Der Schwarzmarkt – Schule des Marktes

Strom bekamen wir übern Schießdraht vom Hinterzimmer des Friseurs Roßmann damals. Da ist heute auch noch’n Friseusalon, aber ich weiß nicht, wie der heißt. Da war eine Steckdose, die stand unter Spannung. Wo der Strom herkam, wußte kein Aas. Aber von dieser einen Steckdose, da gingen 50, 60 Klingeldrähte, also Schießdrähte aus’m Bergbau, wo die Schüsse mit gezündet wurden, in die einzelnen Wohnungen. Und da hing da echt nur eine Birne dran. Denn selbst ne elektrische Birne war damals ’n Ding, nich wahr, da mußte man schon irgendwie krumm dran kommen. Es gab ja nichts, absolut nichts.

 

Das ist der Ausgangspunkt. Mitten im zwanzigsten Jahrhundert ist man, so scheint es zunächst, in die Steinzeit der Trümmerlandschaften zurückgeworfen. Die elementaren öffentlichen Versorgungsnetze sind ebenso zusammengebrochen wie die privatwirtschaftliche Verteilung über den staatlich bewirtschafteten Markt. Und doch, auf wundersame und besser nicht zu hinterfragende Weise gibt es mitten im Bergarbeiterviertel im Hinterzimmer des Friseurs noch eine Steckdose, die unter Strom steht. Im Nu werden fünf Dutzend Wohnungen aus dieser einen Steckdose beleuchtet, ungeachtet der Gefahr eines Kurzschlusses, ungeachtet der Tatsache, daß man weder Draht noch Beleuchtungsbirnen kaufen kann, und auch ungeachtet der Vorschriften, nach denen es eigentlich jetzt gar keinen Strom mehr gibt und wenn es ihn gäbe, er rationiert wäre und auch bezahlt werden müßte. Die Improvisation der Selbstversorgung nutzt fremde, aber im Eigenbereich zugängliche Ressourcen (Strom, Schießdrähte), die aus Mangel an öffentlicher oder privater Kontrollmacht verfügbar geworden sind, kombiniert sie mit know how in spontaner Zusammenarbeit und nutzt sie unbekümmert, aber sparsam. Denn einerseits soll die technische Gefahr kleingehalten werden, andererseits liegen Birnen nicht auf der Straße oder am Arbeitsplatz. Die muß man organisieren. Das heißt, man muß entweder Eigentumsrechte in mehr als nur marginaler Weise durch Diebstahl oder unter Umgehung von Bewirtschaftungsvorschriften, von denen man sonst als Angehöriger der nicht-privilegierten Allgemeinheit eher profitieren würde, durch Korruption oder auf andere ,krumme‘ Weise brechen. Das macht die benötigte Ware kostbar.

Daß es eine solche zweite Ökonomie gibt, ist für sich genommen nichts Besonderes – kein Markt und keine Bürokratie haben bisher vermocht, alle Produktions- und Tauschprozesse zu erfassen: immer verblieben Bereiche der Eigenproduktion, des unversteuerten Austausches, der Schwarzarbeit, der Korruption und der Hehlerei. Unter Bedingungen des Mangels und der Repression wächst dieser graue Bereich stets, und so war er auch unter der Herrschaft der Nazis gewaltig gewachsen, freilich auf eine höchst widersprüchliche Weise. Auf der einen Seite waren im Zuge der Hitlerschen Raubkriege die Möglichkeiten der Angehörigen der herrschenden Nation zum „Organisieren“ in den besetzten Gebieten im kontinentalen Maßstab gewachsen und hatten unter die gewissermaßen repräsentative Großkorruption der Nazi-Bonzen ein soziales Netz verbreiteter „Beziehungen“, Schiebungen und Heimsendungen gespannt. Auf der anderen Seite versuchten die Herrschenden ihr Bewirtschaftungssystem mit den Mitteln eines im Krieg wachsenden Polizeiterrors durchzusetzen. Es war für die Deutschen also nichts Neues, daß die rationierte Ökonomie allenfalls für den Grundbedarf da war, alle Extras aber nur auf illegalem Wege zu befriedigen waren. Neu unter der alliierten Besatzung war vielmehr, daß die Mangelphänomene bis zum Frühjahr 1947 ständig wuchsen, daß das Bewirtschaftungssystem auch den Grundbedarf nicht mehr sichern konnte, sondern jedermann auf Selbsthilfe und Illegalität angewiesen war; daß die Verfolgung der illegalen Ökonomie wegen der Massenhaftigkeit der Tatbestände und der Unwirksamkeit der Polizei zwar nicht aufhörte, aber weitgehend ihre terroristischen Schrecken verlor und für Bedarfsdiebstahl erzbischöfliche Generalabsolution erteilt war. Außerdem wurde die Beteiligung an der zweiten Ökonomie dadurch erleichtert, wenn nicht prämiert, daß jedermann wußte, daß der eigentliche Machthaber – die Besatzungsmacht – durch die alliierten Soldaten tief in sie verwickelt war, daß viele höhere Gebrauchs- und Luxusgüter aus alliierten Quellen stammten und die Zigaretten, der Goldstandard des Schwarzen Marktes, vom Nachschub durch die Besatzungssoldaten abhing. Dabei wurde so unverhohlen zweierlei Recht praktiziert, daß die Botschaft für die Deutschen klar war: es ging nicht darum, daß Bedarfsgerechtigkeit geschaffen wurde, sondern daß der Markt dem Stärkeren gehörte.

