Nacht und Nebel (1956)
Inhalt
Die halbstündige Dokumentation „Nacht und Nebel“ des französischen Nouvelle Vague-Regisseurs Alain Resnais gilt als eine der gelungensten KZ-Dokumentationen überhaupt. Sie veranschaulicht anhand von Archiv-, Foto- und –Filmmaterial die Entstehung der Konzentrationslager, den Lageralltag, die gezielte Vernichtung der Lagerinsassen, ihre Überlebensstrategien und schließlich die Befreiung durch die Alliierten. Resnais’ künstlerisch gestaltete Dokumentation kontrastiert historische Aufnahmen mit Bildern der Lager Mitte der 50iger Jahre, die verfallen und von Gras überwuchert sind. Die Musik ist von Hanns Eisler, der Kommentartext stammt von dem Dichter Jean Cayrol, der selbst ein KZ-Überlebender ist.
Nacht und Nebel
(Frankreich 1956)
Original-Titel: Nuit et bruillard
Regie: Alain Resnais
Produzenten: Philippe Lifchitz, Anatole Dauman und Samy Halfon
Kamera: Ghislain Cloquet
Musik: Hanns Eisler
Text: Jean Cayrol
Sprecher: Kurt Glass
Deutsche Fassung: Paul Celan
Laufzeit: 30 Minuten.
Deutsche Uraufführung: 01. Juli 1956
Der Film steht mit zahlreichen Arbeitsmaterialien über das Portal Merlin des NLQ für die Bildungsarbeit in Niedersachsen online zur Verfügung und kann hier abgerufen werden.
Nacht und Nebel mit V+Ö-Lizenz (bis 30.11.2027)
Alain Resnais‘ herausragende Dokumentation über das Geschehen in den nationalsozialistischen Konzentrationslager verbindet eindringliche Bilder, die Musik Hanns Eislers und den Text der Schriftsteller Jean Cayrol und Paul Celan.
Nr. |
Inhalt |
Länge |
Zeit |
01. |
Prolog: Annäherung |
2.29 |
0.00 – 2.29 |
02. |
Der Weg in die Konzentrationslager |
5.08 |
2.29 – 7.37 |
03. |
Der Lagerkosmos: Entrechtung und Erniederung |
7.21 |
7.37 – 14.58 |
04. |
Terror in den KZ-Lagern |
4.42 |
14.58 – 19.40 |
05. |
Vernichtung im Lager: Die Gaskammer |
5.54 |
19.40 – 25.46 |
06. |
Befreiung der Lager: |
2.35 |
25.46 – 28.21 |
07. |
Epilog – Wir, die wir vorbeisehen und nicht hören |
1.53 |
28.21 – 30.14 |
Alain Resnais (Regisseur)
Der Franzose Alain Resnais, geboren 1922 in Vannes, besuchte in den letzten zwei Kriegsjahren eine französische Filmhochschule und begann danach Dokumentarfilme über Kunst-Sujets zu drehen, z.B. über van Gogh und Gauguin. Nachdem sein Film „Guernica“ (1950) bereits ein politisches Thema gehabt hatte, drehte Resnais mit „Nacht und Nebel“ eine der wohl bekanntesten KZ-Dokumentationen. Sein erster Spielfilm folgte 1959 mit „Hiroshima mon amour“. In den folgenden Jahren wurde Resnais zu einem der wichtigsten Vertreter der Nouvelle Vague, des jungen intellektuellen Autorenkinos in Frankreich.
Portrait des Regisseurs (Rundfunkbeitrag des SWR) als Film-Extras bei der vom Bundesverband Jugend und Film e.V. herausgegebenen DVD, die bei Merlin verfügbar ist: |
Jean Cayrol (Original-Text)
Der französische Dichter Jean Cayrol wurde 1911 in Bordeaux geboren und war in der Zeit der deutschen Okkupation in der Résistance aktiv, bis er 1942 verhaftet und im KZ Mauthausen zur Zwangsarbeit in einem Steinbruch gezwungen wurde. Der Film „Nacht und Nebel“ bedient sich Cayrols „Poèmes de la nuit et du bruillard“. Eine zweite Zusammenarbeit mit Resnais ergab sich auf Grundlage von Cayrols „Muriel ou le temps d’un retour“ (1963).
