Journalisten an der Front

„Im übrigen glaube ich nicht, dass unsere Zuschauer
wollen, dass wir uns für ein paar Bilder
von Granaten zerreißen lassen.“

In der Nachrichtensendung der ARD „Tagesthemen“ vom 11. Januar 1995 wird das Thema „Journalisten an der Front“ aufgegriffen. Anlass ist der Tod des Stern-Korrespondenten Jochen Piest, der am Vortag bei einem Überfall tschetschenischer Partisanen erschossen worden war. In Berichten, Interviews und Kommentaren – mit einer Gesamtlänge von ca. 8 Minuten – werden unterschiedliche Aspekte dieses Themas angesprochen.
Hier folgt das Wortprotokoll der Sendung sowie Texte zur Diskussion.

Die Journalisten – Immer näher, immer dichter am Geschehen?

Tagesthemen 11.01.95 – Wortprotokoll

Wickert:           
Unbeteiligte Menschen sind Opfer dieses Krieges.
Gestern wurde der Sternkorrespondent Jochen Piest von tschetschenischen Kugeln getroffen und getötet. 30 Jahre wurde er alt. Piest ist der dritte Journalist, der in dieser militärischen Auseinandersetzung das Leben verliert. Thomas Roth über die Presse an der Front!

Roth:   
Die Nachrichten des russischen Fernsehsenders NTW begannen heute abend mit einem Bericht über den erschossenen Kollegen der Zeitschrift Stern, Jochen Piest. „Wir waren in dem Büro“, sagt die Moderatorin „von wo aus er seine letzte Dienstreise antrat. Jochen Piest, auch ich habe ihn gekannt, er war nie tollkühn. Er war ein hochkompetenter Kollege“. „Das Risiko von dort zu berichten ist überall kolossal“, sagt Tanja Mitkowa, die bekannteste Nachrichtenjournalistin in Rußland. „Wir versuchen, dem zu begegnen, indem wir nur die Erfahrensten hinschicken“; aber sie weiß auch, daß das Risiko bleibt. Die wenigen Fernsehteams, die sich direkt nach Grosnyj hineinwagen, drehen nur noch mit Heimen und Panzerwesten, doch jeder weiß, daß das in Wirklichkeit nur wenig oder gar keinen Schutz bedeutet und trotzdem brauchen die internationalen Nachrichtenbüros Informationen und Bilder, wir genauso wie das Moskauer Büro des amerikanischen Nachrichtensenders CNN. Sie sind in Moskau unsere Nachbarn, wir arbeiten gelegentlich zusammen, wenn diese Zusammenarbeit mehr Schutz für uns alle bedeutet. Mit der CNN-Korrespondentin Shioban Darrow war ich eine Woche z.T. gemeinsam in Grosnyj. Frage: Wie gefährlich ist es? „Es ist außerordentlich gefährlich, selbst wenn die Luftwaffe nicht bombardiert, selbst dann ist es ungeheuer gefährlich. Die Lage ändert sich mit jeder Minute, ist in jeder Straße anders, und es ist ungeheuer schwierig, das Risiko einzuschätzen, so, daß du dich noch halbwegs sicher fühlst.“ Ein Beispiel: Wir drehen am Stadtrand von Grosnyj, als dort tschetschenische Panzer in Stellung gehen.  Ich suche das Gespräch mit einigen Tschetschenen, um die Lage und die Gefährlichkeit zu erkunden, doch die Fragen erledigen sich von selbst … Wir geraten in einen plötzlichen Schußwechsel. „Laß uns abhauen“, sage ich zu den Kollegen, „es ist zu gefährlich“. Mit viel Glück entkommen wir. Es war eigentlich längst zu gefährlich. Was treibt uns in solche Situationen? Auch die Jagd nach den besten Bildern? (Shioban Darrow): „Ich fürchte, daß Konkurrenz und das immer noch näher Dransein am Ereignis, eine immer größere Rolle spielt in unserem Geschäft.  Bei manchen Kollegen löst das zusätzlich den Impuls aus, noch größere Risiken einzugehen, auch wegen der Konkurrenz. Man darf sich auf gar keinen Fall in so eine Situation hinein drängen lassen, sonst triffst du törichte Entscheidungen, und das macht das Risiko dann am Ende noch größer als es eh schon ist“. Unser Alptraum in Moskau, der Tod unseres britischen Kollegen Rory Peck, erschossen beim Putsch in Moskau, Oktober 1993. Er wollte immer die besten Bilder – wir haben sie immer genommen – auch um besser zu sein.