„Gesetze“ des Schwarzhandel

„… im Schwarzhandel gibt es eine komplizierte Zwischenschicht von Mittelsmännern, die am Profit mitverdienen. In Berlin befand sich das Hauptquartier der Zigarettenhändler unter der ‚Femina‘. Nachts war die Tanzfläche sehr ‚überfüllt‘ von amerikanischen und britischen Offizieren, einzelnen Russinnen in Uniform und russischen Offizieren und Horden von deutschen Taxigirs, aber das tiefe Untergeschoß wurde nur tagsüber lebendig. Wenn man mittags in den Keller ‚Femina‘ stieg, sah man die Schwarzhändler Zigaretten und Währung in drei hohen Haufen sortieren: AlIiierte Besatzungs-Mark, die weniger geschätzte Deutsche Mark und die heiß begehrten amerikanischen Zigaretten.

Diese Zigaretten-Zwischenhändler, die im „Femina“-Keller zusammenkamen, sorgten dafür, daß ein Päckchen amerikanische Zigaretten, das 10 Dollar gekostet hatte, auf dem Markt auf 15 stieg und wenn es den Endverbraucher erreichte, 20 Dollar brachte.

Bei den Deutschen hießen unsere Zigaretten ‚Amis‘ und besaßen weitaus mehr Kaufkraft als Geld. Für 10 ‚Amis‘ gab es zwei Brotkarten, also umgerechnet 6Pfund Brot. (Es gab deutsche Schwarzhändler, die auf Brotkarten spezialisiert waren.) Zwei ‚Amis‘ kostete ein kleiner Beutel Kartoffeln oder ein kleines Stück Margarine in den Lebensmittelgeschäften in der Stadt. Auf dem Land, wo Zigaretten wirklich eine Kostbarkeit waren, gab es für eine Hand voll ‚Amis‘ eine ganze Menge Lebensmittel.

Ganz Europa war ein riesiger Schwarzmarkt geworden. Das System von Absatz und Verteilung der Vorkriegszeit existierte nirgends mehr …“.


Aus: Margaret Burke-White, Deutschland, April .l945, München 1979, Seite 166 ff.

Foto: Schwarzmarkthandel am Potsdamer Platz in Berlin. Bundesarchiv, Bild 183-19000-3293 / CC-BY-SA 3.0

Vor (dem) Gericht

„Ein Fotoapparat gegen Zigaretten und die Zigaretten wieder gegen Speck… Mit dem Fotoapparat (bin ich) bis nach Hameln gefahren und (habe) dort bei den Engländern Zigaretten eingetauscht… und dann den Speck im Münsterland geholt… Ich wollte den Fotoapparat in einem Fotogeschäft umtauschen (gegen Kartoffeln). Der machte dat aber nicht. Aber der hat mir ’nen Tip gegeben: ich könnt bei den Engländern umtauschen, und zwar am Gericht, also am englischen Militärgericht. Bin ich da hingegangen und die war‘n gerade am Verhandeln. Und da wurde gerade einer bestraft, ein Deutscher. Bestraft wurde er, weil er mit englischen Zigaretten gehamstert hatte, gehandelt hatte. Und da kommt einer von den Richtern raus, nimmt mir den Fotoapparat ab und gibt mir ’ne Stange Zigaretten dafür. Ich konnte mit den Zigaretten losgehen. Da hab ich auch gedacht, hoffentlich halten die mich da unten nicht gleich wieder fest. Da war auch die Doppelzüngigkeit…. Ich nehme an, daß die auch die beschlagnahmten Zigaretten dann unter Umständen wieder weitergegeben haben. Ja, dat war ne verrückte Zeit.“