Hanns Eisler (Musik)
Hanns Eisler, 1898 als Sohn des österreichischen Philosophen Rudolf Eisler geboren, war Schüler des österreichisch-jüdischen Komponisten Arnold Schönberg, des Begründers der Dodekaphonie (Zwölftonmusik), und Kommunist, jedoch zu keinem Zeitpunkt Mitglied der Kommunistischen Partei. Bevor Eisler 1933 Exil in mehreren europäischen Ländern und schließlich in den USA suchte, komponierte er antifaschistische Musik und Lieder für die Arbeiterbewegung. Während seiner Exilzeit kam Eisler mit zahlreichen berühmten Exilanten in Berührung, darunter Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Peter Lorre, Fritz Lang, Theodor W. Adorno, Thomas Mann und Bertolt Brecht, mit den ihn eine lange Freundschaft verbinden sollte. In der Nachkriegszeit wegen „unamerikanischer Umtriebe“ angeklagt und aus den USA ausgewiesen, ging Eisler 1948 in die sowjetische Besatzungszone von Berlin. 1949 schrieb er die Nationalhyme der DDR und war ein Jahr später Gründungsmitglied der Deutschen Akademie der Künste. In den Jahren 1950 und 1958 erhält er den Nationalpreis 1. Klasse der DDR. Eisler starb 1962 in Berlin.
Paul Celan (deutsche Textfassung)Paul Celan gilt als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Lyriker der Nachkriegszeit. 1922 wurde er als Paul Ancel im damals rumänischen, heute ukrainischen Czernowitz geboren. Ende der 30iger Jahre begann Celan in seiner Heimatstadt ein Romanistik-Studium, das er 1941 abbrechen musste, als rumänische und deutsche Truppen die Stadt besetzten und die Juden von Czernowitz ghettoisierten. Celans Eltern, die 1942 deportiert wurden, starben im Lager. Celan leistete während der Kriegsjahre Zwangsarbeit im Straßenbau. 1944 erlebte er die Befreiung durch die Rote Armee, drei Jahre später flüchtete er vor der stalinistischen Diktatur über Ungarn nach Wien und schließlich Paris, wo 1948 sein erster Gedichtband „Der Sand aus den Urnen“ erschien. 1952 veröffentlichte Celan seinen zweiten Gedichtband „Mohn und Gedächtnis“, in dem auch sein berühmtestes Gedicht „Todesfuge“ enthalten war. Immer wiederkehrende Motive in den Gedichten Celans waren der Tod und die Judenvernichtung. 1960 wurde Celan der Büchner-Preis verliehen. 1970 starb er vermutlich durch Selbstmord. |
„Alain Resnais’ `Nuit et brouillard´ (Nacht und Nebel), entstanden 1955, verknüpft Filmaufnahmen der Alliierten aus den kurz zuvor befreiten Lagern und dokumentarisches Bildmaterial aus den Museen von Majdanek und Auschwitz mit Sequenzen, die den aktuellen Zustand der Vernichtungsstätten zeigen; den Text hatte Jean Cayrol, ein Überlebender des Konzentrationslagers Mauthausen, verfasst, die Musik war von Hanns Eisler. Als der Film auf das Programm der Filmfestspiele Cannes gesetzt wird, interveniert der deutsche Botschafter unter Berufung auf `l’article 5 du règlement de Cannes (comme quoi, telle ou telle nation se sentirait blessé par la projecton devant cet aréopage mondial d’une production étrangère)´1. Die Intervention hat Erfolg: `Nacht und Nebel´ wird von den Festspielen ausgeschlossen. Auf eine Anfrage der SPD-Bundestagsabgeordneten Annemarie Renger im Deutschen Bundestag am 18. April 1956 gibt der Vertreter des Bundesinnenministeriums an, dass die Aufführung des Films in Cannes `nur allzu leicht dazu beitragen kann, den durch die nationalsozialistischen Verbrechen erzeugten Hass gegen das Deutsche Volk in seiner Gesamtheit wieder zu beleben.´2
Zuvor hatte der Vorfall in der französischen Öffentlichkeit beträchtliches Aufsehen erregt. In der Ausgabe vom 8./9. April hatte Henry Magnan in Le Monde unter dem Titel `Les mauvais diplomates de Cannes´ mit Kritik und Unverständnis auf den Ausschluss des Films aus dem Wettbewerb in Cannes hingewiesen. (…) Am Tag darauf vermeldete Le Monde nicht nur den Protest zweier Organisationen ehemaliger Deportierter und Widerstandskämpfer, sondern berichtete auch von einer parlamentarischen Anfrage, die der Senator und ehemalige Deportierte Edmond Michelet an den für die Absetzung verantwortlichen Staatssekretär für Industrie und den Handel gerichtet hatte. Dabei verwies der Senator insbesondere auf den Widerspruch zwischen der Bonner Démarche und den zahllosen Verlautbarungen der Bundesregierung `qu’elle se désolidarise de la manière la plus formelle des crimes nazis´3.