Der russische Fotograf (Nikolai lgnatiew), der gestern mit dem erschossenen Kollegen vom Stern unterwegs war. Er versucht die Umstände zu schildern, unter denen der Stern-Kollege Jochen Piest ums Leben kam, es gelingt ihm nicht.  Er versinkt in seiner Trauer und geht weg.  Nachrichten aus dem Kriegsgebiet.

Guten Abend, Thomas Roth in Moskau.

Guten Abend, Ulli Wickert!

Wickert:           
Thomas Roth natürlich ist es auf der einen Seite ein hartes Geschäft, aber ist es nicht auch notwendig, daß über solche Kriege berichtet wird?

Roth:
Doch, Ulli Wickert, es ist überhaupt keine Frage. Natürlich ist das notwendig, alleine auch, um schon den Charakter dieses Krieges vor der internationalen Öffentlichkeit klarzulegen. Das ist überhaupt keine Frage. Der kritische Punkt aber für mich ist ein anderer. Dieses ist inzwischen insbesondere im Fernsehbereich ein eiskaltes, internationales Geschäft geworden, und in der Medienwelt hat sich in meinen Augen eine Art Wahn entwickelt, immer noch näher – und das sehe ich so wie meine CNN-Kollegin Shioban Barrow, noch näher und noch dichter am Geschehen dran zu sein, und dagegen, meine ich, müssen wir uns wehren, denn daran sterben immer mehr Kollegen.

Wickert:           
Thomas Roth, Sie waren dort in Grosnyj, weshalb sind Sie bisher nicht zurückgegangen? 

Roth:
Ganz einfach deshalb, weil das Risiko in meinen Augen, nach meiner persönlichen Einschätzung im Augenblick zu groß ist. Das hat aber auch objektive Gründe: Wir haben keine UNO-Strukturen und UNO-Organisationen dort, keine ständige Präsenz von Rotem Kreuz, d.h. man kann dort auch schon an leichten Verletzungen sterben, einfach weil keine ärztliche Versorgung da ist. Wir prüfen das jeden Tag neu – gemeinsam mit der ARD-, ob wir uns dafür entscheiden. Im Augenblick entscheiden wir uns dagegen. Im übrigen glaube ich auch, daß unsere Zuschauer nicht wollen, daß wir uns für ein paar Bilder von Granaten zerreißen lassen. Davon bin ich fest überzeugt.

Wickert:
Und wir wollen das natürlich erst recht nicht.  Vielen Dank, Thomas Roth.

Roth:
Bitte schön, Ulli Wickert.

Wickert:
Zum Thema, „Die Presse und Tschetschenien“ ein Kommentar von Winfried Scharlau vom Norddeutschen Rundfunk:

Scharlau:

Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit. Der Krieg in Tschetschenien beweist nur aufs neue, daß die offiziellen Verlautbarungen beider Seiten keinerlei Glaubwürdigkeit verdienen. Um die Öffentlichkeit über die Wirklichkeit des Krieges zu informieren, bedarf es unabhängiger Beobachter, die sich auf dem Schlachtfeld – „im theatre of war“ wie die Engländer sagen, ein eigenes Bild machen, die Informationen sammeln, um das Lügennetz der Armeesprecher zu zerstören und den Disinformanten in Präsidentenbüros und Generalstäben das Handwerk zu legen. Jochen Piest, ein junger Kollege vom Stern, ist gestern von drei Kugeln tödlich getroffen worden.  Wir alle, seine Kollegen in den deutschen Medien, haben Veranlassung, uns in Respekt zu verneigen.  „Wenn Deine Bilder nicht gut genug sind, warst Du nicht nah genug dran“; hat der legendäre Kriegsfotograf Robert Capa einmal gesagt. Der Stern-Korrespondent Jochen Piest hat aus Pflichtgefühl, aus journalistischer Leidenschaft, nicht aus Tollkühnheit gehandelt, als er in die vorderste Linie ging, um im capaschen Sinne nah genug dran zu sein.  Wie unverzichtbar diese Leistung ist, hat heute nachmittag noch einmal der Chef der russischen Luftwaffe in Tschetschenien deutlich gemacht, der der Weltpresse die Lüge auftischte, daß nur militärische Ziele in Grosnyj angegriffen worden seien, und daß seit dem 24. Dezember 1994 überhaupt kein Lufteinsatz mehr erfolgt sei. Verteidigungsminister Gratschow und seine Helfer werden mit der Aggression gegen die Wahrheit keinen Erfolg haben, solange Journalisten sich der Aufgabe stellen, die Wirklichkeit zu schildern, selbst um den Preis ihres Lebens.

