Der Untertan (1951)

Inhalt

1951 verfilmte Wolfgang Staudte in der Produktion der DEFA den 1914 erschienen satirisch-sozialkritischen Roman „Der Untertan“ von Heinrich Mann, der das autoritär-nationalistische Klima des ausgehenden Wilhelminischen Kaiserreiches karikierte. Erzählt wird der Aufstieg des obrigkeitshörigen Diederich Heßling, dessen Lebensweg von Rücksichtslosigkeit und Opportunismus geprägt ist. Devot gegenüber der Macht, autoritär und herrschsüchtig gegenüber seinen Untergebenen, verkörpert Heßling den Typus des Untertanen, der nicht nur den Ersten Weltkrieg, sondern – nach Staudtes Lesart – auch den Nationalsozialismus überhaupt erst möglich gemacht hat


Filmansicht auf dem Medienserver Merlin


Regie: Wolfgang Staudte
Drehbuch: Wolfgang Staudte, Fritz Staudte (nach Heinrich Mann)
Dramaturgie: Hans Robert Bortfeldt
Kamera: Robert Baberske
Kamera-Assistenz: Günter Marczinkowsky
Schnitt: Johanna Rosinski
Musik: Horst Hanns Sieber
Ton: Erich Schmidt
Produktionsleitung: Willy Teichmann
Aufnahmeleitung: Fritz Brix, William Neugebauer
Produktion: Deutsche Film-AG (DEFA)
Drehzeit: März – Juni 1951
Uraufführung: 31.08.1951, Berlin, Babylon / Defa-Filmtheater Kastanienallee
Erstverleih: Progress Film-Verleih (Berlin/DDR), Europa-Filmverleih GmbH (Hamburg)
Länge: 109 Minuten
Darsteller:  
Werner Peters Diederich Heßling
Paul Esser Von Wulkow
Willy A. Kleinau Frau von Wulkow
Blandine Ebinger Direktor Tilgner
Erich Nadler Vater Heßling
Gertrud Bergmann Mutter Heßling
Carola Braunbock Emmi Heßling
Emmy Burg Magda Heßling
Renate Fischer Guste Daimchen
Friedrich Maurer Göpel
Friedel Nowack Frau Göpel 
Sabine Thalbach Agnes Göpel
Hannsgeorg Laubenthal Mahlmann 
Eduard von Winterstein Vater Bruck 
Raimund Schelcher Dr. Wolfgang Bruck
Paul Mederow Dr. Heuteuffel
Friedrich Richter Lauer
Richard Landeck Neumann
Fritz Staudte Kühlemann
Nr.
Inhalt
Länge
Zeit im Film

1

Vorspann.

2.08

0.00 – 2.08

2

Diederichs Kindheitserfahrungen: der strafende Vater, die grausigen Märchenerzählung der Mutter, Erlebnisse in der Schule.

2.32

2.08 – 4.40

3

Festumzug durch Diederichs Heimatstadt Netzig. Im Rathaussaal: Im Laufe der Zeiten werden glühende Lobeshymnen auf die deutschen Kaiser gehalten:

– Wilhelm I . (1871-1888)

– Friedrich III. (1888)

– Wilhelm II. (1888-1918)

2.14

4.40 – 6.54

4

Diederich als Student in Berlin. Zu Gast bei Familie Göpel macht er Bekanntschaft mit Göpels Tochter Agnes und dem Studenten Mahlmann. Agnes und Diederich fühlen sich zueinander hingezogen.

3.08

6.54 – 10.02

5

Als Diederich das Haus der Göpels verlässt, folgt Mahlmann ihm und überredet ihn zum Besuch einer Revue.

2.35

10.02 – 12.37

6

Diederich stattet der Familie Göpel einen zweiten Besuch ab. Mahlmann nimmt ihm den Blumenstrauß ab, den er für Agnes mitgebracht hat, und überreicht ihn an Diederichs Stelle. Abends Hausmusik. Diederich begleitet Agnes‘ Gesang auf dem Klavier. Mahlmann setzt ihn daraufhin unter Druck, nicht mit ihm in Konkurrenz um Agnes‘ Gunst zu treten. Diederich beugt sich ihm und zieht sich zurück.

3.38

12.37 – 16.05

7

Diederichs Schulfreund Hornung überredet ihn zur Teilnahme an einem Treffen der Studentenvereinigung „Neu Teutonia“. Diederich nimmt am gemeinschaftlichen Besäufnis teil und findet Gefallen daran.

3.13

16.05 – 19.18

8

Auf der Suche nach einem „Renommierschmiss“ bemüht Diederich sich, einen jungen, körperlich unterlegenen Mann in ein Streitgespräch zu verwickeln, um sich mit ihm zu duellieren. Von einem anderen herausgefordert, kommt es zum Duell, bei dem Diederich einen Schmiss auf der linken Wange erhält. Als er das Ereignis mit seinen Corps-Kameraden feiert, trifft Post von seiner Mutter ein, die ihn davon in Kenntnis setzt, dass sein Vater im Sterben liegt.

3.50

19.18 – 23.08

9

Trauerfeier für den Vater in Netzig. Herr Buck stattet Heßlings einen Kondolenzbesuch ab und ermahnt Diederich, immer Achtung vor seinen Mitmenschen zu haben.

1.32

23.08 – 24.40

10

Diederich leistet seinen Militärdienst ab, dessen körperliche Beschwernisse ihn veranlassen, sich beim alten Herren der „Neu Totania“, einem Medizinalrat, ein Attest zu beschaffen, das ihm die vorzeitige Beendigung des Militärdienstes ermöglicht. Diederich verlässt die Kaserne und …

3.30

24.20 – 27.50

11

… erwirbt eine Zigarre, die er vor den Korps-Brüdern als Abschiedsgeschenk seines Hauptmanns ausgibt. Zufällig kommt es zum Wiedersehen mit Agnes, die sich von Diederich in seine Wohnung einladen und verführen lässt.

3.53

27.50 – 31.43

12

Romantische Bootsfahrt von Diederich und Agnes. Sie schmieden Zukunftspläne, doch die Einigkeit ist von kurzer Dauer, wie die darauffolgende Szene zeigt: Herr Göpel sucht Diederich auf und berichtet von Agnes‘ Liebeskummer. Diederich streitet jede Verantwortung ab und zieht sich auf den Standpunkt zurück, keine Frau heiraten zu können, die „ihre Reinheit“ nicht mit in die Ehe bringe.

3.17

31.43 – 35.00

13

Vor der Rückkehr aus Berlin nach Netzig legt sich Diederich einen „Es ist erreicht“-Schnurrbart zu. Im Zug macht er die Bekanntschaft von Guste Daimchen.

3.24

35.00 – 38.24

14

Beim Empfang im Elternhaus erfährt Diederich von seinen Schwestern, dass Guste Millionärin ist. Anschließend hält er eine Ansprache an die Arbeiter seiner Papierfabrik, die er zur Leistungssteigerung anhält und vor einem Engagement in der Sozialdemokratie warnt. Als eine junge Frau bei der Arbeit vor Erschöpfung zusammenbricht und von ihrem Freund in einen ruhigen Winkel der Fabrik gebracht wird, verdächtigt Diederich das Pärchen „unzüchtiger Handlungen“. Bei der verbalen Auseinandersetzung tritt ihm der sozialdemokratische Vorarbeiter Napoleon Fischer entgegen.

4.38

38.24 – 43.02

15

Diederich besucht Herrn Buck, der ankündigt, Diederichs Kandidatur für den Stadtrat zu unterstützen, und ihn vor dem Regierungspräsidenten Wulkow warnt. Gemeinsam mit Pastor Zillich und Assessor Menecke sucht Diederich den Ratskeller auf. Draußen kommt es zu einem Dialog zwischen dem Wachtposten, der vor dem Amtsgebäude des Regierungspräsidenten steht, und einer Gruppe unzufriedener Arbeiter. Unter ihnen befindet sich auch das Pärchen, das Diederich fristlos entlassen hat.

3.03

43.02 – 46.05

16

Im Ratskeller hört die Runde um Diederich einen Schuss. Auf dem Marktplatz schart sich eine Menschenmenge um den Arbeiter, den der Wachtposten erschossen hat. Es kommt zur verbalen Auseinandersetzung zwischen Diederich und Spießgesellen auf der einen Seite und dem Fabrikanten Lauer und dessen bürgerlichen Bekannten auf der anderen Seite. Wulkow lässt den Platz durch die Polizei räumen. Im Ratskeller setzen die Konfliktparteien ihre Auseinandersetzung fort. Als Lauer die deutschen Fürstenhäuser einschließlich der Hohenzollern als „verjudet“ bezeichnet, triumphiert Diederich, der glaubt, Lauer nun juristisch belangen zu können.

7.05

46.05 – 53.10

17

Frühstückstafel der Familie Heßling. Assessor Menecke kommt zu Besuch und teilt Diederich seine Absicht mit, gegen Lauer wegen dessen Aussagen zu prozessieren. Er übt auf Diederich Druck aus, vor Gericht auszusagen. Der Prozess beginnt und zieht soziale Ächtung für Diederich nach sich, der auch von seinen ehemaligen Kumpanen als Denunziant geächtet wird. Im Ratskeller begegnet Diederich dem jungen Wolfgang Buck, der die Verteidigung Lauers übernehmen wird und Diederich seine Verachtung zeigt.