Am 11. April erscheint am gleichen Ort `Une protestation de Jean Cayrol´: Der renommierte Schriftsteller und Verfasser des Textes zu Resnais’ Film wirft den französischen Behörden vor, den überlebenden Zeugen das Wort zu entziehen und sich in eine Reihe zu stellen mit dem Frankreich der Kollaboration. `(…) officiellement, on porte un nouveau coup aux déportes (…) on les enferme de nouveau dans lours souvenirs et dans leurs plaies (…). Pour des motifs politiques d’opportunités que notre propre pays n’aurait pu se permettre d’avoir (…), elle arrache brusquement de l’Histoire les pages qui ne lui plaisent plus; elle retire la parole aux témoins.´4(…)
Es ist dieser Augenblick, in dem die Frankfurter Allgemeine Zeitung reagiert. Mit Karl Korns Artikel unter der Überschrift `Nacht und Nebel. Etwas über Filmdiplomatie´, erschienen am 13. April, tritt die Debatte ein ins Forum deutscher Öffentlichkeit. In seinem Beitrag bezieht Korn sich explizit auf die genannten Artikel in Le Monde. Zutreffend gibt er wieder, hier sei erklärt worden, `dass der Film vollkommen sauber, ohne Grenzüberschreitungen gemacht sei´, und auch, `dass sie sich den deutschen Protest nicht mit den kategorischen Erklärungen, das offizielle West-Deutschland wolle nichts mit den nationalsozialistischen Verbrechen zu tun haben, zusammenreimen können.´5 Als weiteres Argument zitiert Korn, `man denke nicht daran, ein ganzes Volk mit den KZ-Verbrechen zu identifizieren.´ Mit Nachdruck schließt sich Korn diesen Begründungen an.
(…) In dem Maße, in dem ein Film über die NS-Verbrechen für deutsche Zuschauer immer auch, wenn nicht vorrangig, die Chance oder gar das Gebot zur Selbstaufklärung barg, hätte eine deutsche Begründung eines solchen Films, zumal in den Fünfzigerjahren, eine andere sein müssen als diejenige, die in einem der einst besetzten Länder artikuliert wird. Doch das wird in Korns Artikel an keiner Stelle hörbar. Er zeugt von einem Mangel nicht einmal mehr an Wahrnehmung, sondern an grundlegender Einsicht in die elementare Differenz der je eigenen Geschichte im Verhältnis zu den NS-Verbrechen mit ihren Folgen auch für die Rechtfertigung eines Films über diese Verbrechen. Dieser Mangel allein mag schon wie eine `deutsche Kennung´ wirken. Doch deutlich schärfer noch tritt das Signifikante der Position im weiteren Verlauf des Artikels von Korn zutage. Dort heißt es – unter unmissverständlichem Bezug auf die Beiträge von Henry Magnan und Jean Cayrol sowie die parlamentarische Anfrage des Senators Michelet: `Die Franzosen argumentieren ganz einfach. Sie sagen: Die meisten Opfer der Konzentrationslager waren doch Deutsche. Wie sollen wir es verstehen, dass man offiziellerseits keinen KZ-Film ertragen zu können zugibt.´
(…) Weder der Beitrag Henry Magnans noch der Jean Cayrols und auch nicht die Anfrage Edmond Michelets (…) enthält diese Angabe über `die meisten Opfer der Konzentrationslager´. Sie stellt offensichtlich einen gänzlich eigenen `Beitrag´ Korns zur Debatte dar (…).