Siehe ergänzend auch: „Noch nie so grausame Bilder gesehen“. Christoph Maria Fröhder im Interview mit Klaus-Rüdiger Metze

Der Krieg des Kremls gegen die abtrünnige Kaukasus-Republik Tschetschenien hat ein erstes Todesopfer unter den deutschen Journalisten gefunden: Jochen Piest, ein Korrespondent des Hamburger Magazins Stern, erlitt tödliche Schußverletzungen, als ein tschetschenischer Partisan von einer Lokomotive aus eine Pioniereinheit der russischen Armee unter Feuer nahm. Der 30 Jahre alte Piest und ein russischer Photograph des Stern, der einen Durchschuß am Bein erlitt, hatten kurz zuvor mit den Soldaten Interviews geführt.  Der Überfall hatte nicht ihnen gegolten. Die Reporter waren auf dem Weg in den Kaukasus, um Material für einen Bericht über den tschetschenischen Widerstand zu sammeln.
Ihre Redaktion hatte ihnen ausdrücklich verboten, in das umkämpfte Grosnyj zu fahren. Der Ort, an dem Jochen Piest von einer Salve aus einer Maschinenpistole tödlich getroffen wurde, liegt außerhalb der eigentlichen Kampfzone rund 40 Kilometer von Grosnyj entfernt.

Thomas Urban, in: Süddeutsche Zeitung 12. Januar 1995, S.9

Liebe Leserin, lieber Leser!

„Ganz bestimmt habe ich nicht für die morbide Schaulust biertrinkender TV-Konsumenten gearbeitet, denen bei der Darbietung kindlicher Hungerskelette das Wurstbrot ohnehin nicht aus der Hand fällt.“ Zornige Worte von Peter Scholl-Latour, dem Doyen der deutschen Krisen- und Kriegsreporter, über Fernsehzuschauer.

Ich kann seine unterschwellige Wut, die da aus ihm spricht, verstehen: Denn wer aus den Kriegs- und Krisengebieten dieser Erde Bilder und Nachrichten sammelt, damit wir informiert sind, hat Anspruch auf Aufmerksamkeit. Wozu sonst sollte er sein Leben riskieren, wenn er nicht die Hoffnung hätte, daß sein Bild, sein Artikel die Welt ein Stück verändern kann: das serbische Hungerlager von Omarska, die Gemetzel in Ruanda, die Bombardierung der Bevölkerung in Grosnyj…

Und sie bewegen etwas. Denn nur unabhängige Journalisten sind immer häufiger die einzige Gewähr, daß Propaganda und Wahrheit auseinanderzuhalten sind, Hilfsbereitschaft in warmen Wohnstuben entsteht und träge Politiker ihre machtpolitischen Spielchen ändern. Doch ihr Lohn für diese Arbeit ist immer öfter der Tod.

Chefredakteur Andreas Schmidt, in: TV-Today Nr. 3/1995, S.3

Niemand, der den Beruf des Krisenberichterstatters ausübt, wird ernsthaft abstreiten können, daß dabei auch ein gut Teil Risikofreude eine Rolle spielt. Der englische Schriftsteller Graham Greene, selbst Meister des literarischen Krisenjournalismus, hat einmal gesagt, die Furcht vor der Langeweile habe ihn auf die meist gefährlichen Schauplätze seiner brillanten Erzählungen getrieben. Dieses Leben in den »émotions fortes« den starken Empfindungen, das viele Kriegsberichterstatter an die Front treibt, kann sogar eine Art Rausch auslösen. Peter Arnett, den ich aus Vietnam kenne und sehr schätze, hat von dem Adrenalinstoß berichtet, den unmittelbare Gefahr bei ihm auslöst. »Auch ich habe die Erfahrung gemacht: Die unmittelbare Bedrohung des Lebens kann wie eine Droge wirken.

Natürlich ist es mit Einsatzbereitschaft, physischer Präsenz und Abenteuerlust nicht getan. Neben Nervenstärke und Neugier ist die Bereitschaft eines Kriegsberichterstatters entscheidend, sich mit dem Land zu befassen, aus dem er berichtet.  Genaue Kenntnisse über den fremden Kulturkreis und fundiertes Wissen über geschichtliche und politische Hintergründe des Konflikts sind dabei unerläßliches Arbeitswerkzeug.

In letzter Zeit frage ich mich allerdings, ob das im modernen TV-Geschäft überhaupt noch gefragt ist.  „An die Stelle einer gründlichen Berichterstattung mit Hintergrundinformationen und Analysen sind humanitäre Rührstücke getreten, eine detaillierte Ausschlachtung des Kriegshorrors.  Die Berichterstattung heute kommt offenbar nicht mehr ohne einen ungesunden Voyeurismus aus.