5.07

53.10 – 58.17

18

Diederich kann sich vor Gericht zunächst nicht zu einer den Angeklagten belastenden Aussage durchringen. Nachdem seine Befragung beendet ist, kommt Wulkow hinzu. Pastor Zillich, Major Kunze und Lauers Freund Dr. Heuteuffel machen ihre Aussagen. Nachdem er von Wulkow nachdrücklich dazu ermuntert wurde, hält Diederich vor dem Gericht eine flammende Rede, in der er Lauer der Majestätsbeleidigung bezichtigt und rücksichtsloses Vorgehen gegen Staatsfeinde fordert. Im Hinausgehen lobt der zufriedene Wulkow Diederichs „brauchbare Gesinnung“.

7.32

58.17 – 65.49

19

Empfang bei Wulkows. Diederichs Schwester Emmi lernt einen preußischen Leutnant kennen. Diederich folgt Wulkows Dogge in dessen Arbeitszimmer und erhält schließlich eine Audienz beim Regierungspräsidenten, der sich als Bedingung für die Unterstützung von Diederichs politischer Karriere die Errichtung eines kaiserlichen Standbildes in Netzig ausbedingt.

5.44

65.49 – 71.33

20

Guste Daimchen beobachtet Wolfgang Bruck, der seine juristische Laufbahn nach dem verlorenen Prozess aufgegeben hat, bei einer Theaterprobe zu „Die Jungfrau von Orleans“ und löst aus Entsetzen darüber ihre Verlobung mit ihm.

2.17

71.33 – 73.50

21

Diederich verhandelt mit Napoleon Fischer um die Unterstützung der Sozialdemokraten bei seiner Kandidatur für den Stadtrat. Emmi reitet derweil gemeinsam mit dem Offizier aus.

1.54

73.50 – 75.44

22

Diederich empfängt Major Kunze. Es folgt seine Aufnahme in Netzigs Kriegerverein.

1.35

75.44 – 77.19

23

Auf dem Heimweg begegnet Diederich Guste Daimchen, zeigt ihr nach Feierabend die Fabrikräume und verbringt mit ihr eine Liebesnacht an der Stelle, an der er das vermeintlich unzüchtige Arbeiterpärchen entdeckte (Sequenz 13). Emmi weilt bei dem Leutnant, mit dem sie ein Verhältnis eingegangen ist.

4.12

77.19 – 81.31

24

Heirat von Diederich und Guste: Major Kunze hält die Festrede. Nach einem Hurra auf den Kaiser führt Diederich den Gästen sein neues, mit Sprüchen deutscher Persönlichkeiten bedrucktes Toilettenpapier Marke „Weltmacht“ vor.

3.14

81.31 – 84.45

25

Hochzeitsnacht von Diederich und Guste in einem Züricher Hotel. Am Morgen erfährt Diederich aus der Zeitung, dass Wilhelm II. auf einem Staatsbesuch in Rom weilt, und bricht unverzüglich auf, um den Kaiser zu sehen.

4.08

84.45 – 88.53

26

„Begegnung“ Diederichs mit dem Kaiser, dessen Kutsche Diederich Hurra-schreiend nachläuft. Die zurückgelassene Gustl schreibt Ansichtskarten im Bahnhofscafe, während Diederich Wache vor dem Hotel des Kaisers hält. Er ertappt einen vermeintlichen Attentäter, der sich als harmloser Kunstmaler herausstellt, und erhält dafür, nach Hause zurückgekehrt, eine Gardinenpredigt durch Wulkow.

3.31

88.53 – 92.24

27

Diederich besucht den Amtsgerichtsrat Kühlemann am Krankenbett.

Vor dem Stadtrat gibt er den Bau des kaiserlichen Standbildes als Kühlemanns letzten Wunsch aus.

Diederichs Schwester Magda teilt der verzweifelten Emmi mit, dass ihr Leutnant sich hat freiwillig versetzen lassen und in Kürze die Stadt verlassen wird.

Die Mehrheit des Stadtrates stimmt für die Errichtung des Denkmals.

Zuhause muss Diederich von der weinenden Mutter hören, dass Emmi versucht habe, sich das Leben zu nehmen.

3.26

92.24 – 95.50

28

Diederich erfährt von Emmi den Grund ihrer Verzweiflung. Er sucht das Gespräch mit dem Leutnant, der jede Verantwortung von sich weist, und findet sich somit in der gleichen Situation wieder wie Agnes‘ Vater in Sequenz 11.

3.27

95.50 – 99.17

29

Einweihung des Kaiser-Standbildes. Während Diederichs Ansprache bricht ein Wolkenbruch los. Er setzt seine chauvinistische Rede fort, bis der Sturm die Menge auseinander treibt.

Schlussbild: Das unversehrte Denkmal inmitten des zerstörten Netzig nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges.

4.38

99.17 – 

Verbote passen gut zum Untertan. Es ist als ob sie in seiner Nähe wachsen wie realistisches Unkraut auf der nahrhaften Satire.
Abendpost 24.03.1957, zitiert nach: Michael Grisko: DEFA-Geschichte in Filmen. 

Staudtes Filme im unmittelbaren Nachkriegsdeutschland

Wenn man bedenkt, dass Staudte mit seinen Filmen, als Reflex oder Reflektion, Einfluss auf die Wirklichkeit hat nehmen wollen und registriert, wie die Wirklichkeit – in Reziprozität – auf seine Filme reagiert hat, so stehen, analog dazu die sich  wiederholenden Zensurgeschichten, die sowohl den Roman als auch seine Verfilmung  begleiten, in einer bemerkenswerten Relation dazu. (…)

weiter: Uschi Schmidt-Lenhard & Hans Giessen: Der Untertan – Reflex und Reaktion. Staudtes Filme im unmittelbaren Nachkriegsdeutschland.  gfl-journal, No. 3/2014, S. 56-60

Eintrag bei WestOst Filmzensur

Bereits nach der Uraufführung des Films regte sich in der Bundesrepublik Kritik, die sich vor allem auf das Ende des Films bezog. Staudte hatte – anders als im Roman – einen metaphorischen Bezug zur Gegenwart hergestellt. Der Film sei geeignet, „in der westlichen Welt Stimmung gegen Deutschland und damit gegen die Aufrüstung der Bundesrepublik zu machen“, schrieb beispielsweise „Der Spiegel“. Das Bundesinnenministerium untersagte daher im August 1951 die Vorführung des Films bei den Heilderberger Kunstfilmtagen. Das offizielle Verbot wurde mehrere Jahre aufrecht erhalten, gleichwohl kam der Film wiederholt in der Bundesrepublik zur Aufführung.

Dem Interministeriellen Ausschuss lag der Film ab 1954 mehrfach zur Begutachtung vor. Am 29.11.1954 wurde er zunächst aus Zeitgründen nicht gesichtet.

Am 09.12.1955 wurde der Film für die Vorführung in studentischen Filmclubs freigegeben.

Für die gewerbliche Nutzung wurde der Film nur in einer geschnittenen Fassung zugelassen. Zudem wurde mit einer Einblendung daraufhin gewiesen, dass die Handlung des Films einen „Einzelfall“ schildert.

Filmprüfung: Der Untertan

Vor dem Hintergrund des Ost-West-Konfliktes überrascht es nicht, dass Der Untertan in DDR und BRD (wo er mit sechsjähriger Verzögerung uraufgeführt wurde) unterschiedliche und zum Teil gegensätzliche Reaktionen auslöste. 

 

Die ostdeutsche Presse bedachte die Produktion mit einhelligem Lob. Für die Berliner Zeitung rezensierte der bekannte Theaterkritiker, Journalist und spätere Lessing-Preisträger Herbert Ihering den Untertan, zog Vergleiche zu Eisenstein und Pudowkin und kam zu dem Schluss, der Filme setze Maßstäbe, die für die Zukunft richtungsweisend sein müssten.

Wieder hat Heinrich Mann dem deutschen Film einen neuen Auftrieb gegeben. Wieder hat eines seiner Werke bewiesen, daß der Film kühne, inhaltsreiche und typische Stoffe braucht, um mit der künstlerischen Erneuerung auch die Publikumswirksamkeit zu verstärken. Als aus ‚Professor Unrat‘ ‚Der blaue Engel‘ wurde, konnte sich der Film noch an der Story von der ‚Künstlerin Fröhlich‘ halten und damit auf das beliebte ‚filmeigene‘ Gebiet zurückfinden. Dieser mit Emil Jannings und Marlene Dietrich schauspielerisch üppig besetzte und hervorragend gespielte Film verleugnete zwar nicht die Kritik am selbstgerechten Schultyrannen Professor Rat, den seine Schuler Unrat nannten, aber er glaubte doch einer populären Umdeutung nicht entraten zu können, indem er einen Heinrich-Mann-fremden Bajazzoschluß anhängte. ‚Der Untertan‘ verzichtet durchaus auf solche Erweichungen und gibt klar und unerbittlich den satirischen Angriff auf die Untertanenseligkeit der wilhelminischen Zeit.