Die spezifische Energie, die hier wirkte, wurde unmittelbar aufgenommen von einer Erklärung, die Paul Schallück drei Tage nach Erscheinen des Artikels in der FAZ im Westdeutschen und Norddeutschen Rundfunk verlas.6 Einleitend erklärte er, er spreche `nicht nur für meine Person allein. Ich spreche auch im Namen meiner Freunde und Schriftstellerkollegen Heinrich Böll, Hans Werner Richter, Erich Kuby, Walter Dirks, Alfred Andersch, Eugon Kogon, Hans Georg Brenner, Ernst Kreuder, Wolfgang Hildesheimer und vieler anderer mehr.´7 Damit war dieser Text (…) der erste öffentliche Protest, der als einer der Gruppe 47 gelten kann.
Auch Schallück wendet sich energisch gegen die Absetzung des Films vom Programm in Cannes. (…) Auch Schallück folgt der Linie Korns, sich mit den Argumenten der französischen Kollegen risslos zu identifizieren. Das Ergebnis ist eine Argumentation, die durchgehend grundiert ist von der Auffassung, dass auch die rückhaltlose Einsicht in die Vernichtungsverbrechen, wie sie der Film von Resnais ermöglicht, das Ansehen der Deutschen in keiner irgendwie spezifischen Weise schädigen könne. Geradezu zeittypisch ist die Verwendung der auch schon von Korn benutzten Formulierung, der Film sei `ein Weltübel angegangen´. Zwar hatten in der Tat nicht nur einflussreiche Strömungen der Zeit, sondern auch Resnais’ `Nacht und Nebel´ eine universalistische Perspektive auf die NS-Massenverbrechen zu gewinnen versucht. Doch im deutschen Debattenraum war in der Deckung dieser Perspektive immer wieder – wie Hannah Arendt beklagte – `gerade das Spezifische und Partikulare (…) in der Sauce des Allgemeinen untergegangen´; die Folge bestand regelmäßig im spurlosen Verschwinden der Tätersubjekte.
Doch auch die Erklärung Paul Schallücks tritt ins Vollbild ihrer Erkennbarkeit erst in ihrer zweiten Hälfte. Dort heißt es: `Wie er (Jean Cayrol, S.B.), drückten der Senator Michelet und der Kritiker Henry Magnan unmissverständlich aus, dass doch die meisten Opfer der Konzentrationslager Deutsche gewesen seien, und dass sie nicht verstehen, warum das offizielle Westdeutschland, das mit den nationalsozialistischen Verbrechen nichts zu tun haben wolle, einen KZ-Film nicht ertragen könne. – Das sind die Tatsachen.´
Weniger der Sachverhalt, dass Schallück das von Korn lancierte `französische´ Argument über die Mehrheit der KZ-Opfer aufgreift, markiert das hier Wirksame, sondernd das wie unwillkürlich scheinende Begehren, die Eindeutigkeit, die Authentizität und damit die Faktizität des `Arguments´ rhetorisch zu verstärken. (…) Der Quellpunkt dieser Energie lag in jenem phantasmatischen Opfer-Konstrukt, von dem weite – und entscheidende – Teile des westdeutschen Kulturbetriebs grundiert waren. Wo nur immer sichtbare und unsichtbare, legitime und illegitime Anknüpfungspunkte an dieses Mythologem zu bestehen schienen, erfolgten affirmative Reaktionen; an ihrem gleichzeitig affektiven Charakter hingegen war zugleich erkennbar, dass selbst in den sprechhandelnden Subjekten das Konstrukt des Deutschen als Opfer ausreichender Stabilität von Anfang an ermangelte.
