Zug des Lebens (1998)
Inhalt
In einem kleinen jüdischen Schtetl, irgendwo im Osteuropa des Jahres 1941: Der Dorfnarr Schlomo kehrt mit der erschreckenden Nachricht heim, dass die deutsche Armee auf ihrem Vormarsch alle jüdischen Dörfer vernichtet und die Einwohner getötet oder deportiert werden. Dem Rat der Weisen unterbreitet Schlomo den rettenden Vorschlag, das komplette Schtetl eigenhändig zu deportieren: So erwirbt die Dorfgemeinschaft eine Dampflock mit Güterwaggons und teilt sich in die Gruppe der Deportierten und die ihrer Bewacher, die Wehrmachts-Uniformen tragen und akzentfreies Deutsch und soldatische Umgangsformen erlernen müssen. Als die Vorbereitungen abgeschlossen sind, bricht die jüdische Gemeinde mit dem Zug in eine ungewisse Zukunft auf – das Schtetl bleibt verlassen zurück. Auf ihrem Weg, der sie zunächst hinter die Front und dann über Russland ins gelobte Land Palästina führen soll, drohen dem Zug nicht nur Gefahren von Seiten der Wehrmacht und Partisanengruppen, sondern es kommt auch zur Spaltung im Inneren und Konflikten zwischen den autoritären Wehrmachts-Darstellern und den Deportierten, in deren Reihen sich eine militante Kommunistengruppe konsolidiert.
Der Film steht für nds. Lehrkräfte auf dem Medeinserver Merlin zur Verfügung
Zug des Lebens
(Frankreich / Belgien / Niederlande 1998)
Original-Titel: „Train de vie“
Eine Produktion der Noé Productions und Raphael Films
Produziert von: Fréderic Dumas, Marc Baschet, Cédomir Kolar, Ludi Boeken und Eric Dussart
Co-Produzenten: Michael Ïsrael, Francais de Laveleye, Robert Swaab und René Seegers
Produktionsleitung: Thierry Bettas-Begalin und Irina Chirita
Drehbuch und Regie: Radu Mihaileanu
Kamera: Yorgos Arvanitis und Laurent Dailland
Schnitt: Monique Rysselinck
Musik: Goran Bregovic
Ton: Pierre Excoffier
Darsteller:
Lionel Abelanski (Schlomo)
Rufus (Mordechai)
Clément Harari (Der Rabbi)
Michel Muller (Yossi)
Bruno Abraham-Kremer (Yankele)
Agathe de la Fontaine (Esther)
Johan Leysen (Schmecht)
Marie-José Nat (Sura)
Gad Elmaleh (Manzatou)
Serge Kribus (Schtroul)
Rodica Sanda Tutuianu (Golda)
Sanda Toma (Yossis Mutter)
(Quelle: Informationsblatt der Movienet film GmbH)
Laufzeit: 103 Minuten.
Deutscher Kinostart: 23. März 2000.
Ausgezeichnet mit dem Anicaflash und Fipresci-Preis (Filmfestival Venedig 1998), als Bester Film und für den besten Hauptdarsteller (Filmfestival Cosne-Sur-Loire 1998), mit dem Publikums- und Kritikerpreis (Sao Paulo 1998), mit dem Publikumspreis in Cottbus (1998), Miami, Hamptons und des Sundance Filmfestivals (alle 1999), sowie mit dem David di Donatello (Preis für den besten ausländischen Film 1999).
Verleihinformation: Im Verleih der Movienet.
Der Film steht mit zahlreichen Arbeitsmaterialien über das Portal Merlin des NLQ für die Bildungsarbeit in Niedersachsen online zur Verfügung und kann hier abgerufen werden.