[…] Der Roman verzichtet im Grunde auf das erzählende Moment, also auf die an sich für den Film notwendige Fabel. Er drängt das Leben Diederich Heßlings, des Fabrikantensohnes aus der kleinen Stadt Netzig, immer wieder in prägnante, satirisch zugespitzte Situationen, deren epischen Zusammenhang die Zeit selbst liefert. Und welchen Zusammenhang! Dem plüschenen Kitsch der Bürgerstube und ihrer klavierseligen Sentimentalität entspricht die sadistische Prügelerziehung. Der Geprügelte wird später selbst prügeln. Kneipe, Mensuren und Kasernenhof sind die nächsten Stationen, bis Diederich Heßling nach dem Tode seines Vaters von seiner Fabrik Besitz ergreift und nun der Untertan die Arbeiter als Untertanen behandelt. So geht es weiter durch alle Stationen der Feindseligkeit und des Hochmuts bis zu jenen Szenen der Knechtseligkeit, als Diederich Heßling beim Besuch Wilhelms des Zweiten in Rom den Absperrungsring durchbricht und begeistert neben dem Wagen des Kaisers herläuft: Auge in Auge sich gegenüber der Kaiser und sein Untertan! Dieser DEFA-Film kommt im rechten Augenblick; politisch und künstlerisch. Denn in welchem deutschen Roman wurde schärfer jener Untertanentyp entlarvt, der sich immer wieder für Militär und Krieg mißbrauchen läßt. Der Film führt die Entlarvung optisch weiter. Ein Gesicht, ja ein Nacken, ein Auge, ein Mund können eine ganze Menschengruppe, einen Stand, eine Klasse entlarven. Die Großeinstellungen, der Wechsel der Einzel- und Gesamtaufnahmen, von den genialen sowjetischen Regisseuren Eisenstein und Pudwokin als bild-dramaturgisches Mittel in den Film eingeführt, sind von Staudte und seinem Kameramann Baberske hier selbständig und in richtiger, sinndienender Anordnung verwendet. Dadurch erst werden die vielen satirischen Situationen und Simplizissimus-Karikaturen möglich. […] Hier entsprechen sich Bild- und Wortregie, und der künstlerische Erfolg ist auch der politische Erfolg.

Wie schwierig hatte es dabei etwa Werner Peters, der den Untertan von einer Spitzensituation in die andere führen muß. Er macht das ausgezeichnet. Er war der richtige Typ für die Rolle. Aber er verließ sich nicht darauf. Er gestaltete, er variierte. Er hat wie auf der Bühne auch im Film große Möglichkeiten. Charakteristisch gegen ihn abgesetzt ähnliche Untertanentypen: Hans-Georg Laubenthal als Mahlmann, Axel Triebel als Major Kunze, Georg August Koch als Medizinalrat. Wieder eine andere Schicht vertreten meisterhaft Ernst Legal als Pastor Zillich, Paul Esser als Regierungspräsident von Wulkow. Dagegen die Anständigen: Eduard von Winterstein als alter Achtundvierziger, Raimund Schelcher als sein Sohn, Friedrich Maurer als Fabrikant Göpel und Fritz Staudte als Amtsgerichtsrat Kühlemann. Das ist Regie, die Rollen nicht nur im Typ richtig zu besetzen, sondern auch im Fluß zu halten und vor Erstarrung zu bewahren. Auch das ist geglückt, trotz der zugespitzten Situationen, besonders gut in den Frauenrollen: Sabine Thalbach als kleinbürgerliche Agnes Göpel, Blandine Ebinger als Frau von Wulkow, Carola Braunbock als Schwester Heßlings, Renate Fischer als Guste Daimchen. Nur zwei Unklarheiten bleiben übrig: Napoleon Fischer, der schwankende korrupte Arbeiter, ist für den Zuschauer nicht genügend akzentuiert, und der Vertreter einer jungen protestierenden Arbeitergeneration bleibt zu sehr im Hintergrund. Heinrich Mann hat zum zweiten Male dem deutschen Film einen Anstoß gegeben, und diesmal entscheidend. Wir könnten und müßten noch mehr Schauspieler nennen, die alle gut waren. Warum? Weil ein Dichter wie Heinrich Mann Ansprüche stellte, ein Regisseur und Drehbuchverfasser wie Wolfgang Staudte diese Ansprüche nach der gesellschaftskritischen und künstlerischen Seite mit seinem Kameramann richtig verstand, an die Schauspieler weitergab und diese wiederum durch Drehbuch und Regie in ihrem besten Teil bestätigt wurden. ‚Der Untertan‘ hat Maßstäbe gesetzt. Sie müssen angewendet werden.

Herbert Ihering: Der Untertan – Berliner Zeitung, 4.9.1951


Interessant ist die Gegenüberstellung von drei kurzen Notizen aus verschiedenen Ausgaben des  Spiegel aus dem Jahr 1951, offenbaren die darin zum Ausdruck kommenden durchaus widersprüchlichen Formulierungen das politische Klima zu Beginn der 50er Jahre.“

Im Spiegel-Beitrag aus dem August1951 wird Staudte als „politischer Kindskopf2 und „verwirrter Pazifist“ bezeichnet:

„Man läßt einen politischen Kindskopf wie den verwirrten Pazifisten Staudte einen scheinbar unpolitischen Film drehen, der aber geeignet ist, in der westlichen Welt Stimmung gegen Deutschland und damit die Aufrüstung der Bundesrepublik zu machen. Der Film lässt vollständig außer acht, dass es in der ganzen preußischen Geschichte keinen Untertan gegeben hat, der so unfrei gewesen wäre wie die volkseigenen Menschen unter Stalins Gesinnungspolizei es samt und sonders sind. Andererseits enthält Staudtes „Untertan“ Szenen, die ein westdeutscher Untertan Kanonen-Lehrs, der demnächst sogar noch Zeitungen verbieten lassen will, mit Ergötzen ansehen kann.“ (Der Spiegel 35/1951 – 28.08.1951)

Im Oktober bewältigt „der politische Kindskopf“ dann allerdings seine Aufgabe „ohne übliche KP-Ausblicke“.

Heinrich Manns beißende Satire auf dummen Prunk und prunkende Dummheit des Kaiser-Deutschlands wurde von Wolfgang Staudte ohne übliche KP-Ausblicke als Filmsatire bewältigt. Der Zynismus Manns blieb ungeschmälert, nicht mißbraucht. Der Film läuft nur in der Ostzone. (DEFA.)

Der Spiegel 43 – 23.10.1951

Und im Dezember wird hervorgehoben, dass das im Film dargestellte aus einer „längst vergangenen Zeit“ stammt.

IN EINE ZEIT, DIE LÄNGST VERGANGEN IST, führt der Wolfgang-Staudte-Film der ostzonalen DEFA „Der Untertan“, getreu nach Heinrich Manns bitterböser Satire auf das 2. Kaiserreich gedreht. Der Film wird im Ausland den ohnehin weitverbreiteten Irrtum verstärken, daß ein direkter Weg von der wilhelminischen Bartbinde zu den Gaskammern Hitlers führe. In der Bundesrepublik dagegen ist die Karikatur als solche zu erkennen, so daß ein Verbot des Films lediglich den Eindruck aufkommen lassen könnte, als fühlten sich Repräsentanten aus Behörde und Justiz getroffen.  ⇒ Original-Seite (pdf)
Der Spiegel 1951 – 12.12.1951

Kritiken aus der zweiten Hälfte der 50er Jahre

In der bundesdeutschen Presse der zweiten Hälfte der 50er Jahre fand zunächst die Tatsache Beachtung, dass der Film dem dortigen Publikum sechs Jahre lang vorenthalten wurde: Verschiedene Presseerzeugnisse, u.a. Der Spiegel (K 2) und die Hannoversche Presse (K 5) gingen auf die Hintergründe ein. Der Spiegel wies polemisch auf das „Abstammungsproblem“ der DEFA-Produktion hin und zog die Parallele zur „‚nicht-arische[n] Großmütter‘ unlängst vergangener Zeiten“ (K 2). Obwohl die satirisch überspitzten politischen Aussagen des Films in der bundesdeutschen Presse mitunter auf Ablehnung stießen, wurde seine künstlerische Qualität allgemein anerkannt (K 3K 4K 5). Karl-Friedrich Scherer monierte im Film-Echo einige wenige Übertreibungen, bezeichnete das Gesamtwerk jedoch als „meisterhaft“ und den Besuch des Films als Gewinn für jeden Zuschauer (K 3). Überschwängliches Lob wurde dem Untertan in der Rezension der Hannoverschen Presse zuteil: Der Film sei „Sprengstoff und ein Katalysator, der die Geister scheidet“ (K 4). In einem Hintergrundbericht über den „Zonenritt des Untertan“ wies A. F. Teschemacher in der Hannoverschen Presse darauf hin, dass Staudtes Film zum Zeitpunkt seiner westdeutschen Kinoauswertung in der DDR bereits nicht mehr gezeigt würde. (K 5).

Der Untertan (Deutschland). Die von Regisseur Wolfgang Staudte 1951 bei der ostdeutschen Defa inszenierte Filmversion des berühmten Heinrich-Mann-Romans die in der Bundesrepublik bisher nicht öffentlich gezeigt werden konnte (SPIEGEL 47/1956), erweist sich als eine der besten optischen Transpositionen, die je einem epischen Werk widerfahren sind. ⇒ Originalseite (pdf)
Der Spiegel 9/1957 – 27.02.1957

In der vorigen Woche traf das Schicksal in Gestalt von vier ehrenwerten Herren aus der Bonner Ministerialbürokratie, in summa genannt der „interministerielle Filmausschuß“, eine positive Vorentscheidung über die Zulassung des Wolfgang-Staudte-Films „Der Untertan“ – nach Heinrich Manns gleichnamigem Roman – in der Bundesrepublik. Seit fünf Jahren ist dieser deutsche Film mit außergewöhnlich großem Erfolg in mehreren europäischen Ländern, noch niemals jedoch offiziell in der Bundesrepublik gezeigt worden, obwohl sich der Geschäftsführer der Berliner „Ideal Film G.m.b.H.“, der Filmkaufmann Erich Mehl, seit drei Jahren darum bemüht. Der Hinderungsgrund ist ein Abstammungsproblem ähnlicher Art wie die „nicht-arische Großmutter“ unlängst vergangener Zeiten. Staudtes „Untertan“-Film stammt nämlich nicht aus der Bundesrepublik, sondern aus den „volkseigenen“ Ateliers der ostzonalen Defa.

