Kirmes (1960)
Inhalt
Die Kirmes ist in der Stadt. Beim Zeltaufbau für das alljährliche Dorfspektakel wird ein Skelett mit Wehrmachtshelm und Maschinenpistole entdeckt. Nach einigen Nachforschungen wird klar, es handelt sich um die Überreste des jungen Robert Mertens, die Hintergründe seines Todes offenbaren die düstere Vergangenheit des kleinen Dorfes in der Eifel. Er war kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges desertiert und in sein Heimatdorf in der Eifel geflohen. Hier hatte aber niemand der Mut, ihm zu helfen – noch nicht einmal seine eigene Familie. Daher beschloss er, sich das Leben zu nehmen.
Film in der BRD der 50er und frühen 60er Jahre
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Produktionsland | Deutschland |
Originalsprache | Deutsch |
Erscheinungsjahr | 1960 |
Länge | 102 Minuten |
Stab | |
Regie | Wolfgang Staudte |
Drehbuch | Wolfgang Staudte |
Produktion | Real-Film, Hamburg (Harald Braun, Helmut Käutner , Wolfgang Staudte) |
Musik | Werner Pohl |
Kamera | Georg Krause |
Schnitt | Lilian Seng |
DarstellerInnen: | |
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Der Fall „Kirmes
Streit um moralische Positionen
Unbewältigte Vergangenheit und nicht eingelöste historische Schuld haben offenbar einen traumatischen Zustand erzeugt, der bei der Behandlung eines Themas aus jüngster Vergangenheit keine andere Definition und keinen anderen kritischen Standpunkt zuläßt, als den der Anklage.
Der Film ,,KlRMES“ aber ist in keiner Hinsicht Anklage. Die Geschichte könnte im dreißigjährigen Krieg ebenso spielen wie in einem beliebigen, sozialen Notstandsgebiet. Persönlichkeiten, keine Helden, keine Widerstandskömpfer, keine guten und auch keine schlechten Menschen. Sie sind nur Produkte der Angst, Opfer des ethischen Widerspruchs zwischen Krieg und Christentum, in ihrer moralischen Kraft überfordert von einer unmoralischen Zeit. So ist,,KlRMES“ nicht Anklage, sondern Plädoyer.
Und so ist esauch zu verstehen, daß man ,,in dem gesomten Film keine einzige Menschengestalt antrilft, die in relativ positiver Art den Standort verkörpern könnte, von dem ein solcher Angriff mit Fug und Recht geführt werden könnte und sollte“. (Zitat der Filmbewertungsstelle)
lch sehe keinen Angriff darin, unter vielen Menschen auf einem Kirmesplatz auch ein paar Bundeswehrsoldaten zu zeigen. Sie gehören unleugbar zu unserem Gegenwartsbild.
ln den wenigen Filmmetern des Anfangs eine,,böswillige ldentifikation“ mit dem Dritten Reich zu sehen, läßt die Objektivität der Bewertung in zweifelhaftem Licht erscheinen, um so mehr, als sie kurzerhand mit einem,,harten Schnitt“ argumentiert, wo eine übernormal lange Zeitblende die Rahmenhandlung einleitet.
Das Verhalten aller Beteiligten nach dem Auffinden des Skeletts in unserer Gegenwart kann nur retrospektiv beurteilt werden unter dem Aspekt menschlichen Versagens. Jeder hatte, um das Leben dieses jungen Mertens zu bewahren, sein Möglichstes getan. Das Möglichste ober hatte nicht gereicht. Und so suchen sich alle, nicht nur der Voater, ,,mit allgemeinen, abwehrenden und ausweichenden Redensarten“ zu beschwichtigen. Weder in religiösen noch in menschlichen Bezirken kann es eine Beantwortung der Frage nach der Schuld geben. Aber es gibt die berechtigte Annahme, daß der Tote in Wahrheit ein unbekannter Soldat ist. Diese Möglichkeit enthebt auch den Dorfgeistlichen „jeder Maßnohme kraft seines Amtes“, und es scheint mir kaum ein ,,Zerrbild der Gegenwart“ zu sein, wenn auch er eine Vergangenheit ruhen lossen will, in der sich keiner bewähren konnte.