Da die öffentliche Ordnung zersprungen war und die Bedarfsdeckung nicht mehr hinreichend regulieren konnte, hatten sich auch die Vorstellungen darüber, was Ordnung war, verrückt. Was die Menschen in den Nachkriegsjahren daraus lernen konnten, war vor allem, daß es keine allgemein (und das hätte eben auch geheißen: in der Krise) gültigen Ordnungs- und Moralvorstellungen gab. Die gelernte Moral erwies sich vielmehr als ein Überhang, von dem sich befreien mußte, wer sich im praktizierten Sozialdarwinismus der zweiten Ökonomie durchsetzen wollte. Mehrere Gesprächspartner, vor allem Männer und Frauen der Alten Linken, berichten von sich oder nahen Verwandten, daß sie es nicht über sich gebracht hätten, Bedarfsdiebstahl zu begehen, auf dem Schwarzmarkt zu handeln, beim Bauern zu betteln. Gewiß, es gibt auch Beispiele, wo der Zusammenstoß der Überlebensmoral mit betulicher Wohlanständigkeit grausig groteske Züge annimmt. Etwa wenn Frau Weselt von einer Bahnfahrt aus Süddeutschland relativ teilnahmslos berichtet, daß eine mitfahrende Frau einen Mann mit einer möglicherweise ansteckenden Krätze aus dem fahrenden Zug gestoßen habe, und dann im selben Atemzug fortfährt, sie selbst habe auf dieser Reise bei einer fremden Frau übernachtet und dort aus Versehen einen „silbernen Löffel“ mitgenommen – noch nach Jahren habe sie jedesmal beim Anblick eines Löffels gedacht: „Was hast Du bloß gemacht?“ In den meisten Fällen handeln die Geschichten aber von Konflikten, wo einer oder eine nicht die neue Überlebensmoral zu übernehmen vermag und dadurch in der Tat in eine sehr prekäre Überlebenssituation kommt – neben den Speckschwarten eines Heidebauern verhungerte Frau Berger mit ihren beiden Kindern bei Kriegsende beinahe – oder eigene Moralvorstellungen auf der Stelle ad absurdum geführt sieht.
(…)

Die neue Überlebensmoral, der nach dem Faschismus keine durchsetzungsfähige herrschende Moral entgegenstand, drückte die Lehren aus, die man in der Schule des Marktes eingeschliffen bekam. Sie waren unausweichlich, weil die staatlichen Regelungen noch nicht einmal ein elementares Lebensniveau versprachen, geschweige denn realisierten. Die meisten unserer Interviewten sagen oder deuten an, daß sie verhungert wären oder keine Bleibe gefunden hätten, wenn sie nur auf Normalkarten und Wohnungsämter angewiesen gewesen wären. Sie wären aber wohl auch verhungert, wären sie nur auf den Schwarzen Markt angewiesen geblieben, denn sie hatten nicht genug Sachwerte, daß sie nun längere Zeit von deren Veräußerung und von Tauschprofiten hätten leben können. Die Lehre des Schwarzen Markts ist also für unsere Interviewten aus der Arbeiterklasse kein Freihändlercredo, wohl aber die Erfahrung, daß Arbeit allein ebenso wenig eine Garantie fürs Überleben darstellt wie sozialstaatliche Sicherungssysteme, sondern daß der Markt unausweichlich ist – nicht der Markt der ökonomischen Theoretiker als einzig funktionstüchtige Verteilungsstruktur, in der sich viel Eigennutz zum Gemeinnutz addiert. Erfahren wird der Markt vielmehr als eine Sphäre der Durchsetzung und des ungleichen Tauschs, der gleichwohl alles austauschbar macht. Eine Sphäre, die Unrecht verstärkt, Hilfsbereitschaft ausgrenzt, Solidarität zerbricht und individuelle Aneignung zum System erhebt, die sich aber auch mit Mangel an Alternativen oder deren Unbeweglichkeit, Leistungsschwäche und Korruption schmücken kann und die den Reiz der Phantasie, der individuellen Bewährung und der freien Optimierung von Möglichkeiten hat.

(…)


Aus: Lutz Niethammer (Hg.): „Hinterher merkt man, daß es richtig war, daß es schiefgegangen ist“. Nachkriegserfahrungen im Ruhrgebiet, 1983, S. 60ff

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