Das Fräulein und der Vagabund (1949)

Inhalt

Die junge Hilfslehrerin Regine lebt in einem Heidedorf. Ihr Verlobter Gerhardt, der Sekretär des Kreisdirektors ist, wohnt bei seiner Mutter, einer selbstgerechten, ehrgeizigen und ordnungsliebenden Frau. Regine leidet unter der mangelnden Spontaneität und Ausgelassenheit in ihrer Beziehung zu Gerhardt. Als sie eines Tages ihre Klasse zum Unterricht in die Heide führt, begegnet sie dem Vagabunden Hannes, der Regine am darauffolgenden Sonntag mit einer „ausgeliehenen“ Kutsche abholt. Er überredet sie mit sanftem Druck zu einem Ausflug in die Heide. Regine verliebt sich im Laufe des Tages in Hannes und verbringt die Nacht mit ihm. Am nächsten Morgen trennt sie sich von Gerhardt und gibt ihre Stelle in der Schule auf, um mit Hannes zusammen sein zu können. Doch sie ist für ihn nur eine unter vielen. Als sie dies erkennt, will sie aus dem Heideort fortgehen. Gerhardts Mutter kommt auf den Bahnhof und kann Regine überzeugen, dass Gerhardt sie braucht. Der ist nämlich verschwunden und hat seiner Mutter eine beunruhigende Nachricht hinterlassen. Inzwischen ist Gerhardt jedoch Hannes begegnet, der ihm nach einer heftigen Auseinandersetzung klar macht, dass Regine eigentlich nur Gerhardt liebt. Die wird am nächsten Morgen von ihrer Schulklasse zu einem früher versprochenen Ausflug in die Heide abgeholt. In der Heide trifft Regine Gerhardt, der als „neuer Schüler“ ebenfalls dazulernen will. Hannes zieht derweil weiter.


Buch: Ernst Keienburg, Rolf Meyer
Regie: Albert Benitz
Regieassistenz: Fritz Westhoff
Kamera: Arndt v. Rautenfeld
Kameraassistenz: Herbert Stephan
Bauten: Erich Grave
Maskenbildner: Heinz Fuhrmann
Schnitt: Martha Dübber
Ton: Friedrich Albert
Musik: Werner Eisbrenner

DarstellerInnen:

Eva-Ingeborg Scholz (Regine), John Pauls-Harding (Vagabund Hannes), Dietmar Schönherr (Gerhardt), Lotte Brackebusch (Regines Mutter) sowie Jaester Naefe, Werner Riepel, Hardy Krüger, Lotte Klein, Georg Eilert, Erich Dunskus

Produktion: Junge Film-Union, Rolf Meyer, Hamburg-Bendestorf
Erstverleih: Schorcht-Filmgesellschaft mbH. (West-Berlin/Wiesbaden/München/ Frankfurt/Düsseldorf/Hamburg)
Produktionsleitung: Georg Mohr
Aufhahmeleitung: Curt Berg, Hannes Staiger
Drehzeit: April – Juli 1949
Außenaufnahmen: Lüneburger Heide in der Nähe von Wilsede
Atelier: Bendestorf
Länge: 2156 m= 79 Min.
Zensurdatum: 28.10.1949 (FSK)
Uraufführung: 1.11.1949, Hamburg, Harvestehuder Lichtspiele; Berlin-West 26.1.1950
Austauschfilm der Defa: DIE KUCKUCKS

Eine „starke“ Erotik die das „sittliche Empfinden“ gefährdet

Peter Stettner (1992)

In DAS FRÄULEIN UND DER VAGABUND dominiert das dörfliche Milieu, es wird viel gewandert, geritten und mit der Kutsche gefahren; in zahlreichen Außenaufnahmen werden Naturschönheiten der Lüneburger Heide gezeigt. Den Hauptanteil an dieser zwar schönen, aber nicht verkitschten Naturphotographie dürfte bei dem Kameramann Arndt von Rautenfeld gelegen haben, der nach verschiedenen Kultur- und Dokumentarfilmen seinen ersten Spielfilm drehte. „Man merkt die Freude des Kulturfilmmannes am Motiv“, wie ein Beobachter des Films notierte.142 Der Regisseur selbst, Albert Benitz, der ebenfalls seinen ersten Spielfilm inszenierte, hatte gleichfalls Erfahrung in der Naturphotographie: als Kameramann von Luis Trenker und Arnold Fanck hatte er in zahlreichen Bergfilmen die Kamera geführt.