In den späteren Jahren hat es die Gruppe 47 verstanden, ein Selbstbild als kritische Avantgarde zu installieren, die früh und einsam auf eine prekäre Fehlentscheidung oder -entwicklung hinweist und die westdeutsche Öffentlichkeit in diesen Fällen mit gewichtigen Argumenten zu versorgen weiß. Das Beispiel dieser Premiere zeigt ein durchaus anderes Bild. (…)
Ab Juli 1956 gab es Sondervorstellungen der Originalfassung von `Nacht und Nebel´ in einigen deutschen Städten; etwa zur Jahreswende gelangt die deutsche Fassung in die Kinos. Unter den Zuschauern, die 1956/57 Resnais’ `Nacht und Nebel´ sahen, saßen auch ein Mädchen und eine sehr junge Frau, deren Erfahrungen mit dem Film vermittelt in unser kulturelles und unser politisches Gedächtnis eingegangen sind. In einem vier Jahrzehnte später geführten Interview erinnerte sich Anne Duden: `Ich habe als Dreizehnjährige den Film `Nacht und Nebel´ gesehen, in dem gezeigt wird, wie Leichenberge in Bergen-Belsen weggebaggert werden. Wir mussten den Film in der Schule ansehen, aber es wurde uns nichts dazu erklärt. Zu dieser Zeit gab es auch jene Gerüchte von Vergasungen, Konzentrationslagern. Es wurde immer irgendwie darüber geredet, und gleichzeitig wurde überhaupt nicht darüber geredet. Dann sieht man als Kind diesen Film. Das ist ein Wendepunkt im Leben. Was man sieht, ist der schiere Wahnsinn. Diese Leichenberge sind von dem Moment an für mich der Maßstab des menschlichen Körpers geworden. Immer wenn ich danach einen nackten Körper sah, dachte ich erst an diese Körper. Dieser Wahnsinn hat mich immer verfolgt, bis ich im `Judasschaf´ versucht habe, mich damit auseinanderzusetzen.´8
Die andere Zuschauerin aus der Mitte der Fünfzigerjahre sah Resnais’ Film im Gemeindesaal von Tuttlingen, vorgeführt vom Pfarrer, ihrem Vater: Gudrun Ensslin. Margarethe von Trotta hat diese authentische Episode in ihrem Film `Die bleierne Zeit´ 1981 nachgestellt.
So wenig genau die tatsächliche Bedeutung und Wirkung dieser Erfahrung mit dem Film von Resnais sowohl bei Duden wie bei Ensslin rekonstruierbar sein mag, so markieren ihre Namen doch die abgründige Spannweite in der Differenzierung der Erfahrungen – insbesondere zur Generation und zum Milieu des damaligen westdeutschen Kulturbetriebs -, die im Blick auf denselben Film, zur gleichen Zeit, durchlaufen werden konnten. (…)
Alain Resnais’ Film `Nacht und Nebel´ bildete für viele Menschen das Initial einer rückhaltlosen Einsicht in die NS-Verbrechen. Es steht noch authentisch mit für jenes Muster einer Auslösung von Erfahrung, das durch die filmischen Zeugnisse der Alliierten aus den befreiten Lagern begründet worden war. Doch in Resnais’ Film war eine kritische Kenntnis des unterdessen eingesetzten Umgangs mit diesem Wissen schon eingegangen. Sie wird hörbar dort, wo sowohl einer Historisierung als auch einer eiligen Selbstsalvierung Paroli zu bieten versucht wird – etwa mit den Zeilen in der Übertragung Paul Celans: `Wer von uns wacht hier und warnt uns, wenn die neuen Henker kommen? / Haben sie wirklich ein anderes Gesicht als wir?´
Im deutschen Objektiv, das auch in den Leichenbergen der Konzentrationslager zuallererst Deutsche erkennen wollte, macht diese Frage keinen Sinn. Sie kann nicht zusammengesetzt werden, bleibt unhörbar. Nur wer anders sah, diese Konditionierung ablegte oder sie sich nie hatte aufdrängen lassen, war erreichbar für das, um was es jetzt gehen musste.“
Stephan Braese: „Das deutsche Objektiv. Der Holocaust im Film und der deutsche Literaturbetrieb 1945 – 1956.“ S. 77 – 85. In: Die Shoah im Bild. Herausgegeben von Sven Kramer. München 2003.