Nr. |
Inhalt |
Länge |
Zeit |
01. |
Nachricht von den Nazi-Greueln und der Beschluss zur Selbst-Deportation der Gemeinde. |
6.35 |
0.00 – 6.35 |
02. |
Erste Vorbereitungen und Auswahl der Nazi-Darsteller. |
11.51 |
6.35 – 18.26 |
03. |
Lokomotivführer und Lokomotive werden organisiert. Yossi wird Kommunist. |
11.09 |
18.26 – 29.35 |
04. |
Aufbruch nach Eretz Israel. |
7.37 |
29.35 – 37.12 |
05. |
Gefährdung des Zuges durch die Partisanen und erste Konflikte innerhalb der Gruppe. |
10.04 |
37.12 – 47.16 |
06. |
Mordechai rettet den Zug vor dem Zugriff der echten Nazis. |
8.33 |
47.16 – 55.49 |
07. |
Auseinandersetzung zwischen „Nazis“ und Kommunisten in der Gemeinde. |
9.22 |
55.49 – 1.05.11 |
08. |
Ausbruch der Kommunisten, Gefangennahme des Schneiders durch die echten Nazis und seine Befreiung durch Mordechai. |
10.09 |
1.05.11 – 1.15.20 |
09. |
Begegnung mit den „Zigeuner-Nazis“ und -„Deportierten“. |
7.28 |
1.15.20 – 1.22.48 |
10. |
Juden und „Zigeuner“ feiern ein Fest. |
7.49 |
1.22.48 – 1.30.37 |
11. |
Ankunft an der Frontlinie und Schluss-Szene. |
7.35 |
1.30.37 – 1.38.12 |
Kurzbiographie
- geb. 1958 ijn Bulkrest, Rumänien als Sohn von Ion und Veronica Mihaileanu
- Schauspieler am Jiddischen Theater in Bukarest
- Leitung einer illeganen Theatergruppe, die regimekritische Komödien aufführte
- 1980: Flucht vor der Ceaucescu-Diktatur über Israel nach Frankreich
- 1980-1983: Studiom an der Pariser Filmakademie L’institut des Hautes Études Cinématographiques (IDHEC)
Filmographie
- 1980-1989: sechs französischsprachige Kurzfilme
- seit 1984 diverse Drehbücher und Regieassitenzen
- 1993: Spielfilmdebut mit „Trahir“
- 1998: Kinoerfolg mit „Train de Vie“ (2000 Kinostart in Deutschland)
- 2002: Les Pygmees de Carlo
- 2003: Gründung der Produktionsfirma OiOiOi Productions
- 2005: Live and Becomes
Thema
R. Miaileanu thematisiert das Trauma eines KZ-Häftling, dessen ausgelöschte Lebenswelt allein in seiner Erinnerung weiterlebt. Der unerträgliche Verlust zwingt ihn in Fluchtphantasien – im doppelten Sinne des Wortes. Vor diesem Rahme, der sich erst am Ende des Films erschließt, entwirft er das Märchen eines Shtetls – Sinnbild osteuropäischen Judentums -, dem mit der eigenen Deportation die Flucht vor den Nazis gelingt.
Biographisch begründete Motivation
„Es ist an der Zeit in einem neuen Stil über die Shoah zu sprechen. Viele haben vor allem den Tod gezeigt. Ich zeige das Leben, das da getötet wurde…
Die unsichtbare Kette, die uns Juden selbst durch Jahrhunderte miteinander verbindet, ist eine Mischung aus Religion, Humor und ständiger Tragik, die wir gelebt, aber nicht gewählt haben. Die Tragödie und ihr Heilmittel: der Humor. Das ist unsere Kultur. Man lacht nicht über ein tragisches Ereignis. Man lacht, um zu überleben. Das ist wie eine Therapie und macht einen Teil unserer Natur aus.“ (R.M.)
„Zug des Lebens“ ist motiviert und inspiriert von der Biogrphie des Vaters, der durch Flucht aus einem Arbeitslager und dank falscher Papiere von der kommunistischen PArtei den Krieg überlebt.
Er war in einem rumänischen Shtetl aufgewachsen. Die Konfrontation mit dessen Auslöschung wird für R. M. zum Schlüsselerlebnis:
„Ich spürte, dass du deine Verlorenheit vor uns verbergen wolltest, und ich war schockiert. (…) Du wolltest mir eine Welt zeigen. die es nicht mehr gab, und du tatest so, als ob sie noch da wäre, die Synagoge, die Mikwe, die Schule, aber es war nichts mehr da. (…) Ich saagte mir, eines Tages werde ich diese Welt wiedererschaffen (…), vielleicht um sie dir wiederzugeben oder sie mir zu schenken und vor allem, um sie meinen Kindern zu geben.“
(R. Mihaileanu im Gespräch mit seinem Vater)
Ion: Wie bist du auf die Idee zu „Zug des Lebens“ gekommen?