Doch die Naturphotographie ist nur ein Aspekt des Films. Das von Rolf Meyer und Ernst Keienburg verfaßte Drehbuch, gibt eine Handlung und Figuren vor, die den Film – und auch seine Rezeption – entscheidend prägten. Es ist vor allem die Geschichte einer jungen Hilfslehrerin und ihres Verlobten, in deren ordentliche Kleinstadtwelt ein attraktiver Vagabund einbricht.; Auch wenn man in dem Film DAS FRÄULEIN UND DER VAGABUND bemüht war, alle direkten Zeitbezüge wie Trümmer, Kriegsheimkehrer usw. zu vermeiden, so müssen die Figuren des Films doch vor dem Hintergrund der zeitgenössischen gesellschaftlichen Probleme befrachtet werden. Dies wurde auch in der damaligen Rezeption erkannt. Der Evangelische Filmbeobachter beschrieb den realen Hintergrund in diesem Zusammenhang folgendermaßen: „Das ist doch heute die Situation: Wir haben in Deutschland das schwere Problem der herumwandernden Jugend. Die Die Landstraßen, Auffanglager und Wartesäle sind immer noch voll von ihr. Staat, Sozialbehörde, Parteien und Kirchen versuchen alles, um mit dieser Eiterbeule fertig zu werden. Der Dokumentarfilm ‚Asyrecht‘ zeigt in erschütternden Szenen das Gesicht dieser ‚verlorenen Generation‘. Kein Kino will ihn spielen, kein Publikum sehen“.143  Die Vagabundenfigur in DAS FRÄULEIN UND DER VAGABUND unterscheidet sich allerdings recht gründlich von dem „Gesicht der ‚verlorenen Generation'“, wie es der Filmbeobachter nennt. In dem Film-Vagabunden präsentiert sich eine Melange aus romantischem Wandervogel und unbeschwertem Draufgänger, das Lippenbärtchen, das er trägt, läßt an Clark Gable erinnern. Ein Kritiker sprach von einem „leicht amerikanisierten Heideschürzenjäger.“144

Die hier verantwortlich Filmschaffenden, an erster Stelle sind der Produzent und Drehbuchautor Rolf Meyer sowie der Co-Autor Ernst Keienburg zu nennen, wollten eben keine Auseinandersetzung mit einem gesellschaftlichen Problembereich führen, sondern diesen lediglich ausbeuten: die in der Realität keineswegs frei gewählte und angenehme Haltlosigkeit der herumwandernden Jugend erscheint in Gestalt des Film-Vagabunden als eine naturverbundene und attraktive Freiheit, die vor allem erotische Abenteuer verspricht.

Daß Rolf Meyer mit diesem Film bewußt auf Erotik spekulierte, macht auch ein Brief des Produzenten an den Verleiher Schorcht deutlich. Meyer spricht sich zunächst gegen eine „Löns-Ideologie“ in der Ankündigung des Films aus und begründet dies so:

„Ich weiß zwar, daß die Lönsvorstellung mit Jägerhut und Gamsbart und mit ‚grün ist die Heide‘ und mit blonder Förstertochter für gewisse Menschen den immerwährenden Anreiz bietet. Auf der anderen Seite aber gibt es ebenso viele Leute, die von diesem Klischee allmählich genug haben (…). Dieser kleine Film wird seine Wirkung von einer ganz anderen Seite her auf das Publikum ausüben und zwar aufgrund seiner starken Erotik der jungen Menschen, die immer viel Kredit beim Publikum haben und schließlich der einmalig schön fotografierten Natur (,..).“145 

