Sexualität, Prostitution und Ehe im Ersten Weltkrieg

Ute Daniel untersucht die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges auf Ehe- und Familienverhältnisse. Unter Rückgriff auf Archivquellen konstatiert sie die Zunahme außerehelichen Geschlechtsverkehrs als Folge der Trennung von Ehepartnern: Diese Beobachtung trifft sowohl auf die eingezogenen Männern als auch auf die in der Heimat verbliebenen Frauen zu. Daniel setzt sich mit den verschiedenen Erscheinungsformen der behördenseitig als solcher definierten Prostitution (Etappenprostitution, „geheime Prostitution“, Ehebruch) und den staatlichen Regulationsversuchen auseinander.

Ute Daniel über Sexualität, Prostitution und Ehe im Ersten Weltkrieg

Die Exmittierung [zwangsweise Entfernung; Anm. d. Red.] der Sexualität aus den getrennten Ehen eingezogener Soldaten stellte ein […] bislang unbekanntes Massenphänomen dar. Besondere Schärfe erhielt das Problem der außerehelichen Sexualität […] durch seine enge Verbindung zu den Idiosynkrasien [Eigenheiten; Anm. d. Red.] einer kriegführenden Gesellschaft. Sie machten aus dem sexuellen Verhalten von Militärs und Zivilpersonen in verschiedener Hinsicht eine Angelegenheit von nationalem Belang: Das sexuelle Verhalten eines Millionenheers lediggehender Soldaten und seine möglichen gesundheitlichen Folgen waren untrennbar verbunden mit dem Problem der „Wehrertüchtigung“ bzw. „Wehrzersetzung“. Die Sexualität der weiblichen Zivilbevölkerung wiederum war Gegenstand besonderen Interesses wegen ihrer befürchteten Auswirkung auf die Stimmung an der Front; dies galt in erhöhtem Maß für die „Kriegerfrauen“, d.h. die Ehefrauen eingezogener Soldaten, und für die Beziehungen deutscher Frauen zu Kriegsgefangenen und ausländischen Arbeitern. […]

In ihrer Wahrnehmung durch Behörden und Sexualhygieniker führten die Kriegserscheinungsformen der Sexualität zu einer Diskussion darüber, wie diese als Auswüchse begriffenen Verhaltensänderungen und ihre Folgen reguliert werden könnten. Beides, die Konnotation des sittlich Anrüchigen ebenso wie des prinzipiell unter Regulierungsgesichtspunkten zu Betrachtenden, war wohl gleichzeitig Ursache und Folge davon, daß die Diskussion zwar allgemeine Erscheinungsformen der Sexualität in der Kriegszeit zum Gegenstand hatte, sie jedoch alle unter dem Begriff der „Prostitution“ zusammenfaßte. Als das kriegsbedingte Charakteristikum der „Prostitution“ galt, daß die sogenannte „geheime“ oder „wilde Prostitution“ im Vergleich zur kontrollierten Prostitution sittenpolizeilich registrierten Frauen zunahm. Bei der Interpretation dieser Entwicklung ist jedoch Vorsicht angebracht. Denn der relative Rückgang der kontrollierten Prostitution – deren Klientel zum größten Teil eingezogen war – wäre im Grunde richtiger als ihr Export in die besetzten Gebiete anzusprechen. In den Etappengebieten der West- und Ostfront war sie weit verbreitet. Die Prostitution fand zum Teil in reglementierter Form in – überwiegend für Offiziere und Soldaten getrennt geführten – Bordellen in der Etappe statt. […] Brüssel war das Zentrum der Etappenprostitution an der Westfront.

