenden! . . . So fressen sie uns den Film sogar in Amerika. Was wollen Sie, lieber Balázs? Kunst ist eine Sache, und Geschäft ist auch eine Sache. Wir sind fürs Geschäft.“
Abenteuer Nr. 3
Der Schriftsteller Bela Balázs kämpft verzweifelt für sein ursprüngliches Werk. Es hilft ihm nichts. Die Firma erzwingt ihre Änderungen. Und so wird das klare, sachliche, unsentimentale Manuskript abgebogen, das Thema verwischt, verniedlicht, verkitscht. Mit Recht hat das die maßgebende Kritik schon 1926 anläßlich der Premiere des Films getadelt. Aber schon damals gab man – zu Unrecht! – Balázs die Schuld. Und niemand nahm sich die Mühe, sich das Manuskript anzusehen, um festzustellen, was von Balázs, was von Fox und seinem Außenberg war…“
aus: ,,Film und Volk“, Jg. 1928, Heft 2, S. 11ff. zitiert nach: Weimarer Republik (1977), S. 483