Dieser Umstand wurde bis vor wenigen Tagen offenbar als ein schwerwiegender Makel eingeschätzt. Am Montag vergangener Woche passierte „Der Untertan“ jedoch endlich die für die Einfuhr sowjetzonaler Filmprodukte in erster Linie entscheidende Bonner Instanz, jenen „interministeriellen Filmausschuß“, der gebildet wird aus Vertretern des Innenministeriums, des Auswärtigen Amtes, des Ministeriums für Gesamtdeutsche Fragen und des Wirtschaftsministeriums. Jetzt muß nur noch die Wiesbadener Freiwillige Film-Selbstkontrolle zustimmen […].

Mit der Bonner Ausschuß-Entscheidung ist Mehl, der den westdeutschen Vertriebsvertrag für den „Untertan“-Film mit der Defa abgeschlossen hat, seine Sorgen allerdings noch nicht los. Er muß jetzt das Bäumchen-wechsle-dich-Spiel, genannt innerdeutscher Kulturaustausch, noch einmal in umgekehrter Richtung betreiben und – gemäß den Gepflogenheiten des Ost-West-Filmgeschäfts – versuchen, mehrere Filmstreifen mit bundesdeutschem Geburtsschein für die Aufführung in der Sowjetzone bei den dortigen Instanzen freizubekommen*. Dieser Versuch ist nun vollends ein schier entmutigendes Nadelöhr-Problem. Wie die Erfahrung lehrt, passieren bestenfalls zwei von hundert westdeutschen Filmen den Engpaß sowjetzonaler Kontrollstellen, die angestrengt darüber wachen, daß nicht etwa ein politisch wilder West-Film die Ordnung in der sogenannten Deutschen Demokratischen Republik stört.

Eine ebenso intensive Wachsamkeit, allerdings mit umgekehrten Vorzeichen, legte der Bonner „interministerielle Filmausschuß“ an den Tag. Dieser Ausschuß, dessen gesetzliches Fundament bisher noch keiner Nachprüfung standzuhalten hatte, wurde 1954 auf Betreiben des Amtes für Verfassungsschutz und des Bonner Innenministeriums gegründet, nachdem der Filmaustausch mit der Sowjetzone in Gang gekommen war.

Als einer der ersten klopfte 1954 der Filmkaufmann Mehl mit den „Untertan“-Filmrollen im Handgepäck bei dem damals neueingerichteten Filmausschuß an. Die Ministerialbeamten fanden an dem Defa-Produkt, das bei den Filmfestivals in Cannes und Venedig erfolgreich abgeschnitten und den schwedischen „Kritikerpreis für den besten deutschen Nachkriegsfilm“ sowie einen finnischen Filmpreis erhalten hatte, kein Gefallen. Eine Begründung für ihren ablehnenden Bescheid gaben die Film-Zensoren damals ebensowenig wie nach einer zweiten Vorführung des inzwischen für Bonn etwas präparierten Streifens. Durch die verschlossenen Türen des „interministeriellen Filmausschusses“ drangen nur Andeutungen. So sollen sich die Bonner Filmprüfer an folgender Dialogstelle gestoßen haben: „1848 war ich zum Tode verurteilt, und heute sollen wir uns schon wieder vom Kommiß-Stiefel treten lassen.“ Mit Mißfallen mögen die Ministerialbeamten auch festgestellt haben, daß sich die sozialdemokratischen Arbeiter in der Papierfabrik Diederich Heßlings, des „Untertan“-Titelhelden, untereinander als „Genossen“ anreden. Angeblich waren die Herren des Ausschusses der Ansicht, der „Untertan“ -Film enthalte ganz allgemein zuviel Parallelen zur Gegenwart. Filmkaufmann Mehl erfuhr von Argumenten dieser Art nur inoffiziell. Nachdem der „Untertan“-Film zum zweitenmal abgelehnt worden war, beschloß er, die Meinung der westdeutschen Presse zu Wolfgang Staudtes Heinrich-Mann-Verfilmung einzuholen. Er beschaffte sich eine einmalige Aufführungserlaubnis für Westberlin und arrangierte eine Pressevorführung.

Das Urteil fiel überraschend einstimmig aus. Der Westberliner „Telegraf“ veröffentlichte ein „Plädoyer für den Untertan“, und der „Kurier“ stellte fest, „daß es sich um einen avantgardistischen Film handelt, und nicht einzusehen ist, warum dieses Werk, das ein unheilvolles Gebrechen unserer Zeit, den Untertanengeist, karikiert, nicht auch im Westen gezeigt werden könnte“.

Sogar der über allen Verdacht der Sowjet-Fraternisierung erhabene Sender Rias ließ sich als Fürsprecher vernehmen. Rias fand es „unerklärlich“, daß die Aufführungserlaubnis für Westdeutschland verweigert werde, „denn hier liegt einer der klarsten und saubersten Filme vor, der einen Großteil der westdeutschen Filmhersteller in einen Gewissenskonflikt mit ihrem eigenen Filmgeschmack bringen müßte“. Ausgerüstet mit derart günstigen Referenzen führte Filmkaufmann Mehl, der in das Geschäft mit dem „Untertan“ schon einiges Geld investiert hatte, den Film in der vorigen Woche zum drittenmal in Bonn vor.

Mehl hatte den Zeitpunkt der Wiedervorlage diesmal klug gewählt. Bisher konnten östliche Filme schon irgendeiner politisch unfreundlichen Tendenz wegen vom Ausschuß verworfen werden. Seit neuestem aber kann der Ausschuß nur dann noch ablehnen, wenn ein Film nachweislich gegen den Paragraphen 93 des Strafgesetzbuches („Herstellung verfassungsverräterischer Publikationen“) verstößt. „Der Untertan“ wurde als erster Film unter diesem Gesichtspunkt geprüft und notgedrungen freigegeben.

[…] Innenministerium und Amt für Verfassungsschutz versuchen nun, ihren Einfluß auf die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft in Wiesbaden zu verlagern. Schon in der kommenden Woche wird sich der Kulturreferent des Bonner Innenministeriums der Oberregierungsrat von Plotho, mit den Herren der Wiesbadener Filmprüfstelle treffen.

* Die für die Bundesrepublik scheinbar günstigere, aber nicht genau festgelegte Tauschrelation ergibt sich aus der ungleichen Größe der beiden Einspielgebiete.

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Für die kritische Würdigung dieses Films bedarf es trotz der innigen Verflechtung von Inhalt und filmischer Gestaltung einer Trennung dieser beiden Faktoren, wenn man zu einem ehrlichen und gerechten Urteil kommen will.

Der Inhalt, durch die aggressive Romanvorlage Heinrich Manns weitgehend fixiert, erzählt die tragikomische Geschichte eines Mannes namens Dietrich Hessling [Diederich Heßling; Anmerkung FuG], der es in der wilhelminischen Epoche zu etwas bringen will. Durch Erziehung und Umwelt dazu getrieben, strebt er dem Leitbild des ‚idealen Untertanen‘ nach und hat dann Erfolg, als er erkennt, daß ein Leben nach dem verbogenen und unehrlichen ‚Moralkodex‘ seiner Zeit den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aufstieg garantiert.

Wahrhaftig eine großartige und – leider – auch heute noch aktuelle Konzeption, die freilich durch die Herkunft des Films ihre ganz besonderen Akzente erhält. Denn dieser Film will gar nicht objektiv sein. Er ist durch und durch subjektiv und schießt gegen das Bürgertum oder besser gesagt gegen die Bourgeoisie Breitseite auf Breitseite ab. Er trifft dabei die charakterliche Korruption in jeder Gestalt – nur nicht in der Gestalt des Arbeiters. Die wenigen Arbeiter in diesem Film sind geplagte, mißhandelte Geschöpfe. Schon der Werkmeister – ein Sozi – bekommt eins ausgewischt […]. Scharf gezeichnet, manchmal sogar bis zur Karikatur überzeichnet, heben sich die typischen Figuren der kaiserlichen Ära vor dem Hintergrund aus Plüsch, Nippes und Marschmusik ab: der Offizier, der Student, der Staatsbeamte, der Geistliche, der Unternehmer. Der deutsche ‚Herrenmensch‘, in der Gestalt des Kaisers symbolisiert, zeigt sich in allen Variationen und klagt sich durch seinen Despotismus und seine Unterwürfigkeit, durch seine Großsprecherei und durch seine innere Hohlheit in jeder Szene des Filmes selber an. Gewisse Parallelen zur Gegenwart sind nicht zu verkennen und manch ein Filmbesucher wird sich in seinen ‚heiligsten Empfindungen‘ getroffen fühlen. Aber diese heilsame Aggression wird durchleuchtet von einer tragischen Ironie, von der sich die sowjetzonalen Herren nicht minder kritisiert fühlen sollten.