Die „starke“ Erotik, die der Film vor allem in der Figur des romantisierten und verkitschten Vagabunden transportierte, rief jedoch nicht die Reaktionen hervor, die Meyer sich erhofft hatte. Während das Publikum bei der Hamburger Uraufführung noch herzlich applaudiert haben soll, stieß der Film andernorts auf schnelle und zum Teil heftige Ablehnung. In Berlin waren Publikum und Pressekritik sich anscheinend einig: „So geht es nicht weiter ins Niveaulose. Diesmal hat das abstruse Drehbuch erst mal einen Vagabunden konstruiert, einen erotomanischen Nachfahren der Knulp und Lampioon. Und dieser antiquierte Kotzproppen, wie der Berliner den unausstehlichen Typ drastisch aber sehr aufrichtig aburteilt, schnorrt herum und nascht die Mädchen am laufenden Bett. Als er bei der vierten Jungfrau auf der Bettkante flüstert: ‚Kennst Du mich überhaupt?‘, ist der hämische Jubel ringsum nicht zu halten (…). Die Leute waren wundervoll (…). Hier wischte das Publikum, frühzeitig angekichert, das schleichende Gift des Su-perkitsches radikal, unnachsichtig und richtig lachend von der Leinwand.“146

Doch die intendierte Erotik stellte sich noch aus einem anderen Grund als problematisch dar: verschiedene gesellschaftliche Gruppen und Institutionen fanden diese Erotik keineswegs nur albern, sondern sahen das sittliche Empfinden gefährdet.147 Der katholische „Filmdienst“, herausgegeben von der Hauptstelle für Bild- und Filmarbeit in den deutschen Diözesen, widmete sich in seiner Ausgabe Nr.44 vom 2.12.1949 dem Film DAS FRÄULEIN UND DER  VAGABUND. Der „Filmdienst“ riet in einer scharf formulierten Stellungnahme von dem Besuch des Films ab Der Hauptvorwurf bestand in der Propagierung der „freien Liebe“ und in dem „sittlich verderblichen Einfluß auf die Jugend“ 148 Auch die evangelische Kirche sprach sich gegen den Film aus. 149 Weiterhin untersagte die Regierung des Saarlandes die öffentliche Vorführung des Filmes auf ihrem Hoheitsgebiet. „Begründung: Die Filmhandlung zeigt ein derart unmoralisches Verhalten des Filmhelden, daß er geeignet ist, entsittlichend zu wirken. Auch die im Film sehr deutlich hervorgehobene lockere Auffassung von Verlobtentreue der jungen Lehrerin muß heftigen Widerspruch, insbesondere der Frauen, hervorrufen. Gleichzeitig wird ohne Zweifel das Ansehen der weiblichen Lehrpersonen stark beeinträchtigt werden ( )“ 150 Der Schorcht-Verleih bemerkte dazu, „dass die Theaterbesitzer in den meisten Fällen gar nicht abwarten, ob irgendwelche boykottartigen Weiterungen eintreten würden, sondern, dass sie den Film im Gegenteil zunächst von sich aus dem Spielplan nehmen bzw. dass sie, – um eventuelle Schwierigkeiten mit der Kirche zu vermeiden – die Terminierung verschoben „151 Einige Theaterbesitzer lehnten den Film auch aus eigener Überzeugung ab, wie ein Herr aus Würzburg, der meinte, daß es „andere und dankbarere Themen als die ‚freie Liebe'“ gäbe, nämlich „zu der seelischen und sittlichen Wiedergeburt unseres Volkes beizutragen „152

Wenngleich nichts darauf hindeutet, daß der Film DAS FRAULEIN UND DER VAGABUND ohne die genannten boykottartigen Eingriffe ein Publikumserfolg geworden wäre, so haben diese Eingriffe doch dazu beigetragen, daß der Film zum größten finanziellen Mißerfolg der JFU wurde. Die Art und Weise, wie dieser Film bei repräsentativen Institutionen des öffentlichen Lebens, teilweise auch auf Regierungsseite sowie von Filmtheaterbesitzern rezipiert wurde, verdeutlichen ein gesellschaftlich kulturelles Klima, das von großer Unsicherheit und Sorge gegenüber dem „richtigen“ Lebensweg vor allem junger Menschen geprägt ist. In den Stellungnahmen scheint der Wunsch durch, ein Film solle lieber ein „positives“ Beispiel der Lebensführung zeigen.