1 „L’affaire `Nuit et bruillard´- Une protestation des membres de la commission de selection”. In: Le monde, 13. April 1956. S. 12.
2 Zit. nach: Axel Gellhaus u.a. (Hg.) „Fremde Nähe“ – Celan als Übersetzer. Marbach am Neckar 1998. S. 231.
3„Une question orale de M. Michelet à propos du retrait de `Nuit et brouillard´ de la sélection francaise pour Cannes.“ In: Le Monde, 10. April 1956. S. 12.
Im Deutschen Bundestag verlangte die SPD eine aktuelle Fragestunde zu dem Vorgang. Befragt nach den Gründen der Intervention, antwortete Staatssekretär Hans Ritter von Lex am 18. April, Cannes sei nicht „der rechte Ort… um einen Film zu zeigen, der nur allzuleicht dazu beitragen kann, den durch die nationalsozialistischen Verbrechen erzeugten Hass gegen das deutsche Volk in seiner Gesamtheit wieder zu beleben.“ In ausländischen wie bundesdeutschen Medien wurde das Verhalten der Bundesregierung und des französischen Auswahlkomitees fast einhellig abgelehnt. Die Londoner Times schrieb am 2. Juni 1956: „Es ist schwer, etwas anderes als Zorn denjenigen gegenüber zu empfinden, die diese feierliche und schreckliche Elegie zurückzogen.“ Am 29. Juni wurde der Film in Bonn vor 700 eingeladenen in- und ausländischen Pressevertretern, Bundestagsabgeordneten, Beamten und Angestellten einiger Ministerien und Studenten gezeigt. Die Initiative dazu ergriff die Europäische Zeitung, das Organ der deutschen Jugend für Europa in der Europäischen Bewegung. (…) Als deutsche Erstaufführung gilt der 1. Juli 1956 im Capitol Cinema in West-Berlin, zur gleichen Zeit wurde er im Rahmen des 8. Internationalen Filmtreffens in Bad Ems gezeigt. (aus: Wikipedia) |
Willy Brandt: „Mut zur Wahrheit“ (…) Der Film NACHT UND NEBEL hat gerade bei uns in Deutschland eine große Mission zu erfüllen. Er zeigt in erschreckender Weise, wozu ein böser Staat Menschen mißbrauchen, wohin ein Volk oder ein Teil eines Volkes gebracht werden kann unter einer bösen totalitären Herrschaft, nämlich dahin: Menschen, die anders sind, aber Menschen wie wir alle, nicht mehr als Menschen zu betrachten und zu behandeln, sondern auszustoßen und auszurotten. Dieser Film klagt nicht unser Volk an, und ich bin froh, daß die schrecklichen Fragen, die er aufwirft, heute weitgehend nicht mehr als eine Frage der Schuld behandelt werden müssen. Es wächst eine neue Generation nach, die aber wissen muß, daß die Therapie des Gras-Wachsen-Lassens nicht allein ausreicht, um mit der Vergangenheit fertig zu werden. Wir brauchen Mut zur Wahrheit, Mut zur Wirklichkeit, und darum müssen wir diesen Film sehen. Das fordert von jedem etwas Mut, aber diesen Mut müssen wir haben. Willy Brandt, Präsident des Berliner Abgeordnetenhauses, in einer Rede zur Vorführung des Films, in: Der Abend, Berlin, 14. November 1956 |
Siehe auch: „Wie der KZ-Film „Nacht und Nebel“ missbraucht wurde“ von Hanns-Georg Rodek Welt 25.01.2011 |
Nacht und Nebel´ ist eine französische Filmdokumentation über die Konzentrationslager des nationalsozialistischen Regimes, die eine tiefgehende und nachhaltige Betroffenheit beim Betrachter auslöst. Die aussergewöhnliche Wirkung ist darauf zurückzuführen, dass erschütternde Bilddokumente mit einer stark poetisch gestalteten sprachlichen Kommentierung (…) und einer ebenso zurückhaltenden wie eindrucksstarken Untermalung durch die Musik von Hanns Eisler zu einer kompositorischen Einheit von großer Geschlossenheit verschmolzen sind. Indem sich der Film an den Ablauf der Ereignisse anlehnt, gewinnt er seinen dramaturgischen Höhepunkt mit der sich zur systematischen Menschenvernichtung steigernden Verfolgung.