Die Gestaltung dieses schwierigen Stoffes durch Wolfgang Staudte muß meisterlich genannt werden. […] Wo die gepfefferte Satire oder die pointierte Persiflage der Komik bedarf, da wird sie zwerchfellerschütternd eingesetzt. Natürlich ist das alles nicht ohne Fehl: mancher filmischer Speerwurf ließ Staudte den eigenen Kreis übertreten und da und dort (Rom-Szenen!) ist ein unnötige Länge nicht zu übersehen. Aber was bedeutet das alles gegenüber der Gesamtleistung, die, durch großartiges schauspielerisches Können unterstützt, in der Handlungsführung, in Bild, in der Kamera-Einstellung, in Schnitt und Blende wahre Meisterschaft spüren läßt. Und wie reagiert das bundesdeutsche Publikum auf diesen Film? Es lacht. Es unterhält sich großartig. Es quittiert das Hohngelächter des Films mit dem Wiehern der Schadenfreude. […] In wirtschaftswunderlicher Zufriedenheit lacht es sogar dort, wo es betroffen und getroffen schweigen müßte. Oder ist dies nur der äußere Schein? Läuft nicht doch ein eiskaltes Gruseln durch die Reihen, das man mit Lachen am besten tötet? Eines scheint mir festzustehen: diesen Film sieht jeder mit Gewinn! Die einen finden das erhoffte Amüsement, die anderen das erhoffte Ärgernis, die dritten eine Aufmunterung ihrer eingeschlafenen Nachdenklichkeit.

Karl Friedrich-Scherer: Der Untertan. Film-Echo o.J., S. 198-199

 

Der ‚Untertan‘ ist da. Nach gut fünf Jahren wurde am Wochenende in München der 1950 gedrehte Wolfgang-Staudte-Film in Westdeutschland zum ersten Male öffentlich gezeigt. Film und Buch, das Heinrich Mann den ‚Roman des bürgerlichen Menschen unter der Regierung Wilhelm II.‘ nannte, haben beide etwa die gleiche Zeit gebraucht, bis diese ätzende und kritische Attacke auf den idealistischen Hang zur Subalternität allen Deutschen als satirischer Zerrspiegel zur Verfügung stand. Heinrich Mann, der einzelne Kapitel seines Romans bereits 1911 im ‚Simplicissimus‘ veröffentlichte, beendete den Roman gerade so rechtzeitig, daß die Leser der ‚Frankfurter Zeitung‘ ihn im Frühsommer 1914 zu sehen bekamen und seinen Schluß zusammen mit dem Ausbruch des ersten Weltkriegs erlebten. Als Buch kam es im Dezember 1918 heraus und lief um die Welt, davon berichtend, daß Deutschland nicht nur aus untertänigen und großmannsüchtigen Menschen bestand. Dafür wurde das Buch 1933 als eines der ersten verbrannt und verboten.

Wolfgang Staudte griff 1950, als bei der DEFA noch ein frischer Wind wehte, das Thema auf, schrieb mit seinem Vater das Drehbuch und beendete 1951 als Regisseur einen vollblütigen Film, der die Treue dem Buch und dem Film gegenüber so beispielhaft hielt, wie in den langen Jahren danach kein zweiter. Dafür dauerte es dann auch bis heute, ehe in Bonn ‚der interministerielle Filmausschuß‘ seinen Widerstand aufgab; dies etwa zur gleichen Zeit, da auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs die Kopien in den Archiven und Arsenalen anfingen zu schimmeln.

Satire und Zeitkritik und -deutung haben es in Deutschland nicht leicht. Und wenn jemals nach ‚Im Westen nichts Neues‘ die Leidenschaften im Für und Wider sich erhitzen werden: hier im ‚Untertan‘ ist Sprengstoff und ein Katalysator, der die Geister scheidet.

Wie Heinrich Mann hält sich Staudte klar und kompromißlos an die Situation unter der Regentschaft ‚Wilhelms des Großen‘ […]. Den Originaltext […] benutzend, stellt er das Kind Dietrich Heßling [Diederich Heßling; Anmerkung FuG] und seien Umgebung sofort als Groteske vor: die Kinder in der Schule bewegen sich im Eiltempo wie aufgezogene Marionetten, die märchenerzählende Mutter wird bei verschleierter Linse mit einem Wagen vor der Kamera gezogen, und die Lehrer wirken in bärtiger Autorität wie gräßliche, über dem Menschen stehende Götzen. Und wenn es dann weiter geht, wenn wir den Weg des jungen Hessling in Berliner Plüsch und in der „Neuteutonia“ erleben, in der Kneipe, auf dem Paukboden und später in [i.O.] heimatlichen Kleinstädtchen, in der Fabrik und vor Gericht: der große Atem, mit dem der Film begann, erlischt nicht. Im Gegenteil: von Szene zu Szene scheint sich zu steigern, was man kaum für möglich gehalten hätte.

Und selbst wer dem Thema gegenüber – es werden ‚heiligste Gefühle‘ am laufenden Filmband verletzt! – Reserven hat, wem Kommis immer noch die Schule der Nation, Burschentum die Schule der Elite und Buckeln nach oben und Treten nach unten der sicherste Weg nach oben ist –, wer also gewisse Reserven hat oder gar Empörung empfindet, wird trotzdem nicht an der Feststellung vorbeikommen, daß wir hier den Modefall eines konsequenten Films vor uns haben. Staudte hat (hier ist der Wort ‚meisterhaft‘ in seiner ursprünglichen Bedeutung erlaubt) meisterhaft Stil und Tendenz des Romans in die Mittel des Films gegossen. Er ist echt in jeder Phase, in der Karikatur und in der Typisierung, in der Andeutung des Speziellen durch hart zupackende Ueberhöhung und in der Lächerlichmachung falscher Ideale und Symbole. […]

Oben buckeln – unten treten. Westdeutsche Premiere des Staudte-Films „Der Untertan“.  Hannoversche Presse, 08.03.1957

Nach der Münchener Premiere des Films ‚Der Untertan‘ wurde Wolfgang Staudte gefragt, ob sein 1950 bei der DEFA gedrehter Film in der Sowjetzone noch gezeigt würde. Staudte, der eine Fangfrage zu vermuten schien, antwortete nach kurzem Ueberlegen: ‚Natürlich ja, wie eben alte Filme noch laufen.‘ Er unterließ die Anfügung, daß diese Tragikomödie auf den deutschen Spießer drüben aus naheliegenden Gründen auch nicht mehr ganz opportun ist. Und damit hätte er dem Einwand gegen die Herkunft, die den Film wie eine ‚Fragebogenbelastung‘ Westdeutschland vorenthielt, noch mehr Boden entzogen. Denn diese deutsche Tragödie begann bereits vor sieben Jahren, als Staudte, nachdem er den ersten deutschen Nachkriegsfilm ‚Die Mörder sind unter uns‘ und danach ‚Rotation‘ gedreht hatte, versuchte, bei uns im Westen Heinrich Manns ‚Untertan‘ zu verfilmen. Staudte war damals bereits mit den russischen Filmoffizieren leicht kollidiert, ging aber nach Babelsberg zurück, als man ihm bei uns die kalte Schulter zeigte.

Er drehte dann in Ruhe und unbehelligt […] den ‚Untertan‘, der darauf mit außergewöhnlich großem Erfolg in den meisten europäischen Ländern lief. Immer rund um die Bundesrepublik, der er Ende 1953 angeboten wurde. Nun bestand für den Kulturaustausch zwischen den beiden Deutschlands, speziell für Filme, eine Art Abkommen, das aber von beiden Seiten in weitem Maße zur Verhinderung des Austausches ausgenutzt wurde. Angst vor eingeschmuggelter Propaganda vermischte sich mit Grundsatzressentiments, und der weltweite Kalte Krieg tat ein übriges, damit sich der Austausch von drüben nach hier auf Märchenthemen beschränkte, und von hier wurden platte Lustspiele und andere unverdächtige Kost in kleinsten Dosen ‚exportiert‘.

Im Falle des ‚Untertan‘[,] der ein ausgesprochener Staudte-Film und viel weniger (wie sich bald herausstellen sollte) ein DEFA-Film war, gab es aber von der Bonner Seite Bedenken gegen den Stoff, der zuviel Parallelen zur Gegenwart zu haben schien. Wie man vermeinte. Der interministerielle Filmausschuß, der es erleben mußte, daß die Heinrich-Mann-Verfilmung in Cannes recht erfolgreich war, daß sie in Schweden den ‚Kritikerpreis für den besten deutschen Nachkriegsfilm‘ erhielt, hatte Bedenken wegen der antimilitaristischen Stellen. Er meinte Rücksicht auf das neu erblühende studentische Verbindungsweisen nehmen zu müssen, und auch der augenzwinkernde Kuhhandel um Anteile an der Macht schien ihm zu gefährlich. Der Film […] erlebte dann in Westberlin, nachdem er zweimal abgelehnt worden war, eine einmalige Vorführung vor der Presse, mit dem Erfolg, daß eine geradezu einmütige Forderung nach einer Freigabe für die Bundesrepublik und Berlin erhoben wurde.