Wie bedrohlich die „freie Liebe“ auf die konservativen Kritiker des Films gewirkt haben muß, wird erst vollends klar, wenn man sich die Handlungsfuhrung und vor allem die Entwicklung der weiblichen Hauptfigur genauer ansieht. Denn diese argumentieren letztlich gegen das, was die zitierten Kritiker für „freie Liebe“ hielten. Die junge Hilfslehrerin Regine gerät ja durch ihr Abenteuer mit dem Vagabunden in höchste Gefahr. „In dem tragischen Zusammenbruch ihrer Gefühle, ist es nur Gerhardts Mutter, die das Schlimmste verhütet.“153 Durch diese Frau, die strengste Vertreterin der Ordnung im Film, wird Régine auf den rechten Weg zurückgebracht, nicht zuletzt durch den Hinweis, daß Gerhardt sie brauche. Die „freie Liebe“ läßt sich, so die Moral des Films, für die junge Frau eben nicht verwirklichen. Nachdem Regine sich über ihren rechten Weg klar geworden ist, sagt sie zu dem Vagabunden Hannes: „Du bringst die Menschen aus der Ordnung, das ist nicht gut (…)· Ein Fräulein kann ‚mal einen Tag durch die Heide ziehen, und ein Vagabund kann ‚mal einen Tag zu Hause bleiben, aber nicht länger.“ Die beiden Verlobten Gerhardt und Regine sind zum Schluß jeweils auf ihre Art „geheilt“, so daß dem Glück in der ehelichen Zweisamkeit nichts mehr im Wege steht. Aufschlußreich ist auch, daß im Laufe des Films immer weniger Regines Interessen und Bedürfnisse ihr Handeln bestimmen und stattdessen eine „Versorgungsmentalität“ in den Vordergrund tritt. Erst will sie für Hannes alles aufgeben, auch ihren Beruf, denn sie hat „einen Menschen gefunden, der mich ganz und gar braucht.“ Später gewinnt sie neuen Lebenssinn und Hoffnung, indem sie sich um Gerhardt kümmert. Wenn der Film für etwas argumentiert, dann ist es diese „Versorgungsmentalität“ der jungen Frau sowie die Rückkehr in eine verständnisvollere, aber doch traditionelle eheliche Paarbeziehung. Doch allein die Tatsache, daß etwas, was man für „freie Liebe“, also nicht gesellschaftlich sanktionierte „Liebe“ hielt, auf der Leinwand gezeigt oder besser angedeutet wurde, war offensichtlich so dominant und erschien vielen als derart bedrohlich, daß demgegenüber die Entwicklung der weiblichen Hauptfigur und mit dieser die Schlußmoral des Films nicht wahrgenommen wurde.

Anmerkungen

142) Der neue Film, Wiesbaden 1949, Nr. 33, S. 9.
143) Evangelischer Filmbeobachter, Nr. 22, 1950, S. 11.
144) Der neue Film, Nr. 33, 1949, S. 9.
145) Schreiben Meyers an Schorcht vom 7.9.1949, in: JFU 587. In der Einschätzung des Stoffes GRÜN IST DIE HEIDE – Erstverfflmung 1932 – ging Rolf Meyer allerdings fehl: Das Remake aus dem Jahre 1951 wurde ein großer Publikumserfolg. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß die Dreharbeiten dieses Filmes von der JFU in der Lüneburger Heide technisch betreut wurden.
146) Die Neue Zeitung, Berliner Ausgabe vom 28 1 1950
147) Der Film hatte im Oktober 1949 die „Freiwillige Selbstkontrolle der deutschen Filmwirtschaft“ (FSK) ohne Schnittauflagen passiert. (…)
148) Der „Filmdienst“ unterzog alle laufenden Filme einer Bewertung mit Noten und Ziffern von 1-4 Filme von deren Besuch abgeraten wurde – Mitglieder der katholischen Filmliga verpflichteten sich dies einzuhalten – erhielten die Note 3 bzw 4 Note 3, die für DAS FRAU-LEIN UND DER VAGABUND vergeben wurde, besagte „(3) = Abzuraten Der Film übt durch seine Gesamttendenz oder durch zahlreiche Einzeldarstellungen einen sittlich oder religiös gefährdenden Einfluß auf den Durchschnitt der Filmbesucher aus, welche auch durch gute Leistungen oder Darstellungen oder Tendenzen nicht ausgeglichen sind “ In Filmdienst, Hinweise fur den Filmbesuch, November 1948, herausgegeben von der Kirchlichen Hauptstelle für Bild- und Filmarbeit, Koln-Lindenthal Das Mitteilungsblatt wurde allen Diözesen, Pfarrern, vielen Zeitungsredaktionen und auch Filmtheatern zugeleitet mit der Bitte, ihre Praxis entsprechend auszurichten Rolf Meyer sah in dem Vorgehen des „Bilmdienstes“ einen Angriff auf das Grundrecht der freien Meinungsäußerung und tat seme Absicht kundt, den „Filmdienst“ wegen Geschaftsschadigung zu verklagen Dazu kam es jedoch nicht \>gl Rolf Meyer, Es geht um die Pressefreiheit, in Mannheimer Morgen vom 20 1 1950
149) Vgl Evangelischer Filmbeobachter Nr 22, 1950, S 11
l50) Abschrift eines Schreibens der Regierung des Saarlandes vom 9 2 1950 an einen Filmverleih m JFU 348
151) Schreiben des Schorcht-Filmverleihs an die JFU vom 20. 3. 1950, in JFU 348
152) Schreiben des Theaterleiters Fritz Kucht an Rolf Meyer vom 13 2 1950, in JFU 346
153) Inhaltsangabe des Films, die die JFU verfaßte, in: JFU