Ungeachtet der reichen Ausbreitung dokumentarischen Materials über Konzentrationslager werden folgende Sachzusammenhänge nicht angesprochen:
- Der Film enthält keine exakten Informationen über die Geschichte der Konzentrationslager, den Abbau des Rechtsstaates in Deutschland, die Phasen der Vernichtung, die Gruppen der Verfolgten, die Typen und die Verbreitung der Konzentrationslager, ihre Funktion im Rahmen des nationalsozialistischen Herrschaftssystems. Vielmehr werden im Film Bilder aus unterschiedlichen Phasen und Lagern zu einer Gesamtschau der Verfolgung und Vernichtung zusammengestellt.
- Der Film verzichtet darauf, Ursachen- und Motivationszusammenhänge anzusprechen; er will in der Darstellung des Vollzugs unmenschlicher Handlungsweisen dokumentieren, was Menschen anderen gegenüber zu tun imstande sind.
Der Film möchte die historische Erfahrung menschlichen Handelns und menschlichen Leidens zur Grundlage moralischer Besinnung und politischer Wachsamkeit machen. Der Kommentar ist entsprechend viel weniger um genaue Beschreibung oder weiterführende Klärung des Dargestellten bemüht; er versteht sich eher als Gestaltungsmittel dieses zukunftsgerichteten Appells. Die leitende Intention des Films wird besonders in den Schlusspassagen deutlich (…), in denen der moralische Appell von der geschichtlichen Erfahrung in der `nur einen Zeit´ und dem `nur einen Land´ aufgehoben und verallgemeinert wird. Allerdings verengen die Schlussworte die viel allgemeinere Problematik der Entrechtung und Vernichtung von Menschen als Volksfeinde auf den Rassenwahn (im Film selbst stehen jedoch Juden als Hauptgruppe der Verfolgten nicht im Mittelpunkt).
Entsprechend der Intention und der Gestaltung des Films ist seine Wirkung im Bereich des Emotionalen verankert. Er löst tiefe Betroffenheit aus, der die bedrängenden Bilder immer wieder ins Bewusstsein hebt. (…) Dieses Bildmaterial, aber auch die künstlerische Gestaltung des Kommentars lassen es kaum zu, den Film vor dem 9. Schuljahr Schülern zu zeigen. Empfehlenswert ist er besonders für die Erwachsenenbildung.
Aus: Filme zur politischen Bildung. Beschreibungen und Begleitmaterial. Heft Nr. 4.7: Nacht und Nebel. Von Wolfgang Marienfeld, Hans-Dietrich Schmid, Gerhard Schneider und Wilhelm Sommer. Hrsg. von der Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung. Hannover 1981. S. 4-6.
Die in der Bewertung genannten Merkmale schränken solche methodisch-didaktischen Verwendungsabsichten ein, die primär auf Kenntniserweiterung über Konzentrationslager oder den Nationalsozialismus hinzielen. Nicht Zuwachs an Wissen, sondern anteilnehmende und stellungbeziehende Auseinandersetzung mit dem Geschehen beabsichtigt der Film. Allerdings bietet er – auch dadurch, dass er nicht in erster Linie auf Information abzielt – reichlich Anlässe für weiterführende Sachfragen. Die vom Film ausgelöste Erschütterung kann jedoch dazu führen, dass in der Betrachtergruppe zunächst keine Fragen gestellt werden, sondern das Bedürfnis besteht, zu schweigen und den bedrängenden Eindruck nicht zu zerreden.