Die Prostituierten rekrutierten sich entweder aus den Frauen des besetzten Auslands oder aus deutschen Frauen, die ihrer Kundschaft gefolgt waren. Problematisiert wurde auch dieser Sachverhalt ebenso wie die Sexualität nicht als solcher, sondern wegen seiner wehr- und bevölkerungspolitischen Gefahren; die Ansteckung mit von den Prostituierten übertragenen Geschlechtskrankheit könne zahlreiche Männer ebenso wehrdienst- wie zeugungsuntauglich machen. […] Die Verbreitung der Geschlechtskrankheiten war jedoch keineswegs ein auf das Heer beschränktes Problem. Im Reichsgebiet nahmen die Geschlechtskrankheiten seit Kriegsbeginn ebenfalls zu und erreichten auch bislang in diesem Zusammenhang weniger anfällige ländliche Gebiete und soziale Schichten. Ihre Zunahme unter der Zivilbevölkerung und den Soldaten des Besatzungsheeres, d.h. den im Heimatgebiet verbliebenen Truppenteilen, war so groß, daß einige politische, militärische und medizinische Beobachter dazu neigten, eher die Heimat als Gefahrenquelle für die Soldaten zu betrachten als umgekehrt. Verursacht war die vermehrte Infizierung mit Geschlechtskrankheiten nach übereinstimmender Meinung aller Beobachter durch einen Anstieg des außerehelichen Geschlechtsverkehrs. […]

Die sich nicht selten bildenden Beziehungen zwischen Militärmannschaften des Heimatgebiets und der weiblichen Bevölkerung waren übrigens nicht nur aus moralischen oder prophylaktischen, sondern auch aus politischen Gründen höchst unerwünscht; sie trugen nämlich im weiteren Kriegsverlauf dazu bei, daß Soldaten sich mit Demonstrationen und Unruhen, zu deren Bekämpfung sie eingesetzt wurden und an denen sich in der Regel vor allem Frauen beteiligten, solidarisierten. […]

Sind die Quellen hinsichtlich der relativen Abnahme der kontrollierten Prostitution dahingehend zu relativieren, daß es sich eher um eine Verlagerung der regionalen Schwerpunkte vor allem in die Etappengebiete handelte, ist auch der Quellenbefund über die Zunahme der „geheimen Prostitution“ mit Vorsicht zu interpretieren. Wo in den Quellen nämlich von der Zunahme der „geheimen Prostitution“ die Rede ist, handelt es sich bei genauerer Betrachtung um zwei durchaus heterogene Sachverhalte. Zum einen war damit die Vergrößerung der Zahl derjenigen Frauen gemeint, die – aufgrund ihrer materiellen Notlage als Arbeitslose oder Frauen bzw. Töchter von eingezogenen Soldaten – sich ihren Lebensunterhalt ganz oder zum Teil als Prostituierte verdienten, dabei jedoch die sittenpolizeiliche Registrierung vermieden. Zum anderen fand der Begriff häufig Verwendung, um die allgemein beklagte Zunahme der Anknüpfung nichtehelicher Beziehungen zwischen Männern und Frauen zu bezeichnen. Zumeist nämlich war, wie aus Aachen berichtet wurde, „der Leichtsinn in Verbindung mit der allgemeinen Lockerung der Sitten die Ursache für den Umfang der geheimen Prostitution, Tatsachen, die uns mit Schrecken für die Zukunft erfüllen“. Als „geheime Prostituierte“ in diesem Sinn galten demzufolge Ehefrauen eingezogener Soldaten, „die durch den Verkehr mit fremden Männern ihren Drang nach Vergnügen und Unterhaltung zu befriedigen suchen“ und sich „einen Liebhaber halten“. […]

Zum Ziel polizeilicher Observierungen und Maßnahmen wurde somit das geschlechtliche Verhalten der Zivilbevölkerung als ganzer. Ausgehend von dem Grundsatz: „Weiber, die sich dem außerehelichen Geschlechtsverkehr hingeben, sind fast alle geschlechtskrank“, der jede nicht gesetzlich sanktionierte Beziehung zwischen Frauen und Männern zum seuchenpolizeilichen Delikt werden lassen konnte, wurde ein weitgespannter Maßnahmenkatalog sexueller Verhaltensobservation entwickelt. Die verschärfte Handhabung sittenpolizeilicher Kontrollen erstreckte sich nicht nur auf registrierte Frauen, sondern auch auf Frauen, denen „gewerbsmäßige Unzucht“ nicht nachgewiesen werden konnte. In Dresden war die Sittenpolizei angewiesen worden,