Auszug aus: Peter Stettner: Vom Trümmerfilm zur Traumfabrik. Die ‚Junge Film-Union‘ 1947-1952. Studien zur Filmgeschichte B, Hildesheim/Zürich/New York 1992, Band 8, S. 72-76

 

Um das Wohl „ihrer“ Männer besorgte Wesen

Peter Stettner (1992)

Abschließend soll noch einmal die Entwicklung der Regine in DAS FRÄULEIN UND DER VAGABUND und auch diejenige von Eva, der Hauptdarstellerin in DIESE NACHT VERGESS‘ ICH ΝΤΕ, vor dem Hintergrund realer gesellschaftlicher Prozesse im Nachkriegsdeutschland betrachtet werden. In beiden Filmen fallt auf, daß die weiblichen Hauptfiguren sich im Verlauf der Handlung zunehmend zu fürsorglichen, ausschließlich um das Wohl „ihrer“ Männer besorgten Wesen entwickeln. Eigene Interessen und Bedürfnisse treten demgegenüber völlig in den Hintergrund. Der Versuch, eigenen Bedürfnissen zu folgen und in diesem Zusammenhang aus der traditionellen Ordnung auszubrechen, bringt in einem Fall die junge Frau sogar in Lebensgefahr.

Diese Rollenzuweisung, die im Film als glücklich machend beschrieben wird, zeigt deutliche Bezüge zu derjenigen, wie sie sich in der realen gesellschaftlichen Entwicklung vom Kriegsende bis in die 50er Jahre darstellt. Nachdem zunächst viele Frauen schon in den letzten Kriegsjahren „Männeraufgaben“, etwa in der Rüstungsproduktion übernommen hatten, waren nach der militärischen Niederlage die „patriarchalisch-autoritären Ideologie- und Organisationsmuster (…) weitgehend zusammengebrochen, ein Großteil der Männer nicht zu Hause (gefallen, verschollen, kriegsgefangen, untergetaucht, unterwegs), arbeitslos, ‚aus der Bahn geworfen‘, moralisch verunsichert.“154 In dieser Situation vollzog sich eine zum Teil durch die Umstände erzwungene, vielfach als befreiend empfundene, massenhafte gesellschaftliche Emanzipation von Frauen, die in der alltäglichen Praxis das „Leben“ wieder in Gang brachten, Trümmer beiseite räumten und in sogenannten Männerberufen arbeiteten. Eine soziologische Untersuchung spricht von „Hunger nach Erfahrung“.155 Auch in der Gestaltung ihres privaten Lebens überschritten viele Frauen traditionelle Grenzen bürgerlichen Familienlebens.