Neben diesem Verbündeten kam eine Lockerung der Einfuhrbestimmungen hinzu, die nunmehr ein Verbot gegen Filme nur wegen einer mißliebigen Tendenz nicht mehr zuließ. Unerwartete Hilfe, wohl kaum aus ideologischen Gründen, brauchte darüber hinaus das Wirtschaftsministerium, das bei der Erteilung von Einfuhrerlaubnissen ein entscheidendes Wort zu sprechen hat. Die ‚Devisenlage‘ kam rettend für das Zonenprodukt.

Wer in Bonn jahrelang im trauten Verein sich bemüht hat, uns diesen Film vorzuenthalten, wird nicht ohne weiteres festzustellen sein: […] Man unterschätzte damit den Bürger einer freien Republik und stellte ihn auf eine Ebene mit dem ewigen Untertan, dessen Zerrbild wir in künstlerisch vollendeter Weise nun sehen können.

A. F. Teschemacher: Der Zonenritt des ‚Untertan‘. Die ‚Geschichte zum Film‘ ist so frappierend wie der Film. Hannoversche Presse, 15.03.1957

 

Was uns ärgert:
FALSCHE EMPFEHLUNGEN

Wir stolpern in den Nachrichten des ,,Presse- und lnformationsamtes des Landes Berlin“ über folgende Mitteilung des Senators für Jugend und Sport:

,,Die Senatsverwaltung für Jugend und Sport empfiehlt den Berliner Jugendlichen vom 16. Lebensjahr an den Besuch des Films Der Untertan. In der Begründung für diese Empfehlung heißt es, daß dieses filmische Meisterwerk nach dem gleichnamigen Roman von Heinrich Mann. . eine überzeugende Satire auf die wilhelminische Ara mit ihrem verlogenen vaterländischen Spießermilieu, ihrem überheblichen Couleur-Studententum und ihren subalternen Staatsbürgern ist.“

Diese Empfehlung zeugt von einer überraschenden Instinktlosigkeit und einem Mangel an pädagogischer Einsicht. Daß sich diese Senatsabteilung zum Propagandisten der DEFA macht, entbehrt nicht eines pikanten Reizes. Aber daß sie glaubt, gerade den ,,Untertan“ der Jugend besonders ans Herz legen zu müssen, diese zweifellos glänzend gemachte haßgeladene Satire auf die wilhelminische Zeit, überrascht doch.

Diejenigen, die diese Epoche noch miterlebten, haben einen grinsenden Spaß an dieser filmtechnisch raffiniert entwickelten grimmigen Polemik, an diesen kühn montierten Zerrbildern des deutschen Spießers, Aber sie wissen, daß es auch zu jener Zeit ein geistiges Deutschland von hohem Rang gegeben hat und eine verantwortungsbewußte Forschung, die mit manchem Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Und sie wissen, daß damals auch im Bürgertum Menschen von nobler Haltung, humaner Gesinnung und tapferer Selbstbehauptung gelebt haben und leben konnten. Also nicht nur Lakaien, Speichellecker und Phrasendrescher, wie sie uns der Film vorstellt.

Das wissen wir Älteren. Das mußte also auch der Senator für Jugend und Sport erlebt haben. Aber die auf diesen Film angesetzten jungen Leute dürften es nicht mehr wissen. Und sie erfahren es auch nicht in dieser beißenden Satire, weil alle Gegengewichte fehlen. Nur Negation, nur prasselnde Polemik ist für die Jugend das ungeeignetste Erziehungs- und Anschauungsmittel.

So überlegen ist die Jugend im allgemeinen nicht, daß sie die Parallelen zur Gegenwart erkennt, auch die Anmaßung in Amtssesseln und einen Bürokratismus, der jetzt nur mit anderen Schlagworten operiert.

aus: Der Tag, Berlin, vom 7. April 1957, W.F.

Statt einer Vorbemerkung: Begründung der Jury der Evangelischen Filmarbeit zur Auszeichnung „Film des Monats“

„Wenn die Jury der Evangelischen Filmarbeit anlässlich des Todes von Wolfgang Staudte seinen Film DER UNTERTAN nachträglich zum  „Film des Monats“ wählt, so in der Überzeugung, dass die erneute Begegnung mit diesem Meisterwerk die besondere Aktualität unterstreicht, die ihm in den gegenwärtigen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zukommt.“

Und das gilt für die aktuellen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen ebenfalls!

 

Wie sehr Wolfgang Staudte mit der Verfilmung der bissigen Satire nach Heinrich Mann ins Schwarze der Seele des deutschen Bürgers getroffen hatte und wie sehr er selbst zur Entstehungszeit des Films noch zu verletzen vermochte, bewies ein großer Teil westdeutscher Kritiker, die auf die Barrikaden stiegen und Gift und Galle spuckten. In der Bundesrepublik war Der Untertan vom »interministeriellen Filmausschuß« der für die Einfuhr sowjetzonaler Filmprodukte in erster Linie verantwortlichen Instanz, verboten worden. Welch eine Parallele! 1918 war die Reaktion gegen den Roman von Heinrich Mann Sturm gelaufen. – Der Filmkaufmann Mehl, Geschäftsführer der Berliner Ideal Film GmbH ließ aber den Bonner Filmprüfern keine Ruhe. 1956, nachdem der Film bereits zum zweiten mal abgelehnt worden war, erwirkte er eine einmalige Aufführungserlaubnis (wie er das schaffte, blieb sein Geheimnis) für Westberlin und organisierte auch gleich eine Pressekonferenz. Die Kritiken waren durchweg positiv. Es hieß unter anderem, daß es sich hier »um einen avantgardistischen Film handelt, und nicht einzusehen ist, warum dieses Werk, das ein unheilvolles Gebrechen unserer Zeit, den Untertanengeist, karikiert, nicht auch im Westen gezeigt werden konnte« (Telegraf, 9.10.56), und »denn hier liegt einer der klarsten und saubersten Filme vor, der einen Großteil der westdeutschen Filmhersteller in einen Gewissenskonflikt mit ihrem eigenen Filmgeschmack bringen müßte« (Sender Rias Berlin, 12.10.56). Das Wirtschaftsministerium fand schließlich heraus, daß jene Bonner Institution über eine gesetzliche Handhabe, den Film zu verbieten, gar nicht verfügte, da der Film nicht gegen den Paragraphen 93 des STGB verstieß, der die Herstellung verfassungsverräterischer Publikationen verbietet. Der Film mußte notgedrungen freigegeben werden. Er mußte um elf Minuten gekürzt werden und wurde mit einem Vorspann versehen, der den Zuschauer darauf hinwies, daß es sich bei der Schilderung der Vorfälle in diesem Film um einen Einzelfall handele.

Der Untertan war bereits mit außergewöhnlichem Erfolg in mehreren westeuropäischen Ländern gelaufen, hatte Preise auf verschiedenen Filmfestspielen im Ausland gewonnen und viel Anerkennung erhalten.

In der Bundesrepublik war das anders. Wolfgang Staudte wurde unter anderem als Protegé Goebbels‘ hingestellt, weil er im Dritten Reich schon Filme gedreht hatte. Der Untertan machte ihn nun zum »Nestbeschmutzer«, und weil er von fünf Filmen nach dem Krieg vier für die Defa gedreht hatte, war er nun der »Ost-West-Pendler« und »tanzte auf mehreren Hochzeiten«. Der größere Teil der westdeutschen Presse reagierte gereizt, nahezu hysterisch. Unter der Überschrift »Ein Film gegen Deutschland, Wolfgang Staudte im Dienste kommunistischer Kulturpolitik« bemängelte ein Kritiker, daß der einfache Mann und die Arbeiter als brave, rechtschaffende Menschen dargestellt sind und verdächtigte Staudte, »im Geiste der Bolschewisierung der Welt« (Filmpress) zu wirken. Andere Kritiker bezeichneten den Film als humorlos und böse und Oskar Kalbus nannte ihn schlicht einen »Charaktermord« . – Der Untertan gehört zu den bedeutendsten Nachkriegsfilmen. Für Herbert Ihering hatte Staudte mit diesem Film »Maßstäbe gesetzt«: »Dieser Defa-Film kommt im rechten Augenblick; politisch und künstlerisch. Denn in welchem deutschen

Roman wurde schärfer jener Untertanentyp entlarvt, der sich immer wieder für Militär und Krieg mißbrauchen läßt. Der Film führt die Entlarvung optisch weiter. Ein Gesicht, ja ein Nacken, ein Auge, ein Mund können eine ganze Menschengruppe, einen Stand, eine Klasse entlarven. Die Großeinstellungen, der Wechsel der Einzel- und Gesamtaufnahmen, von den genialen sowjetischen Regisseuren Eisenstein und Pudowkin als bild-dramaturgisches Mittel in den Film eingeführt, sind von Staudte und seinem Kameramann Baberske hier selbständig und in richtiger, sinndienender Anordnung verwendet. Dadurch erst werden die vielen satirischen Situationen und Simplizissimus-Karikaturen möglich.« (Berliner Zeitung, 4.9.1951). Die entlarvende Charakterstudie, das satirische Porträt des Untertanengeistes ist Staudte wirklich gelungen. Doch ein Schönheitsfehler ist, daß Staudte in seiner Sucht Nach überstarken Bildschilderungen ins Kabarettistische abgleitet. Er ließ sich keinen Gag entgehen, so daß manches durch das Zuviel an Persiflage zum Klamauk wurde. Dazu gehört beispielsweise die Szene, in der Hessling, als erfolgreicher Papierfabrikant gefeiert, mit kernigen vaterländischen Sprüchen bedrucktes Klopapier verteilt. Das traf auch für die karikaturistische Übersteigerung der reaktionären Charaktere zu, die die Unheimlichkeit der Gestalten zuweilen vergessen ließ. Der Untertan gehört zu den ganz großen Erfolgen in der Geschichte des Defa-Films.