Was die Kritik an der Figur des Ortsgruppenleiters betrifft, so ist dazu zu sagen, daß fast jede Art von Überzeichnung noch hinter der Wirklichkeit zurückbleiben muß. Die Verteilung der Macht und der Gewalt an die aufgeblasensten Hohlköpfe war ein Symptom der Zeit. Hitler und seine Vasallen, in einem Dokumentarfilm heute betrachtet, sind von grausiger, unglaubhafter Lächerlichkeit. Nicht anders der Ortsgruppenleiter in ,,KlRMES“. Seine Worte sind Porteiphrosen, die um so polternder werden, je unsicherer er selbst wird. Er vertritt in dem Eifeldorf die Macht, die auch ihn beherrscht, die auch ihn treibt. Aber die Dorfbewohner streiten sich mit ihm, sagen ihm Wohrheiten, die sich nicht jeder seiner Stelle hätte gefallen lassen. Er sagt bei solcher Gelegenheit mehrmals: Wenn ich jetzt tun würde, was meine Pflicht ist… Aber er tut es nie. Er fuchtelt einmal der Pistole herum, er schlägt einmal die Fremdarbeiterin, und als die Uniform gefunden wird, ruft er die Gestopo ins Dorf. Er ist ein Popanz, damals wie heute.
ln der Begründung der Bewertungssttelle taucht immer wieder das Wort Anklage auf, um dann zu folgern, daß diese Anklage nicht entsprechend künstlerisch oder psychologisch behandelt wurde. Angeklagt allein ist der Krieg. Und gemeint ist, daß es nur e i n moralisches Verhalten gibt, mit aller Kraft gegen den Krieg zu sein. Den Anfängen zu wehren. Wenn es zu spät ist, gibt es nur noch Opfer. Opfer des Krieges sind nicht nur die Toten.
Welche Worte der Dorfgeistliche, der den Deserteur vier Tage versteckt gehalten hat in seiner bohrenden Angst findet und einem jungen Bauern gegenüber für richtighält, mag theoretisch unzureichend sein, wichtig ist nur, daß man empfindet, erist in unabwendbarer Gewissensnot. Er ist ein Opfer des Krieges.
Und so auch die anderen. Die Eltern, die Wirtsleute, die Schwägerin, die Annette.
Daß der Film Aggressionen erzeugt, ist mir verständlich, daß diese aber bei einem von Amtswegen geschulten Zuschauerkreis zu sicher unbewußten Unterstellungen und Mißdeutungen geführt haben, macht das Ersuchen um nochmalige Prüfung des mir vorliegenden Entscheids unabwendbar.
„Es ist zum Beispiel doch wohl einigermaßen unwahrscheinlich, daß ein Vater, der seinen Sohn plötzlich im Keller als Deserteur findet, sich erst einmal mit seinem Sohn betrinkt.“ (Zitat der Filmbewertungsstelle)
Von,,plötzlich“ kann keine Rede sein. Jedes Kind weiß heute, daß eine bestimmte Zeit vorausgegongen sein muß, wenn man nach einer langen überblendung mitten in einem Diaolog einer Szene beginnt. Daß der Vater mit seinem Sohn trinkt – nicht sich betrinkt, – hat eine unübersehbare Ursache. Er versucht, seinem Sohn die Gefahrlosigkeit seines elterlichen Asyls vorzugaukeln, er trinkt sich Mut und Hoffnung zu, er macht den Versuch, die aufkommende Angst zu bändigen. Dieser Versuch scheitert. Als der Vater sich selbst aufgibt, verläßt der Sohn das Elternhaus.
Man muß schon ein Halbgott sein, wenn man nicht bereit ist, sich mit dem menschlichen
Versagen angesichts von Folter und Tod zu identifizieren.
Dem Regisseur Staudte ist nicht der Drehbuchautor zum Verhängnis geworden, sondern
die Drehbuchautoren, die durch die Erfindung des Übermenschen, des Helden, des Retters in der Not, eine liebe Filmwohnheit gemacht haben. Auf Kosten der Wahrheit, aber zum Behagen des Beschauers. ,,KlRMES“ aber will nicht Behagen, wohlgefällige Selbstbetrachtung, sondern Selbstbesinnung. Die leidenschaftlich geführten Diskussionen, die er bei den wenigen Aufführungen bisher hervorgerufen hat, waren Streitgespräche um moralische Positionen, Und genau das habe ich mir von meiner Arbeit erhofft.