Mit der allmählichen Rückkehr vieler Männer ins gesellschaftliche Leben sowie infolge einer gewissen ökonomischen Konsolidierung nach der Währungsreform stellte sich dann zunehmend die Frage, inwieweit diese Frauen wieder in ihre traditionellen Rollen zurückkehren würden. In diesem Zusammenhang mehrte sich die Kritik an der gesellschaftlichen Emanzipation vieler Frauen, die für zahlreiche familiäre und soziale Mißstände verantwortlich gemacht wurde.156 Das Ergebnis dieses Prozesses, wie es sich in den 50er Jahren darstellt, ist bekannt: es fand eine Restauration des traditionellen Rollenverhaltens statt, die den Frauen vor allem Aufgaben im Rahmen der Hausarbeit sowie der kleinbürgerlich-privaten Familienfürsorge zuwies.

Vor dem Hintergrund dieser Restauration der traditionellen Frauenrolle erscheinen die weiblichen Hauptfiguren in DIESE NACHT VERGESS‘ ICH NIE und DAS FRÄULEIN UND DER VAGABUND als Projektionen dieses Prozesses: Sie zeigen, daß die Überschreitung der traditionellen Rollengrenzen auf keine verbreitete gesellschaftliche Akzeptanz stieß. Gleichzeitig dürften die Filme in diesem Zusammenhang eine prägende Wirkung gehabt haben. Es kann als sicher gelten, daß für derartige Prozesse in einer modernen Gesellschaft massenmedial „vorgelebte“ Muster und Identifikationsangebote eine erhebliche Bedeutung besitzen – der Spielfilm war zu einer Zeit, als das Fernsehen noch nicht verbreitet war, hierfür geradezu prädestiniert.

Anmerkungen

154 Hermann Glaser, Kulturgeschichte der Bundesrepublik. Zwischen Kapitulation und Währungsreform, 1945-1948, München, Wien 1985, S. 61.

155 Inge Stolten (Hg.), Der Hunger nach Erfahrung. Frauen nach ’45, Berlin, Bonn 1981.

156 vgl. Angela Vogel, Familie, in: Wolfgang Benz, Die Bundesrepublik Deutschland. Geschichte in drei Bänden, Band 2: Gesellschaft, Frankfurt/M. 1983, S. 98f


Auszug aus: Peter Stettner: Vom Trümmerfilm zur Traumfabrik, S. 76-78

Diese Produktion, von Rolf Meyer selbst als „kleiner Film“ bezeichnet, war die Verwirklichung desjenigen Projektes, das 1947 von der britischen Film Section im Rahmen der Vorzensur nicht „ausgewählt“ worden war.

Die Dreharbeiten zu diesem Film begannen im April 1949, nachdem Rolf Meyer bereits Ende Mai 1947 versucht hatte, ihn als ersten Film der JFU zu realisieren. Damals scheiterte das Drehbuch jedoch an der Vorzensur durch die britische Film Section, da der Film eskapistische Tendenzen aufwies und wohl auch nicht den damaligen Moralvorstellungen entsprach. Nachdem die Aufgaben der Film Section auf die „Freiwillige Selbstkontrolle der deutsche Filmwirtschaft“ (FSK) übergegangen war, wurde der Stoff jedoch von Meyer umgesetzt.

Bis auf das Drehbuch, das Meyer zusammen mit Ernst Keienburg verfaßte, wurde DAS FRÄULEIN UND DER VAGABUND von Nachwuchskräften bestimmt. Der Kameramann Benitz gab sein Regiedebüt, Arndt von Rautenfeld führte zum ersten Mal in einem Spielfilm die Kamera und auch bei den Schauspielern überließ Rolf Meyer dem Nachwuchs das Feld: die Hauptrollen spielten John Pauls-Harding (Vagabund), Eva-Ingeborg Scholz (Regine) und Dietmar Schönherr (Gerhardt). In diesem Film kam der Anspruch der JFU, mit jungen Nachwuchskräften zu arbeiten, noch am ehesten zum Tragen.

„Das Fräulein und der Vagabund“ wird mit 350.000 DM daher zwar der billigste Film der JFU, spielt jedoch mit 110.000 DM auch das niedrigste Ergebnis in der Firmengeschichte ein. Der Film lief am 1.11.1949 an, nachdem er am 28.10.1949 die Kontrolle durch die FSK ohne Schnittauflagen passiert hatte. Verschiedene gesellschaftliche Gruppen und Institutionen beurteilten den Film jedoch anders.