Radu: Zufällig war ich in Los Angeles, als „Schindlers Liste“ in die Kinos kam. Spielbergs Vision erzielte bei mir doppelte Wirkung: einerseits fühlte ich mich zutiefst berührt und gleichzeitig war mir klar, dass man einzig in den Kategorien von Tränen und Schrecken die Shoah nicht noch einmal erzählen kann. Zurück in Paris brachte ein befreundeter Historiker während eines Abendessens die Idee auf, Juden könnten während des Krieges in einem Zug entkommen sein… ein kaum vorstellbarer Gedanke. „Du solltest daraus einen Film machen“, riet er mir. „Ein erstes Thema: über deine Wurzeln, über dein Volk.“
„Dann wird es eine Komödie“, antwortete ich ihm. Er schien erstaunt. Mich interessierte aber etwas anderes: die Verbindung von Komik und Tragik. Ich fühlte instinktiv, ich sollte diesem Weg folgen.
Ion: Ich erinnere ich daran sehr gut, denn du hast mich gleich danach gebeten, die historisch realen Möglichkeiten dieser Idee zu überprüfen.
Radu: Du hast Briefe an die jüdische Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem geschickt; und ich für meinen Teil habe mich an das jüdische Dokumentationszentrum in Paris gewandt. Ich habe Serge Klarsfeld angerufen und Untersuchungen in russischen Archiven veranlasst. Alle Antworten, die wir aus unterschiedlichen Quellen erhielten, gingen in dieselbe Richtung: so eine Geschichte wäre zweifellos nicht möglich gewesen, unvorstellbar. Denn ein solcher Zug wäre in Europa während des Krieges sofort angehalten und aufgebracht worden.
Ion: Dein Wunsch, dieses Projekt zu entwickeln, entsprang in der Tat tieferen, zwingenderen Beweggründen, als nur eine einfache Geschichte zu erzählen…
Radu: Es war die Rückkehr zu der Tradition des jüdischen Humors, einer Tradition, die zweifelsohne in unseren Tagen vernachlässigt wurde, sieht man einmal von Woody Allen ab. Es war der Wunsch, über die Leiden der Shoah hinauszugehen, nicht um sie zu vergessen, sondern um sie auf andere Weise neu zu erschaffen, lebendiger: in einem Sinnbild, das sich aus unserem Blut, unserer Kultur, unserer Erinnerung speist. In mir gab es ein tiefes Verlangen, von diesem Schtetl zu erzählen, das ich nicht gekannt habe, in dem aber meine Familie gelebt hat. Und wie sollte ich diese Onkel, diese Cousins vergessen, die in den Lagern und in dem Todeszug, dem berüchtigten Zug von Iassy ermordet wurden?
(…)
Ion: (…) Glaubst du, dass man über jedes Thema lachen kann, selbst wenn es tragisch ist, ja sogar entsetzlich wie in diesem Fall?
Radu: (…) Sich über eine Sache lustig zu machen bedeutet, die mit Verachtung zu betrachten, ohne Gefühl, ohne davon betroffen zu sein. Das ist nicht meine Art, das hoffe ich jedenfalls. Die Geschichte meines Volkes war immer die, tragische Ereignisse zu erleben und dadurch an den Rand des Wahnsinns zu gelangen. Unser Humor ist ein Schutzschild gegen den Wahnsinn geworden, der Witz steht dem Tod und der Barbarei gegenüber.
Wir haben überlebt, und die unsichtbare Kette, die uns Juden selbst durch Jahrhunderte miteinander verbindet, ist eine Mischung aus Religion, Humor und dieser permanenten Tragödie, die wir durchlebt, aber nicht gewählt haben. Die Tragödie und ihr Heilmittel: der Humor. Das ist unsere Kultur. Man lacht nicht über ein tragisches Ereignis. Man lacht, um zu überleben. Das ist wie eine Therapie und macht einen Teil unserer Natur aus. Das kann man uns niemals wegnehmen. Das eine entsteht aus dem anderen.
Ion: „Zug des Lebens“ ist ein Film über den Wahnsinn, nicht wahr?
Radu: Ja, genau. Der Wahnsinn der Geschichte und des Lebens. Der Wahnsinn als Triebkraft aller Triebe, aller Tollkühnheiten und Herrlichkeiten der Welt. Und des Schreckens, der Barbarei, der Meuchelei ohne jedes Gewissen und Verständnis, wie in einem schwarzen Loch. Das ist ein Film über das Leben, über die Reise. Eine komische und zugleich schreckliche Reise.
Ion: Wann hast du deine jüdische Identität entdeckt?