C. Bandmann/J. Hembus: Klassiker des deutschen Tonfilms 1930-1960, München 1980, S. 166-168

Zur Gestaltung des Films

(…) Der Film präsentiert in starker Verdichtung das Panorama einer ganzen Epoche: eine Vielzahl von Figuren, Szenen und Ereignissen, die in der Inhaltsangabe nur im groben und unvollständig wiedergegeben werden können. Zusammengehalten wird diese rasche und vielfältige Szenenfolge in erster Linie durch die Figur des Untertanen Diederich Heßling, dessen Entwicklung den Film als roter Faden durchzieht. Die Beschränkung auf im Wesentlichen zwei Orte (Netzig und Berlin) sowie die durchgängig lineare Erzählweise ohne Vor- und Rückblenden sind weitere zentrale Mittel zur verständlichen Gestaltung des komplexen Stoffs.

Vor diesem Hintergrund einer konsequenten und transparenten Darstellung des Lebens Diederich Heßlings und seiner Zeit setzt Wolfgang Staudte mit großem Geschick eine ganze Palette filmästhetischer Mittel ein, um – auf verschiedenen Ebenen und ohne die Eingängigkeit der Fabel zu gefährden – die Hauptpersonen und ihre Zeit in differenzierter Weise zu beschreiben, zu ironisieren, zu kommentieren oder zu karikieren. Zu diesen filmsprachlichen Gestaltungsmitteln gehören:

  • Die Kameraführung: Immer wieder zeigt der Kamerablick insbesondere die hierarchischen Wahrnehmungsmuster der autoritären wilhelminischen Gesellschaft am Beispiel Diederich Heßlings auf: z.B. der ängstliche Blick des Kindes von unten auf die übergroße Mutter, ebenso der Blickwechsel zwischen Kaiser und Untertan in Rom: von unten nach oben und umgekehrt. Neben diesem die grundlegende und durchgängige Herrschaftsstruktur spiegelnden vertikalen Muster zeigt die Kamera auch exemplarisch die verzerrte Wahrnehmung verschiedener gesellschaftlicher Gruppen: die saufenden Verbindungsstudenten werden durchs Bierglas gefilmt, die Militärs
  • Der Schnitt. Mit Hilfe der Montage gelingen Staudte verblüffende Beziehungen zwischen scheinbar unzusammenhängenden Situationen und Szenen; so etwa in der raffenden Montage zu Beginn, die die verschiedenen Sozialisationsinstanzen (Eltern, Schule, Kirche …) sozusagen auf den optischen Nenner autoritärer Abrichtung und Repression bringt. Überhaupt ist der Film weniger durch fließende Übergänge als durch einen direkten, häufig konfrontativen Schnitt bestimmt (Totale – Großaufnahme, Gegenschüsse), der Ursache und Wirkung, Wort und Tat, Aktion und Reaktion unmittelbar und gelegentlich schockartig verknüpft (etwa in den Schlußszenen).
  • Der Kommentar: Viele Szenen des Films werden von einem aus dem off gesprochenen Kommentar begleitet. Dieser Kommentar dient ebenso zur verdeutlichenden Beschreibung und Erläuterung verschiedener Handlungs- und Situationszusammenhänge wie dem Einblick in Heßlings Gedankenwert. Zudem schaltet sich der Kommentar aber auch ein, um in bissiger Ironie das Handeln des Untertanen zu entlarven oder um – wie am Ende des Films – den Zuschauer direkt auf die historisch-politische Dimension des Gezeigten hinzuweisen und zu warnen.

Der Einsatz dieser und weiterer gestalterischer Mittel und Ebenen ist vermittelt und begründet durch eine zentrale Wirkungsabsicht des Filmes: die ideologiekritische Entlarvung des Wilhelminismus. Charakterisiert ist diese bis in die Gegenwart fortwirkende Epoche durch Nationalismus und Hurra-Patriotismus, durch Militarismus, durch Intriganz und Korruption sowie Untertanengeist und autoritäre Charakterbildung, verkörpert in Diederich Heßling, dessen Welt ein mikroskopisches Abbild der imperialistischen Klassengesellschaft in Deutschland um 1900 darstellt. Dieses kritische Panorama realisiert sich über die bis hierhin angesprochene ,,formale“ Gestaltung des Films hinaus in einer genauso konsequent angelegten inhaltlichen Gestaltung. Der Film erfaßt in exemplarischer Konkretisierung und Personifikation alle wesentlichen Varianten des gesellschaftlichen Klimas und Milieus dieser Zeit sowie alle relevanten gesellschaftlichen Gruppen samt ihrer Wertvorstellungen und Handlungsmuster:

  • Während die Provinzstadt Netzig den in einzelnen Figuren und Konstellationen gestalteten Mikrokosmos, den sozialen Längs- und Querschnitt des wilhelminischen Deutschlands plastisch und überschaubar repräsentiert, zeigt die Hauptstadt Berlin das unüberschaubare, durch Anonymität geprägte ,,Vorbild“ dieser Gesellschaft. In Berlin begegnet Heßling der Macht in Form gesellschaftsbestimmender Gruppen (der Verbindung Neuteutonia, dem Militär), in Netzig lernt er in Auseinandersetzung und Zusammenarbeit mit einzelnen Vertretern dieser Gruppen, die Macht und gesellschaftliche Rollen verkörpern, diese Macht konkret zu praktizieren.
  • Wie schon bei der Darstellung von Heßlings Kindheit und Jugend die Mutter, der Vater, der Lehrer oder der Arzt als Stellvertreter gesellschaftlicher Handlungs- und Erziehungsmuster, als Verkörperungen typischer Sozialisationsinstanzen gezeigt werden, so begegnen uns auch die Personen im Hauptteil des Films (der Zeit Heßlings als Fabrikant in Netzig) weniger als Individuen und unverwechselbare Persönlichkeiten denn als Stereotypen und Rollenträger. Da steht Major Kunze für den unverbesserlichen Militär, der alte Buck für den aufrichtigen und bürgerlich-fortschrittlichen Liberalen der 48er Revolution, Napoleon Fischer für den zwiegesichtigen sozialdemokratischen Arbeitervertreter, der auch mal mit dem Fabrikbesitzer Cognac trinkt und mauschelt, von Wulckow als Vertreter des Adels für den unnahbaren, autoritär herrschenden Regierungsapparat und andere für Klerus, Justiz usw. Das beinahe alle – bis auf wenige Ausnahmen und die sprachlose Arbeiterschaft – genannten gesellschaftlichen Repräsentanten bestimmende Muster in Charakter und Verhalten verkörpert in geradezu verheerender Durchschnittlichkeit Diederich Heßling als Vertreter des anpassungsbereiten mittelständischen Kapitals, der Untertan.
  • Physiognomie, Sprache, Kleidung und Habitus sind bei jeder dieser Personen in teilweise satirisch überzeichneter Form die Erkennungszeichen seiner gesellschaftlichen Rolle. Von Wulckow, Halter einer riesigen Dogge namens ,,Schnaps“, befiehlt mit schneidender Stimme, der alte Buck vertraut mit ruhiger Stimme (vergeblich) auf die Kraft von Integrität, Moral und Argumentation; Napoleon Fischer bewegt sich schlitzohrig zwischen Aufmüpfigkeit und Opportunismus; und neben vielen anderen steht Heßling schließlich vor uns als idealtypischer Untertan: Er trägt kaiserliche Barttracht, redet wie der Kaiser und gebärdet sich wie sein leibhaftiges provinzielles Ebenbild.

Dieser Versuch, die gestalterischen Qualitäten von DER UNTERTAN formal und inhaltlich darzustellen und ihre Vermittlung in einer konsequent verfolgten, Satire und Realismus sicher übergreifenden gesellschaftskritischen Perspektive zu verdeutlichen, kann nur andeuten, welch herausragendes filmisches Kunstwerk Staudte gelungen ist. Er setzt, ohne abstrakt zu werden, das umfassende Bild .in einer nach wie vor prägenden Epoche der jüngeren deutschen Geschichte in Szene, dramaturgisch allein entwickelt am Leitfaden der Person Diederich Heßlings und ihrer Geschichte. (…)


Auszug aus: Peter Christian Lang: Der Untertan. In: Deutsche Geschichte bis 1945. Ereignisse und Entwicklungen. Filmanalytische Materialien. Hrsg vom Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik e.V.. Redaktion: Rudolf Joos, Isolde I. Mozer, Frankfurt/M. 1988, S.31ff

Diese ideologisierte Theorie (dass der Faschismus die Konsequenz des Kapitalismus sei) wurde freilich genährt durch das restaurierte Erscheinungsbild des deutschen Westens. Um dem entgegenzutreten, vor allem aber aus dem Nachgrübeln über die Ursachsen der deutschen Entwicklung, drehte Staudte 1951 den UNTERTAN, den künstlerisch bedeutendsten Film des Jahrzehnts.

