Öffentliche Meinung, Gewaltbereitschaft und Massenmedien

Von der Medienabhängigkeit unserer Weltbilder

 Wolf-Rüdiger Wagner (1994)

Schon im Titel „Öffentliche Meinung, Gewaltbereitschaft und Massenmedien Ist BILD schuld an Mölln?“ nimmt der hier veröffentlichte Beitrag für sich in Anspruch, einen Beitrag zur medienpädagogischen Diskussion um „Gewalt und Medien“ zu leisten. Gewalt hat viele Gesichter in der Gesellschaft und in den Medien. Die Empörung über das Thema „Gewalt und Medien“ bleibt so lange unverbindlich, wie man sich nicht konkreten Erscheinungsfeldern zuwendet; erst dann kann sinnvoll über die Wechselwirkungen zwischen gesellschaftlichen Entwicklungen und den Massenmedien nachgedacht werden. Solange man sich nur allgemein über „Gewalt und Medien“ äußert, kann man mit allgemeiner Zustimmung rechnen. Je konkreter man wird, desto kontroversen wird auch die Auseinandersetzung, desto deutlicher stoßen unterschiedliche Interessen, aber auch unterschiedliche politische und moralische Bewertungen und Wertvorstellungen aufeinander.

Um ein Mißverständnis zu vermeiden: In dem hier veröffentlichten Beitrag geht es auch um die Bildzeitung, es geht aber nicht nur um sie. Es geht um die Bildzeitung, weil diese Zeitung täglich mehrere Millionen Leserinnen und Leser erreicht und weil diese Zeitung damit einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf die öffentliche Meinungsbildung ausübt. Es geht um die Bildzeitung, weil es nicht ausreicht, Lichterketten gegen Ausländerhaß zu organisieren, wenn man nicht gleichzeitig über die „Brandstifter“ spricht. So gesehen hat die Zusammenstellung von Schlagzeilen und Artikel aus der „Asylantenkampagne“ der Bildzeitung einen Dokumentationswert an sich.

Interessant wird dieser Beitrag darüber hinaus, weil sich an der Bildzeitung exemplarisch erarbeiten und aufzeigen läßt, wie Massenmedien am „Problematisierungsprozeß“ gesellschaftlicher Phänomene mitarbeiten. „Dieses Blatt vereinfacht und bringt das, was andere Medien eher umständlich vermitteln, auf den Punkt – auf welchen auch immer.“ Ein Blick auf die im Materialienteil wiedergegebenen Titelseiten des SPIEGELS macht deutlich, daß auch andere Medien an der „Konstruktion des Asylproblems“ beteiligt waren.

Die Beschäftigung mit der Bildzeitung kann auch deshalb nur exemplarischen Charakter haben, weil derartige „Problematisierungsprozesse“ im Medienverbund ablaufen. Hat ein Problem erst einmal die „Aufmerksamkeitsschwelle“ der Medien überwunden, scheint es nur noch das „Asylantenproblem“, das „Ozonloch“ oder die „Gewalt in der Schule“ zu geben, egal, ob man die Zeitung aufschlägt, eine Talkshow einschaltet oder mit Kolleginnen und Kollegen am Arbeitsplatz spricht.

Und hier setzt das medienpädagogische Interesse ein, das über den aktuellen Anlaß hinausgeht. Von Medien und Erfahrungsverlust ist zumeist dann die Rede, wenn bedauert wird, daß der Medienkonsum an die Stelle sinnhafter und sinnlicher eigener Erfahrungen tritt.

„,Wer, im Bilde sein‘, wer wissen will, was es draußen gibt, der hat sich nach Hause zu begeben…… formulierte Günther Anders. Diese auf das Fernsehen zielende Feststellung läßt sich auf die Medien insgesamt ausdehnen.  In einer hochkomplexen Industriegesellschaft mit ihren weltweiten Verflechtungen liegen gesellschaftliche Probleme zumeist jenseits unseres individuellen Erfahrungshorizonts, die Medien werden zu einer gesellschaftlich notwendigen Erweiterung unserer Sinnesorgane.

Am augenfälligsten wird die Entwertung unserer sinnlichen Wahrnehmung und unserer eigenen Erfahrungen im Bereich der Ökologie.  Die neuartigen Umweltrisiken entziehen sich vollständig dem unmittelbaren menschlichen Wahrnehmungsvermögen.  Wir nehmen diese Risiken nur noch vermittelt durch die Medien wahr.