„in rücksichtsloser Weise gegen alle Frauenspersonen, die sich der Gewerbsunzucht irgendwie verdächtig machen, sowie gegen Männer, die abends und nachts durch Nachstellen und Ansprechen von Frauenspersonen lästig werden, vorzugehen.“

Alle solcherart aufgegriffenen Personen wurden über Nacht in Verwahrungshaft genommen. […]

Besondere Aufmerksamkeit widmeten die Behörden dem sittlichen Verhalten der „Kriegerfrauen“. […] Das preußische Kriegsministerium förderte die Verbreitung entsprechender Propagandaschriften:

„Es gibt Kriegerfrauen, die Liebe und Treue, Zucht und Sitte vergessen und sich fremden Männern an den Hals werfen, während die Männer draußen darben und bluten; Kriegerfrauen, die zum Tanz und ins Vergnügen laufen, die mit dem Geld, das die Männer schicken, sich wie Dirnen putzen oder im Essen schlemmern, während sich die Kinder mit zerrissenen Strümpfen und Kleidern verwildert auf der Straße herumtreiben.“

[…] Hart durchgegriffen wurde in allen Fällen, in denen Beziehungen zwischen deutschen Frauen, ob verheiratet oder nicht, und Kriegsgefangenen bekannt wurden. Formaljuristische Grundlage […] war das Gesetz über den Belagerungszustand. Kraft der ihnen dort verliehenen sehr weitgehenden innenpolitischen Befugnisse konnten die Militärbefehlshaber entsprechende Verordnungen erlassen:

„Die Bevölkerung hat ihren Verkehr mit den Kriegsgefangenen auf die durch deren Arbeit, Unterbringung und Verpflegung unbedingt notwendigen Verrichtungen zu beschränken. Jede darüber hinausgehende Annäherung, insbesondere ein gegen die guten Sitten verstoßender Verkehr weiblicher Personen mit Kriegsgefangenen ist verboten.“

Auf dieser juristischen Grundlage wurden Frauen wegen sexueller Beziehungen, aber auch Briefeschreiben und „Kokettieren“ mit Kriegsgefangenen zu Geld- und Gefängnisstrafen verurteilt; auch diese Frauen mußten darüber hinaus mit der Bekanntgabe ihres Namens durch die Presse rechnen.

Zwar wurden auch Stimmen laut, die gewisse Bedenken dieser Anprangerung von Frauen gegenüber zum Ausdruck brachten. „Eine deutsche Frau“ schrieb im Januar 1915 an das Münchner stellvertretende Generalkommando:

„Wer öfters Gelegenheit hat, Feldpostbriefe zu lesen, gewinnt den Eindruck, daß sich unsere Soldaten in Frankreich mehr als notwendig mit der Bevölkerung – besonders der weiblichen – angefreundet haben und daß es in den großen Städten des deutschen Einnahmegebiets recht lustig zugehe. […] Jede vernünftige Frau verurteilt das geschmacklose Benehmen jener einzelnen, man würde aber auch von unseren Kriegern etwas mehr Nationalstolz erwarten, denn erstens sind der Umfang und die Folgen etwaiger Bündnisse im Feindesland viel schwerwiegender und dann besteht die billige Forderung, daß, was für den einen Teil der deutschen Staatsangehörigkeit gesagt ist, auch für den anderen Gesetz sein sollte.“

[…] Die veröffentlichte Meinung blieb jedoch den ganzen Krieg hindurch in der Frage der „unpatriotischen Frauen“ kompromißlos. Noch im Oktober 1918, als einige deutsche Staaten Teilamnestien für kleine Delikte von Kriegerfrauen und -witwen erließen, regte das „Berliner Tageblatt“ an, den unerlaubten Verkehr von „Kriegerfrauen“ mit Kriegsgefangenen davon auszunehmen.


Aus: Arbeiterfrauen in der Kriegsgesellschaft. Beruf, Familie und Politik im Ersten Weltkrieg. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1989, S. 139-140, 142-147. Auf die umfangreichen Quellenverweise des Originaltextes wurde in diesen Auszügen verzichtet.

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