„Ich will die Bereitschaft gewisser deutscher Menschen um 1900 zeigen, die über zwei Weltkriege hinweg zum Zusammenbruch Deutschlands im Jahre 1945 führte“, erklärte Staudte (in: 20 Jahre DEFA-Spielfilm. Berlin/DDR 1968), der Heinrich Manns gegen den wilhelminischen Zeitgeist gerichtete Satire zum Sinnbild des nationalistischen Untertan verkürzte. Willfährig sich der Obrigkeit unterwerfend, wird er selbst zum Instrument der Unterwerfung. Die Stationenfolge gibt die Geschichte einer bösartigen Marionette: Diederich Heßling, der erbärmliche, korrupte, aggressive Untertan. Die Darstellung von Werner Peters wurde dafür zum Synonym.

(…)

Die Kulturpolitiker fanden den Film „eindrucksvoll“ (Hermann Axen), zumal ihn die westdeutsche Seite durch Aufführungsverbot und hysterische Kritiken politisch bestätigte, aber er war nicht das, was sie eigentlich wollten.“

aus: Wolfgang Gersch: Film in der DDR. Die verlorene Alternative. In: Geschichte des duetschen Films. Hrsg. v. Wolfgang Jacobsen/Anton Kaes/Hans Helmut Prinzler, Stuttgart 1993, S.323-364, hier: S. 330/31Gersch S. 332/333


BISSIGE SATIRE
STAUDTES,,UNTERTAN“

Der Untertan; DDR 1951 ; s-w; Regisseur: Wolfgang Staudte (Samstag, 20:15, ZDF).

Selten ist der kleinbürgerliche Mief der wilhelminischen Zeit auf so treffliche Art vergegenwärtigt worden wie in Wolfgang Staudtes exzellentem Film, der nach dem 1914 entstandenen Roman von Heinrich Mann gedreht wurde und bissig wilhelminischen Klassendünkel und opportunistisches Spießertum beschreibt. Staudte selbst hat nie mehr einen so treffenden, satirischen, ja zynischen Film gedreht. ,,Der Untertan“ blieb einer seiner wichtigsten, wenn nicht der wichtigste Film des Regisseurs. Sosehr vieles an diesem Film zum Lachen ist, sosehr macht er betroffen. Denn dieser Dr. Dietrich Heßling (Werner Peters) ist ja nicht ein Unmensch oder ein Wahnsinniger, er ist ein ganz normaler Bürger von unermeßlicher Dummheit und lgnoranz, ein ewig Unentschlossener, der ständig mit gebeugter Haltung herumgeht, nach oben sieht, ehrfürchtig, unterwürfig, zu allem bereit. Sieht man diesen Film heute, 25 Jahre nach seinem Entstehen, so ist er auf selten ungewöhnliche Weise jung geblieben. Und aktuell.

aus: Frankfurter Rundschau vom 9.10.1976


Bis heute ist die Frage ungeklärt, wie und unter welchen Bedingungen Zehntausende Menschen die Schwelle zur Inhumanität übertreten konnten, um einen Völkermord zu organisieren, dessen Intensität, Bestialität und im schlimmsten Sinne Rationalität bislang eine Singularität in der Menschheitsgeschichte darstellt. Generationen von Wissenschaftlern beschäftigen sich seit dem Ende des zweiten Weltkrieges mit diesen Problemen. Vielleicht gibt es auch keine zufriedenstellende Antwort darauf. Auch Heinrich Mann beschäftigte sich in seinem viel beachteten, berühmten, aber auch verschmähten Roman „Der Untertan” (1919) mit Aspekten dieser Frage – bereits nach dem ersten Weltkrieg und ohne Ahnung davon, welche Bestialität nur 14 Jahre später ihren Lauf nehmen sollte.

Als es nach dem zweiten Weltkrieg darum ging zu verstehen, was die letzten 12 Jahre in Deutschland geschehen war, wagten zunächst und bis in die 60er Jahre hinein nur wenige, diese Frage offen anzusprechen. Die politische Stimmung der 50er Jahre war eher durch (oft auch politisch gewollte) Verleugnung dieser Schreckensjahre charakterisiert, denn auf Aufklärung ausgerichtet. Es nimmt daher kein Wunder, dass Wolfgang Staudte, einer der besten Nachkriegsregisseure Deutschlands, 1951 die filmische Adaption des Mann’schen Stoffes nur in der jungen DDR in Angriff nehmen konnte. Sein gleichnamiger Film „Der Untertan” war in der Bundesrepublik zwischen 1951 und 1956 sogar verboten. Die Systemfeindschaft zur damaligen sog. „Ostzone” war dabei nur der äußere Anlass für die Indizierung des Films. In Wirklichkeit ging es v.a. darum, die drastischen Aussagen des Romans und des Films nicht in die politische Auseinandersetzung einfließen zu lassen. Nach 1956 – dem Jahr des Verbots der westdeutschen KPD durch das Bundesverfassungsgericht – durfte der Film dann in einer geschnittenen Fassung gezeigt werden. Erst 1971 strahlte das Fernsehen die ungekürzte Fassung von Staudtes Film aus.

Betrachtet man Film und Buch, auch die satirische, ja sarkastische Form, in der beide das Thema des „deutschen Untertans” behandelten, ist es – versetzt man sich in die Situation der Verleugner – durchaus nachvollziehbar, warum der Film immerhin fünf Jahre indiziert worden war. Denn Mann wie Staudte drangen in der Charakterdarstellung der Hauptfigur Diederich Hessling (exzellent gespielt von Werner Peters in seiner wohl größten Rolle) tief in die „deutsche Seele” ein, sprich: offenbarten dem Betrachter bzw. Leser einige Gründe, warum sich in Deutschland vieles in Richtung Nationalsozialismus entwickeln sollte – obwohl die Geschichte selbst (oder gerade weil sie) im Kaiserreich vor dem ersten Weltkrieg spielte.
(…)

Staudte kennt kein Pardon mit seinem „Helden”. Und Werner Peters spielt diesen Diederich Hessling so überzeugend gut in einer Mischung aus gefährlichem Nationalisten und lächerlichem Feigling, dass es Vergnügen und Schrecken zugleich ist, wenn man daran denkt, dass Diederich einer jener Charaktere ist, die nach dem ersten Weltkrieg die sog. „völkischen” Organisationen bevölkerten und zur Machtübernahmen der Nationalsozialisten erheblich beitrugen.

Der Film zeigt aber auch – und das gehört zum wesentlichen –, wie diese Sorte von Untertanen „funktionierte”. Die Angst vor der Macht, jeglicher Macht, vom Elternhaus über das Militär, die Burschenschaften, bis hin zum Kaiser (eindrücklich hier das Bild, wie Diederich in Rom dem Kaiser in seiner Karosse hinterherläuft und buckelt), diese Angst vor der Macht, in welcher Gestalt sie sich auch äußert, treibt Diederich nicht zur Gegenwehr, zum Mut, zu dem, was wir heute Zivilcourage nennen würden (dafür stehen im Film die Arbeiter in seiner Fabrik), sondern zunächst einmal zur Feigheit (man könnte auch sagen: er kneift den Schwanz ein vor dieser Macht) und dann zu einer tiefen Bewunderung und Verehrung der Macht. Diese wiederum treiben ihn dazu an, selbst ein Stück von diesem Kuchen Macht haben zu wollen. Die familiären Voraussetzungen kommen ihm dabei zu Hilfe, sind aber nicht die wesentlichen Voraussetzungen, wie wir aus Biografie führender Nationalsozialisten wissen, insbesondere auch über Hitler selbst.

Diederich glaubt, sich ein Netz aus Positionen gesponnen zu haben, das ihn an der Macht teilhaben lässt. Zugleich verdrängt er, dass dieses Netz nur funktionieren kann, wenn man ihn lässt, vor allem der mächtige Regierungspräsident von Wulckow.

Diederich ist ein Prototyp dessen, was die Kritische Theorie (Adorno, Horkheimer) später mit dem Begriff „autoritärer Charakter” umschrieben hatte. Dieser Charaktertypus ist nicht nur autoritär im eigenen Verhalten, in der konservativen bis völkischen und natürlich auch antisemitischen Gesinnung. Er ist auch autoritär im Sinne der unumschränkten Anerkennung der staatlichen Autorität. Im Volksmund beschreibt man solche Menschen als welche, die nach oben buckeln und nach unten treten. Die Feigheit Diederichs ist dabei „nur” die im Sinne des autoritären Charakters funktionierende Verhaltenweise, die es Diederich ermöglicht, alle Widerstände auf dem Weg zur (wenn auch noch so kleinen) Teilhabe an der Macht aus dem Weg zu räumen, um gleichzeitig seine absolute Vasallentreue zu den unantastbaren Mächten „da oben” zu beweisen.

Der Film selbst zeigt, dass dies auch einschließen kann, Angehörige der eigenen sozialen Klasse zu opfern – im Film etwa Lauer oder auch Agnes. Denn Liebe ist für Diederich nur eine Funktion der Macht – wie alles andere auch.
(..)

Vollständiger Text: Der Untertan (follow-me-now.de) Filmrezensionen von Ulrich Behrens
abgerufen: 16.09.2022

Bildungspaket des NLQ zum Film

Das Bildungspaket enthält Materialien zu folgenden filmanalytischen Schwerpunkten: Literaturverfilmung, die satirische Übertreibung, Perspektive, Storyboard, Kameraeinstellung.

Der Untertan
Filmheft von Ute Stauer

Instutitut für Kino und Filmkultur

Inhaltsverzeichnis

  • Filminhalt
  • Problemstellung und Hintergründe
  • Aufgabenstellung und Fragen
  • Materialien
  • Literaturhinwiese

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