Der Film kann deshalb am besten an zwei Stellen im Rahmen einer Unterrichtseinheit `Deutscher Faschismus´ oder `Antisemitismus´ im historisch-politischen Unterricht der Sekundarstufe I (ab 9. Klasse), eines Kurses in der Sekundarstufe II sowie in der Erwachsenenbildung eingesetzt werden.
1. In der Motivationsphase
Vermutlich richten sich in der Motivationsphase die Fragen der Schüler auf folgende elementare Probleme:
- Wie konnte das geschehen?
- Wer trug dafür die Verantwortung?
- Wer ist schuld?
- Was hätte man tun können, um diese Verbrechen zu verhindern?
- Was kann man tun, um ähnliche Verbrechen in Zukunft auszuschließen?
Dabei ist denkbar, dass diese Fragen weniger deshalb gestellt werden, um damit Schuldige auszumachen, anzuklagen und zu verurteilen, als vielmehr um sich bewusst zu werden, was Menschen bewegt haben kann, sich anderen Menschen gegenüber so zu verhalten, ihnen das Mensch-Sein abzusprechen. Darüber hinaus können Sachfragen im engeren Sinne aufgeworfen werden:
- Aus welchen Gründen errichteten die Nationalsozialisten Konzentrationslager?
- Wie ist ihre Entwicklung bis hin zu planmäßig betriebenen Vernichtungslagern abgelaufen und wie ist sie zu erklären?
- Welche Menschengruppen wurden in die Konzentrationslager eingesperrt und aus welchem Grund?
- Wie lief der Alltag in einem Konzentrationslager ab (für die Häftlinge – für die KZ-Bewacher?)
- Was ist unter `produktiver´ Vernichtung zu verstehen?
- Wie äusserten sich Widerstand und Selbstbehauptungswille bei den Häftlingen?
- Was wurde aus den befreiten Häftlingen?
- Was passierte mit den KZ-Bewachern nach dem Kriege?
- Haben die Bewacher und andere Mitverantwortliche ihre Schuld später eingestanden?
- Wie wurde die Schuld gesühnt?
2. Am Schluss der Unterrichtseinheit
(…) Besonders der unüberhörbare Appell in der letzten Sequenz mit seinen Hinweisen auf die noch sichtbare personelle Kontinuität von Verantwortlichen und Mitwissern sowie auf die latente Gefahr einer Wiederholung des Geschehens mit anderen Methoden ist geeignet, den Betrachter zu weiterführenden Fragen nach der Haftung für die `Schuld der Väter´ sowie der eigenen Verantwortung für die Abwehr politischer Gefährdungen der Gegenwart und der Zukunft zu veranlassen.
Da der Film den Betrachter mit kaum vorstellbaren Grausamkeiten und Unmenschlichkeiten konfrontiert, müssten vor jeder Vorstellung folgende Fragen geklärt werden:
- Ist der Film für die gedachte Adressatengruppe zumutbar? Die Frage kann nur dann beantwortet werden, wenn der Lehrer den Film vorher darauf überprüft hat.
- Welche Hinweise vor der Filmvorführung sind erforderlich, um den zu erwartenden Schock aufzufangen? (…)
Im Bereich der Erwachsenenbildung sollte besonders den in der letzten Sequenz aufgeworfenen Fragen nachgegangen werden. (…)
Aus: Filme zur politischen Bildung. Beschreibungen und Begleitmaterial. Heft Nr. 4.7: Nacht und Nebel. Von Wolfgang Marienfeld, Hans-Dietrich Schmid, Gerhard Schneider und Wilhelm Sommer. Hrsg. von der Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung. Hannover 1981. S. 4-6.
Film-Extras bei der vom Bundesverband Jugend und Film e.V. herausgegebenen DVD, die bei Merlin verfügbar ist:
- Der Kommentar
- Der Holocaust-Überlebende Abba Naor im Gespräch mit Studenten/innen der Universität Erlangen am 18-05-2009
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