W. Staudte: Streit um moralische Positionen. In Film und Fernsehen Heft 9/1986, S. 44/45
Jurybegründung
Der Hauptausschuss hat über den Film „Kirmes“ lang und intensiv diskutiert. Die vorliegenden Erläuterungen des Regisseurs Wolfgang Staudte zu diesem Film haben zur Klärung wesentlich beigetragen. Der Film ist in der Tat nicht als Anklage, sondern als die Demonstration eines Exempels zum Thema von den Grenzen der moralischen Kräfte des Menschen im Krieg, im Terror, in der Ausnahmesituation anzusehen. Allerdings hat Staudte in der Rahmenszene gewisse Details angebracht, die als tendenziöse Absicht missverstanden werden können. Doch wird das Wesentliche hiervon nicht berührt.
Der Deserteur und die Desertion, ein Thema, zu dem Mut gehört, weil es ein Tabu verletzt, werden im Buch und Dialog erschütternd menschlich motiviert und durch den jungen Götz George und alle, die mit ihm in Gewissensnot geraten, so wahrhaftig, unpathetisch und differenziert dargestellt, dass der Filmbesucher sich zur Konfrontation mit dem Thema gestellt sieht, mag er wollen oder nicht. Dem französischen Mädchen hat die Regie etwas zu viel erotisches Kino zugemutet, doch ist die Schauspielerin vom Typ her vorzüglich. Die Abstufung der Charaktere in den verschiedenen Situationen der Angst, des Terrors, der Illusion, der Hoffnung, des Mutes und Versagens ergibt ein Exempel dessen, was in den schrecklichen Tagen möglich war. Der Pfarrer ist so wenig eindeutig wie der Vater des desertierten Soldaten. Die Mutter ist tapferer, aber auch das ist relativ; sie kann entschiedener sein, weil ihr Mann die Last scheinbarer Gefügigkeit trägt. Der Ortsgruppenleiter, von Reichmann mimisch vorzüglich dargestellt, ist einer aufgeblasene Figur, lächerlich und fürchterlich, aber nicht ein Bilderbuchteufel, sondern die treffende Studie eines Schwächlings.
Der Hauptausschuss hat auch die Frage, ob die Identität des Ortsgruppenleiters von damals mit dem Bürgermeister von heute tendenziös missverstanden werden könne, diskutiert. Er verneint diese Frage. Die mögliche Personidentität auf einem kleineren Posten kann nicht so verstanden werden, als sollte der Terror des dritten Reiches mit den politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik parallelisiert oder gar gleichgesetzt werden.
Darstellung, Regie und Kamera des Films sind temperamentvoll und dramatisch akzentuierend. Viele Bildeinstellungen kommen über einen vordergründigen Realismus zu symbolhafter Verdichtung.
Lenhard: Ja, mit mit der Begründung, die Darstellung sei unglaubwürdig und menschenverachtend. Der Film behaupte ja, dass die Bewohner des Dorfs aus ihrer Erfahrung der Diktatur und des Krieges nichts gelernt hätten. Nach Staudtes Widerspruch erhielt der Film dann doch das Prädikat „wertvoll“, abgeschwächt durch den Hinweis auf Details, die als „tendenziöse Absicht“ missverstanden werden könnten.
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Bei den Internationalen Filmfestspielen in Berlin wurde Juliette Mayniel 1960 mit dem Silbernen Bären als „Beste Darstellerin“ ausgezeichnet.
„In dem westdeutschen Dorf, in dem der Film „Kirmes“ spielt, hängen Adenauer-Plakate mit der Parole „Keine Experimente“, auf einer Wand warnt eine Schrift: „Atomtod droht“. Als auf dem Festplatz eine Grube ausgehoben wird, treten Relikte einer Zeit zutage, die man gerne vergessen hätte. Ein Wehrmachtshelm, Uniformfetzen, ein Skelett. Es sind die sterblichen Überreste eines Deserteurs aus den letzten Kriegstagen. Die Honoratioren, die nun der Mutter des Toten raten: „Besser, Sie bewahren das Bild Ihres Sohnes im Herzen und lassen alles auf sich beruhen“, waren bereits in Amt und Würden, als er starb. Ein Enthüllungsdrama. So beschreibt Christian Schröder 2017 im Tagesspiegel den Anfang des Filmes und nennt den film ein „Enthüllungsdrama“.