Radu: Als ich nach Paris kam. Weil ich keine wirklich direkte jüdische Erziehung erhalten habe, brachte ich mir alles selbst durch Bücher bei. Ich habe das gesamte Werk von Elie Wiesel gelesen und jüdische Autoren wie Chalom Aleichem, Joseph Roth, Phillippe Roth, Saul Bellow und eine ganze Menge ostjüdische Literatur. Ich musste ja meine Wurzeln wieder finden, weil ich nicht mehr Rumäne war. Damals habe ich nicht gedacht, dass das Ceaucescu-Regime eines Tages zusammenbrechen könnte. Ich war kein Franzose wie meine neuen Freunde. Ich war quasi ein Nichts. Ich musste schon herausfinden, wer ich war. Nun habe ich endlich begriffen, wer ich bin: ein menschliches Wesen, danach Jude, ursprünglich Rumäne und jetzt Franzose…
Aus der Presseinformation der Movienet Film GmbH.
Interview mit Radu Mihaileanu – Regisseur von „Zug des Lebens“
„Wir müssen lernen, diese tiefen Emotionen auszudrücken“
Der Film „Zug des Lebens“ hat große internationale Anerkennung gefunden. Der Film von Radu Mihaileanu handelt von den Einwohnern eines kleinen jüdischen Dorfes in Osteuropa, die den Nazis entkommen wollen, indem sie einen fiktiven Deportationszug organisieren, der sie über die sowjetische Grenze bringen soll. Mihaileanu behandelt schreckliche Geschehnisse mit Humor und Einfühlungsvermögen. Der Film, weitaus besser als Roberto Benignis „Das Leben ist schön“, ist seit kurzem in Deutschland angelaufen. Er ist bereits auf dem World Socialist Web Site besprochen worden.
Volständiger Text: Interview mit Radu Mihaileanu – Regisseur von „Zug des Lebens“ – World Socialist Web Site (wsws.org)
Einordnung in die Filmgeschichte
Bereits während des Krieges entstamden Komödien, welche die Anzidiktatur und -besatzung thematisierten – Chaplins „Der große Diktator“ (194o) und Ernst Lubitschs „Sein oder NIchtsein (1942). Beide wurden jedoch ohne Kenntnis der Dimension des Genozids produziert.
Als nach dem Krieg das Ausmaß der Judenvernichtung zutage trat, erschien eine satirische oder komödiantische Verarbeitung des Themas mehr als unangemessen. Erst 1998 erlangt Begnini mit seiner Komödie „Das Leben ist schön“ internationale Aufmerksamkeit und Anerkennung und ebnete damit den Weg für humoristische Verarbeitungen des Holocaust.
Historische Bezüge
Die idealtypische Darstellung des Sthetls und stereotype der Charaktere ist ihrer Funktion geschuldet: Sie stehen sinnbildlich für die vernichtete Welt des osteuropäischen Judentums.Der Rückgriff auf Elemente des Jiddischen Theaters unterstützt die Konzeption und wird gerade an den Figuren deutlich.
Das Shtetl – Die Lebenswelt des osteuropäischen Judentums
Infloge großer Migrationsbewegungen zwischen dem 11. und 15. Jahrhundert entstanden in Osteuropa jüdische Siedlungen, denen z.T. große autonomie zugestanden wurde.
Aufgrund des religiösen Anspruchs auf Traditionswahrung und den fast ausschließlich wirtschaftlcihen Beziehungen zur Außen-/Umwelt bildete sich eine eigene (Shtetl-)Kultur heraus, die bis ins 20. Jahrhundert hinein weitgehend unverändert fortbestand.
Die wenigr wohlgesinnte Haltung der Bevölkerung gegenüber der Minorität, u.a. aus Angst vor Konkurrenz, entlädt sich nicht selten in Übergriffen und Pogromen.
Jüdische Witzkultur
„Meine Farbe, die Farbe meines Gemäldes konnte nur die Komödie, der Humor sein… ich bediene mich der Geschichte des jüdischen Volkes, das immer überlebt hat mit dieser Waffe, die für mich die schönste und spontanste Waffe des Menschen ist.“ (R.M.)
R. Mihaileanus Trgaikkomödie ist getragen von spezifisch jüdischem Humor.
- Dieser thematisiert nicht selten die durch Diskriminierung und Verfolgung geprägte Lebenssituation, sowoe die durch religiöse Gesetzesstrenge geprägte Lebenshaltung.
- Insbesondere in der Assimilierungsperiode entwickelte sich durch wachsende Distanz gegenüber dem eigenen Weltbild ein von Selbstironie gezeichneter Humor aus.