Die katholische Kirche riet in ihrem „Filmdienst“ vom Besuch des Films ab, die evangelische Kirche sprach sich ebenfalls gegen ihn aus und die Regierung des Saarlandes untersagte gar seine öffentliche Aufführung auf ihrem Hoheitsgebiet. Obwohl nichts daraufhinweist, dass der Film ohne diese Eingriffe ein Publikumserfolg geworden wäre, so haben sie doch zumindest dazu beigetragen, dass der Film zum grössten finanziellen Misserfolg für die JFU wurde.

Schreiben der FSK an Rolf Meyer vom 31.10.1949

Der Film „Das Fräulein und der Vagabund“ ist für Jugendliche und die hohen Feiertage nicht zugelassen worden und für die allgemeine Freigabe nur durch den Einsatz des Vorsitzende, der in diesem Falle von seinem doppelten Stimmrecht Gebrauch machte (Stimmverhältnis 4:3).

Nach Ansicht der Kommission leidet der Film unter der Diskrepanz zwischen der Absicht der >Schöpfer und dem wirklich Dargestellten. In der vorliegenden Form zeigt er den Helden in romatischer Verbrämung mit einer Art triebhaften Hemmungslosigkeit behaftet, die unglaubhaft und fatal wirkt, da sie nicht von überzeugenden Gefühlen unterbaut ist. Wenn er als triebhafter Naturbursche gedacht war, so wird diese Absicht durch Darsteller und Regisseur keineswegs begreiflich gemacht. was durch den Charakter entschuldigt wäre, wird abstossend, wenn es als rüpelhaft empfunden wird. Infolgedessen wirkt das Verhalten der Gegenspielerinnen , sowohl der Hilfskehrerin als auch das der Gutsherrinn angesichts dieses Partners, insbesondere für das Frauenpublikum, beschämend und allgemein unverständlich.

Die Durchführung des Films steeift somt hart die Grenze der Verletzung des sittlichen Empfindens. Letzteres kann nach den Grundsätzen der Freiwillen Selbstkontrolle der deutschen Filmwirtschaft die Nichtfreigabe eines Filmes nach sich ziehen.

Es besteht ausserdem die Gefahr, dass bei weitherziger Auslegung nicht nur Proteste Einzelner sondern ganzer Organisationen gegenüber dem Urteil der Selbstkontrolle zu erwarten sind. Die Proteste können den Ruf nach einer Polizeizensur auslösen und verstärken, das heisst, den Schutz der Öffentlichkeit so, wie er von der Selbstkontrolle wahrgenommen wird, als nicht genügend empfinden lassen. Dadurch würde die Gefahr einer Landerzensur heraufbeschworen werden, die sich wenig um die Interessen der Filmproduktion kümmern würde. Nicht nur das Ansehen der deutschen Filmindustrie, sondern auch die Filmwirtschaft würde an ihren Interessen geschädigt werden.

Wir wären Ihen dankbar, wenn sie künftighin bei der Vorbereitung Ihrer Filme auch Überlegungen wie die Vorstehenden mit in ihre Berechnungen in allgemeinwirtschaftlichem Interesse einbeziehen würden (…)“

Zitiert nach: Peter Stettner: Vom Trümmerfilm zur Traumfabrik. Die ‚Junge Film-Union‘ 1947 – 1952. Hildesheim/Zürich/New York 1992, S. 107/108

Das Frauenbild in den Nachkriegsjahren

Dieser Film ist besonders geeignet, sich mit der Darstellung der Frauenrolle und damit dem gesellschaftlich akzeptierten bzw. nicht akzeptierten Fraunbild der Nachkriegsjahre auseinander zu setzen. Die Filmgestaltung und die zeitgenössischen Reaktionen, vor allem von einflussreichen Einrichtungen wie der kath. Kirche, stehen für das  Thema Gefahren für die Sittlichkeit. Als Vergleichsfilm bietet sich der Film DIESE NACHT VERGESS‘ ICH ΝIΕ an.


 

 

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