Geschichte im Film

Teilaspekt der weiteren Fra­gestellung nach Geschichte und Öffentlichkeit

Irmgard Wilharm (1986)

Historische Filme scheinen ebenso wie Ausstellungen, Romane und Sachbü­cher zur Geschichte wachsendes Interesse zu finden. Insofern ist die Beschäftigung mit der Geschichte im Film ein Teilaspekt der weiteren Fra­gestellung nach Geschichte und Öffentlichkeit. Fragen nach dem über Film und Fernsehen beeinflußten Geschichtsverständnis sind in der Geschichts­didaktik keine neuen Themen. Ein Ergebnis dieser Fragen besteht in Versuchen, Film als Mittel zur Geschichtsdarstellung intensiver und bes­ser zu nutzen als bisher, wobei es sich meistens um Bemühungen im Doku­mentarbereich handelt. Dabei ist unbestritten, daß die von Spielfilmen ausgehende Faszination die größere Wirkung auslöst. So hat Andrzej Wajdas großer Kinoerfolg „Danton“ vermutlich nachhaltiger Vorstellungen über die Französische Revolution geprägt, als dies die beste Dokumentation könnte. Allerdings hat Wajdas Danton vielleicht mehr Züge von der polnischen Ge­genwart der frühen 80er Jahre als vom revolutionären Frankreich des 18. Jahrhunderts.

Damit kommt die zweite für Historiker interessante Zugangsweise zum Film in den Blick: Film als historische Quelle seiner Entstehungszeit. Histo­rische Filmdokumente im engeren Sinn wie Wochenschauen und auf entspre­chendem Material beruhende Filme sind hauptsächlich im Zusammenhang mit dem Göttinger Institut für den Wissenschaftlichen Film (IWF) als histo­rische Quellen bearbeitet worden. Spielfilme sind dagegen unter diesem Aspekt kaum in das Blickfeld der Geschichtswissenschaft gekommen, jeden­falls nicht der deutschen. Dabei formulierte Siegfried Kracauer schon 1946 im Vorwort zu seinem Buch „Von Caligari zu Hitler“:

„Ich behaupte, daß mittels einer Analyse der deutschen Filme tiefenpsy­chologische Dispositionen, wie sie in Deutschland von 1918 bis 1933 herrschten, aufzudecken sind: Dispositionen, die den Lauf der Ereignisse zu jener Zeit beeinflußten und mit denen in der Zeit nach Hitler zu rech­nen sein wird….“.

Kracauer nahm an, daß Film als Medium der Forschung helfen könnte, Mas­senverhalten zu erklären, und daß aufgrund dieser Forschungen Filme ge­plant werden könnten, „die die kulturellen Ziele der Vereinten Nationen anschaulich verwirklichen“1). Dieser Gedanke an Film als Mittel der Reeducation lag 1946 nahe2), ist aber in der Filmpolitik der Alliierten nicht in dieser direkten Form gehandhabt worden.

Kracauer versteht unter den in den Filmen reflektierten psychologischen Dispositionen „jene Tiefenschichten der Kollektivmentalität, die sich mehr oder weniger unterhalb der Bewußtseinsdimension erstrecken…“. Fil­me können diese Dimension intensiver als andere Quellen (z.B. Zeitschrif­ten, Anzeigen) erfassen, weil die Kamera „die gesamte sichtbare Welt gleich einem Elektronenstrahl“3) abtastet und damit eine Fülle von De­tails vermittelt, die die bewußte Intention von Kameramann und Regisseur übersteigt.

Forschungen zu kollektiven Mentalitäten sind in der Bundesrepublik erst spät aus Frankreich rezipiert und teils in Richtung auf eine traditionelle deutsche Ideengeschichte verzerrt worden. Insgesamt ist die Mentalitätengeschichte bisher überwiegend eine Domäne der Mediävisten und Frühneuzeitler geblieben.4) Zu den Ausnahmen gehört ein Beitrag von Marc Ferro, der Film als „Gegenanalyse“ der Gesellschaft interpretiert.5) Ferro bezieht sich nicht ausdrücklich auf Kracauer, stellt aber ähnliche Überlegungen hinsichtlich der im Kino gezeigten „Realität“ an und fragt sich, warum Historiker dem Medium Film als historischer Quelle so konstant ausgewichen seien. Gegen das Bedenken der Fachwissenschaft, Film – und besonders Spielfilm – sei nur Fiktion, setzt Ferro die Behauptung:

„Die Kamera enthüllt das wirkliche Funktionieren, denn sie sagt mehr über einen jeden, als er von sich zeigen möchte. Sie entlarvt das Geheim­nis, zeigt die Kehrseiten der Gesellschaft, ihre Fehlleistungen. Sie stößt bis zu deren Strukturen vor.“6)

Ferro belegt seine These mit einer Analyse sowjetischer Filme unter­schiedlicher Filmgattungen zwischen 1917 und 1926 und zeigt, daß trotz politisch entgegengesetzter Intentionen die Filme ein hohes Maß nicht in­tendierter übereinstimmender Aussagen über die sowjetische Gesellschaft enthalten, daß also der „Film, welcher Art er auch sei, von seinem Ge­halt allemal übertroffen wird“.7)