Das ist jedoch kein typisch deutsches Problem. Peter Arnett betont zu Recht, daß die amerikanische Publizistik sich an Fetzen der Wirklichkeit klammert, darüber jedoch Analysen und Hintergründe vernachlässigt. Das US-Modell hat längst auf die europäischen Medien abgefärbt. Eine pausenlose Nachrichtenschwemme geht einher mit einem stark verminderten Interesse für kausale Zusammenhänge.

Peter Scholl-Latour in einem Kommentar „Gefahr wird zur Droge“ über Schrecken und Faszination seines Berufes, TV-Today, Nr. 3/1995, S.30 f – Auszüge.

„Wir haben von vielem zuviel, viel zuviel, zu viele Bilder, die ich nicht brauche und nicht will. Ich brauche nicht live dabeizusein, wenn Jelzins Jungs das Weiße Haus stürmen und dabei ebenso wie der Kameramann Kopf und Kragen riskieren. Ich will an dem voyeuristischen Zwang dieser Liveschaltungen in Krisen- und Unglücksgebiete nicht länger teilnehmen, einem kollektiven Zwang, dem sich auch seriöse Journalisten wie Christiansen und Dreckmann kaum noch entziehen können. Es war den Fernsehmoderatoren fast selbst peinlich, dieses leibhaftige Kriegsschauspiel aus Moskau so pausenlos begleiten und kommentieren zu müssen.  Mein Eindruck ist: Je mehr wir uns selbst und die Wirklichkeit aus den Augen verlieren, desto mehr flüchten wir uns in aufregende Fernsehbilder, die uns zu bloßen Zuschauern machen, die unsere Lust am Zuschauen bloß ausbeuten. Wann wird der erste Fernsehsender, der erste Filmemacher, wann werden Frau Christiansen und Herr Dreckmann einmal sagen: Wir haben diese Bilder zwar gedreht oder gekauft, diese Bilder, die ihnen das Blut in den Adern gefrieren lassen, aber wir haben selbst die Nase voll davon. Wir zeigen sie nicht, weil es zuviel wird, weil es obszön wird ‚ weil es menschliches Maß verliert, weil die Grenze erreicht ist.‘

Rainer Komers, „Zurück nach Hamburg“ – Zum Tode des ARD Kameramanns Rory Peck in Moskau, in: Die Zeit Nr. 42/15. Okt. 1993, S.94 – Rainer Komers ist Filmemacher. Rory Peck wurde bei den Schießereien um das russische Fernsehzentrum Ostankino getötet.

Moskau (ap/rtr). Die russischen Behörden sollen auf Weisung von Präsident Boris Jelzin zusammen mit Medienfachleuten die Gründe für das in Tschetschenien verlorengegangene öffentliche Ansehen der Führung untersuchen. Das meldete die Moskauer Nachrichtenagentur Itar-Tass am Dienstag. In einem Bericht der Zeitung „Sewodnja“ (Heute) hieß es dazu, während die russischen Behörden den Zugang für Journalisten in das Kriegsgebiet mit bürokratischen Hemmnissen gepflastert hätten, hätten die tschetschenischen Kämpfer Journalisten nicht behindert. Dies sei einer der Gründe für den verlorenen „Informationskrieg“ in Tschetschenien.

Wengerow* bezeichnete es als wichtig, daß Betroffene und Kriegsteilnehmer in den Medien direkt zu Wort kommen. Meinungsbildungsarbeit sei nur glaubwürdig, wenn sie aus dem Konfliktgebiet und nicht über einen Umweg über Moskau erfolge. Der Aufbau einer ständigen, modern ausgerüsteten staatlichen Fernseh- und Rundfunkstation sei erforderlich, weil die Menschen Berichten aus erster Hand eher vertrauten als „Kommentaren aus zweiter Hand“.

*) Wengerow: Vorsitzender der Schiedsstelle für Medienkonflikte


Informationen über die Arbeitsbedingungen von Journalisten kann man sich durch eine Recherche auf den Internetseiten der Organisation „Reporter ohne Grenzen“ verschaffen. Die Pressemitteilungen und Rundbriefe beschäftigen sich immer wieder mit der Situation von Journalisten in Krisen- und Konfliktgebieten. Internetadresse von „Reporter ohne Grenzen e.V.“, der deutschen Sektion von „Reporters sans
Frontiéres“ Reporter ohne Grenzen (reporter-ohne-grenzen.de)

Das könnte dich auch interessieren …