Der Prozeß der Entwertung von Erfahrungen erfaßt aber alle gesellschaftlichen Bereiche. Wir sind in eine unumkehrbare Abhängigkeit von Medien geraten, denn in komplexen Gesellschaften sind Massenmedien zwangsläufig an der Definition von Problemen und der Durchsetzung eines öffentlichen Problembewußtseins beteiligt. Medien konstruieren Wirklichkeiten für uns. Sie setzen Themen auf die „Tagesordnung“, sie bestimmen entscheidend, wie Probleme wahrgenommen werden und worüber gesprochen wird. Daher muß die Öffnung der Schule auch eine Öffnung der Schule für die Medienerfahrung von Kindern und Jugendlichen, für ihre medial vermittelten Weltbilder bedeuten. Hierbei handelt es sich nicht um eine Neuauflage der Manipulationsdebatte der 70er Jahre. Damals mußten Journalisten sich gegen den Vorwurf verteidigen, durch Auswahl und Bearbeitung zu manipulieren. Heute müssen wir fordern, daß die Journalisten uns nicht dem ununterbrochenen, ungefilterten Informationsfluß der Live-Berichterstattung überlassen. Die ultraschnellen Medien versprechen, uns zu Augenzeugen der Geschichte zu machen, uns „history as it happens“ ins Haus zu liefern.  In Wahrheit bringen sie uns jedoch nicht näher an die Wirklichkeit heran, da es Informationen nicht als Rohmaterial gibt. Das Wort reportare bedeutet im Lateinischen sowohl zusammentragen als auch zurückbringen. Wir spüren heute, wo uns elektronische Medien und Satellitenkommunikation scheinbar direkter und unmittelbarer an die Ereignisse herangebracht haben, daß wir auf den „Reporter“ als Geschichtenerzähler, als Augenzeugen und Berichterstatter, der zwischen den Ereignissen in der „Ferne“ und uns als Nachrichtenkonsumenten vermittelt, angewiesen sind.

Wenn „Wirklichkeit“ bei der Vermittlung durch die Massenmedien zwangsläufig und notwendigerweise einen Auswahl- und Gestaltungsprozeß durchläuft, dann können wir uns aus dieser Medienabhängigkeit nicht durch Medienabstinenz befreien. Nur wenn wir einerseits in die Lage versetzt werden, die Muster, nach denen Wirklichkeit in den Medien konstruiert und inszeniert werden, zu durchschauen, und uns andererseits damit beschäftigen, wie wir die Wirklichkeitskonstrukte wahrnehmen und wie wir an diesen Konstrukten selbst weiterarbeiten, können wir ein Stück Autonomie gegenüber den Medien zurückgewinnen. Diese Beschäftigung mit den Medien sollte nicht nur auf analytische Rekonstruktion beschränkt bleiben. Die Konstruktionsprinzipien der Medienwirklichkeit lassen sich auch durch handelnde Auseinandersetzung, durch verändernde Eingriffe, durch Vertauschen und Umstellen von Namen und Wertungen, durch „spielerische Destruktion“, durch Konstruktion von „Scheinkampagnen“ aufdecken.

Es wäre verkürzt, die rhetorische Frage im Untertitel des Beitrags „Ist BILD schuld an Mölln“ mit einem einfachen „ja“ zu beantworten. Die Wirkungszusammenhänge sind komplexen. Wenn dies so ist, dann leistet auch die Beschäftigung mit der Art und Weise, in der uns Medien mit gesellschaftlichen Problemen konfrontieren, keinen direkten und unmittelbaren Beitrag zum Abbau von Gewaltbereitschaft und Ausländerhaß. Der kritisch distanzierte Blick auf die Wirklichkeitskonstrukte der Medien wird erst dann produktiv, wenn dabei unsere eigenen Weltbilder, Einstellungen und Verhaltensweisen zur Sprache kommen.

Wenn es in der Wechselwirkung zwischen öffentlicher Meinung und Massenmedien zu einer erhöhten Gewaltbereitschaft kommt, dann müssen in diesen komplexen Prozeß von Wechselwirkungen die Mediennutzer einbezogen werden. Mit dem Konzept der „Schweigespirale“ wird in dem folgenden Beitrag ein theoretisches Erklärungsmodell für bestimmte Aspekte dieses Prozesses angesprochen. Nach diesem Konzept äußern sich Vertreter von Minderheitsmeinungen aus Furcht vor sozialer Isolation mit geringerer Wahrscheiniichkeit öffentlich.  Der Einfluß der öffentlichen Meinung wird jedoch durch andere Faktoren abgeschwächt oder verstärkt, z. B. durch persönliche Interessen, persönliche Betroffenheit, durch Gruppenzusammenhalt.

Die Wahrnehmung und der Einfluß von „Meinungsklimata“ ist nicht nur ein Thema für Kommunikationswissenschaftler. Wie wir selbst „Meinungsklima“ wahrnehmen, in unseren Verhaltensweisen und Einstellungen von ihm beeinflußt werden, aber auch selbst am Meinungsklima mitarbeiten, hier könnte ein Ansatzpunkt für die pädagogische Beschäftigung mit diesen Problemen liegen. Der Aufsatz und die begleitenden Materialien sollen Anstoß und Hilfe bieten, sich mit dieser Problematik im Unterricht auseinanderzusetzen. Falls Sie die hier angesprochene Thematik oder ähnliche Themen in Ihrem Unterricht andere Lehrkräfte weitergeben. behandelt haben, sind wir an Ihren Erfahrungen interessiert Schicken Sie uns Notizen, Unterrichtsprotokolle, Unterrichtsergebnisse, Materialien oder auch einfach Hinweise, in welchem Aufsatz, in welcher Veröffentlichung Sie und Hilfen und Anregungen zur Behandlung, dieses Themas gefunden haben. Selbstverständlich werden wir uns mit Ihnen in Verbindung setzen, bevor wir mit Ihren Texten und Materialien weiterarbeiten oder sie an andere Lehrkräfte weitergeben.

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