Um die Frage nach der „Wirklichkeit“ im Film soll es bei den folgenden Überlegungen zu Filmen über das Ende des zweiten Weltkrieges und die un­mittelbare Nachkriegszeit gehen. Die Diskussion um die These von der „Stunde Null“ legt die Frage nach der Möglichkeit einer „Stunde Null“ im Hinblick auf die kollektiven Mentalitäten nahe. Da die deutschen Spiel­filme der Besatzungszeit sowohl in der SBZ als auch in den westlichen Be­satzungszonen sich überwiegend auf die damalige Gegenwart und auf die un­mittelbare Vergangenheit von Krieg und Nationalsozialismus beziehen, ist die Quellenlage für die deutsche Nachkriegsproduktion gut.8) Zum Ver­gleich werden ein etwa zeitgleicher italienischer Film sowie je eine neuere deutsche und italienische Produktion zum gleichen Thema herangezo­gen. Ich nehme an, daß sich damit Überlegungen zu der „Wirklichkeit“ im Film, in der gemeinten historischen Zeit und in der Entstehungszeit der Filme konkretisieren lassen.

Kracauer formuliert ein prinzipielles Problem bei der filmischen Darstel­lung historischer Themen:

„Eins ist gewiß: wenn ein Filmproduzent sich einem historischen Thema zu­wendet (…), läuft er Gefahr, die Grundeigenschaften seines Mediums zu verleugnen. Grob gesagt, es ist ihm dann nicht mehr um physische Realität zu tun, sondern um die Einbeziehung von Welten, die außerhalb des Bereichs unserer Wirklichkeit liegen.“9) Kracauer meint damit historische Themen, deren Darstellung Kulissen und Dekorationen erfordert, die für den Zuschauer künstlich wirken müssen: „Gewiß, auch Filme, die Gegenwartsthemen behandeln, spielen sich oft zwischen gestellten Szenerien ab, aber da diese Schauplätze Abbilder unserer realen Umwelt sind, steht es den Zuschauern frei, sich im Glauben zu wiegen, die Kamera durchstreife die Realität selber, ohne an ihrer Erkundung gehindert zu sein. Historische Filme schließen die Vorstellung des Unbegrenzten aus, weil die Vergangenheit, die sie wiederzuerwecken suchen, nicht mehr existiert…“ 10)

Kracauers Überlegungen beziehen sich auf Filme mit „filmischer Einstellung“, bei denen Bilder Hauptquelle der Mitteilung sind. Der größere Teil der durchschnittlichen Dokumentarfilme, in denen eine Vielzahl von Wort­informationen mit kleingehackten Bildern unterlegt wird, .gehört nicht da­zu und wird hier auch nicht weiter berücksichtigt – obwohl selbst solche Bildchroniken bei ungeübten Zuschauern zuweilen den Eindruck hinterlassen, dies sei die Geschichte, „wie es eigentlich gewesen ist“.

(…)

Anmerkungen

  1. Siegfried Kracauer, Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films, Frankfurt 1984 (im folgenden: Caligari), hier Vorwort, S.7
  2. The Political Re-education of Germany & her Allies after World War II, ed. by Nicholas Pronay and Keith Wilson, 1985
  3. Caligari, S.12. Mit dem Begriff „Kollektivmentalität“ sind Ängste und Hoffnungen in einer eingegrenzten historischen Zeit unter konkreten Bedingungen gemeint, es geht nicht um die Annahme eines konstanten Nationalcharakters! Caligari S. 14
  4. Rolf Reichhardt, „Histoire des Mentalites“, in: Internat. Archiv f. Sozialgeschichte d. dt. Literatur, Bd. 3, 1978, S. 130-166
  5. Marc Ferro, Der Film als Gegenanalyse der Gesellschaft, in: M. Bloch u.a., Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse, hg. von Claudia Honegger,1977, S. 247-269
  6. Ferro, S. 253
  7. Ferro, S. 269
  8. Peter Pleyer, Deutscher Nachkriegsfilm 1946-1948, Münster 1965
  9. Siegfried Kracauer, Theorie des Films, 19793, S. 115
  10. ebd., S. 116

Auszug aus: Irmgard Wilharm: Geschichte im Film. In: Manfred Bönsch, Lothar Schäffner (hg.): Geschichte lernen und lehren. Festschrift für Wolfgang Marienfeld zum 60. Geburtstag. Theorie und Praxis Bd. 10. EIne Schriftenreihe aus dem Fachbereich Erziehungswissenschaften I der Universität Hannover, Hannover  1986, S. 283-295 (hier: S. 283-286
Nachdruck in: Irmagrd Wilharm: Bewegte Spuren. Studien zur Zeitgeschichte im Film.  Hrsg. von Detlef Endeward, Claus Füllberg-Stolberg und Peter Stettner, Hannover 2006

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